Adios, Deutschland: Spanien nudelt sich auch mit Hand ins EM-Halbfinale
Stuttgart. Nur ein kleiner Trost: Es ist die unglücklichste Niederlage einer deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien. Sie sind so nah dran, zweimal hätte der inkonsequente englische Schiri Anthony Taylor zumindest Videobilder sichten können. Stattdessen nutzen die Spanier in der 119. Minute eine Lücke in der deutschen Abwehr zum 2:1. Game over!

Besonders bitter: Im Grottenspiel danach trennen sich Frankreich und Portugal nach 120 Minuten 0:0. Unerträglich lange zwei Stunden, mit wenig Spielfreude, wenig Chancen – und am Ende setzen sich die glanzlosen Franzosen mit 5:3 im Elfmeterschießen durch. Schade, dass es beim Fußball keine Haltungsnoten gibt.
Was für ein Unterschied zum Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei vergangenen Turnieren – als man sich mit blutleeren Auftritten gegen Japan oder Südkorea blamierte. Statt Häme und Pfiffe, Standing Ovations in Stuttgart für ein deutsches Team, das der zur Übermannschaft hochgejazzten Furia roja mindestens Paroli bietet – und bis zur letzten Sekunde alles auf dem Platz lässt.
Julian Nagelsmann ist mit der neu formierten Mannschaft ein ähnlicher Stimmungsumschwung gelungen, wie Jürgen Klinsmann 2006. Auch damals konnte das deutsche Ausscheiden im Halbfinale gegen Italien die Euphorie nur kurz runter dimmen. Anschließend feierten Zehntausende Sommermärchen-Enthusiasten eine Party vor dem Brandenburger Tor.
Kroos als Kampf-Schweini
Der Auftritt gegen das wahrscheinlich zweitstärkste Team der EM, wenn man mal mit deutscher Brille die Leistung der Nagelsmänner heute als ebenbürtig plus 1 bezeichnen darf, macht viel mehr Mut und Lust auf die nächsten Turniere. Auch wenn dann Toni Kroos, der heute fast die kämpferischen Qualitäten eines Basti Schweinsteiger an den Tag legt, dann nicht mehr mit seiner überragenden Übersicht helfen kann.
Nicht alles ist perfekt im deutschen Kombinationsspiel, das durfte man auch noch nicht erwarten – vom brasilianischen Momentum ist die „next Generation“ um Florian Wirtz, Jamal Musiala oder auch Maximilian Mittelstädt noch ein Stück entfernt. Und dennoch hat diese deutsche Mannschaft am Freitagabend Spanien in der Verlängerung mehrfach am Rande einer Niederlage:
- Waldemar Anton schickt Thomas Müller, der schiebt quer zu Florian Wirtz, der an der Strafraumkante aus vollem Lauf abzieht – die Kugel dreht sich mit Effet vom langen Eck weg (105.).
- Niclas Füllkrug behauptet den Ball, legt für Musiala ab, der aus 16 Metern draufhält – Marc Cucurella blockt die Kugel mit weit abgespreizter Hand, der VAR schaltet sich nicht ein (106.) – ungläubiges Staunen: Wenn beim Handelfer gegen Dänemark ein Seismograf bemüht werden musste, ist das fast ein Basketball-Move. Wenn hier kein Handelfer fällig ist, wann dann? Dass Schiri Anthony Taylor einfach abwinkt, ohne auch nur die Videoaufzeichnung zu prüfen, ist schwer zu ertragen.
- Joshua Kimmich flankt von rechts, Füllkrug erläuft den weiten Ball und verlängert per Flugkopfball, Unai Simón pariert (117.).
- Ausgerechnet wieder Dani Olmo: Der Leipziger hat viel Platz, flankt ungestört in die Mitte, Mikel Merino dreht sich spektakulär in der Luft und köpft unhaltbar ins linke Eck – der bis dahin bärenstarke Rüdiger steht einen Meter von ihm weg und fällt fassungslos in sich zusammen, Neuer ist machtlos (119.).
- Toni Kroos bringt rechts Müller ins Spiel, seine präzise Flanke köpft Füllkrug um Zentimeter am rechten Pfosten vorbei – fast das Gegenstück zu Merinos Treffer, aber Fußball ist eben auch Glücksspiel (120.+3).

Die spanischen Stars fast wirkungslos
Was die Deutschen mit dem „aggressive Leader“ Toni Kroos, der zweimal Glück hat, nicht früh eine Gelbe Karte zu kassieren und später ein Freilos vom Schiri bekommt, der bei einem klaren Foul an der Strafraumkante alle Augen zudrückt, fast perfekt umsetzen: Nico Williams und Lamine Yamal, die in den vergangenen Spielen die Abwehrreihen schwindelig spielten, hatten Kimmich, Antonio Rüdiger, Jonathan Tah und David Raum fast vollständig im Griff.
Was nicht so gut klappt: Vor allem zu Beginn, aber auch immer wieder in vereinzelten Ruhephasen, attackiert die deutsche Abwehr zu spät und ermöglicht den gewohnt passsicher kombinierenden Spanier die zwei entscheidenden Szenen, die zum Knockout der Heim-Mannschaft führen.
- Álvaro Morata schickt Yamal an der rechten Linie, Raum begleitet ihn zu passiv, der Junior zieht nach innen, legt quer in den Lauf von Dani Olmo – aus 14 Metern darf der Leipziger unbedrängt ins linke Eck einschieben, 1:0 (51.).
- Und dann eben der sportliche Todesstoß, bei dem der zuvor überragende Rüdiger, der jeden Pass antizipiert, sich in jeden Ball wirft, mit großer Souveränität den Ball durch das dicht gestaffelte Pressing der Spanier nach vorne transportiert – aber in dieser letzten regulären Minute der Verlängerung das eine Mal zu weit weg von Merino steht, 2:1 (118.).

Mit Powerplay zum hochverdienten Ausgleich
Nach dem Rückstand in der zweiten Hälfte der regulären Spielzeit begeistert die deutsche Mannschaft mit Powerplay und 11 zu 1 Schüssen. Spanien sieht sich in einer Art und Weise unter Druck gesetzt, die der große Turnierfavorit von keinem der bisherigen Gegner erlebt hatte.
- Kai Havertz per Kopf zu Füllkrug, der legt mit dem Rücken zum Tor nach hinten zu Robert Andrich ab – Direktabnahme aufs rechte Toreck, Unai Simón ist zur Stelle. Ist da eine Hand im Spiel? Irrelevant, weil Füllkrugs Abseitsstellung angezeigt wird (69.).
- Rüdiger als Flankengott, hoch vors Tor, Füllkrug dreht sich artistisch um Nacho, der später noch als bühnenreifer sterbender Schwan brilliert, bekommt aber nicht mehr genug Wumms in seinen Kopfball (71.).
- Wirtz ist rechts durch, legt quer in den Strafraum, im Fallen knallt Füllkrug das Leder an den rechten Pfosten – wird dabei aber auch am Trikot zu Boden gezogen. Unter normalen Umständen ein Fall für den Video-Schiedsrichter, der stumm bleibt (77.).
- Unai Simóns Abstoß ein echter Rohrkrepierer, Havertz flitzt der Kugel entgegen, ist vor der spanischen Abwehr am Ball, läuft allein auf den herausgeeilten Keeper zu, aus 30 Metern halblinks lupft er die Kugel über Unai Simón, aber auch über die Latte – ein Moment wie bei der EM in England, als Thomas Müller kurz vor Schluss die Ausgleichschance vermasselte (82.).
- Maximilian Mittelstädt flankt von links, Kimmich schraubt sich am zweiten Pfosten in die Höhe, verlängert auf Wirtz am Elfmeterpunkt, der lässt abtropfen und schlenzt die Kugel mit viel Effet an den linken Innenpfosten, von dem er ins Netz trudelt, 1:1 (89.).

Jogi Löw brauchte vier Turniere zum Titel
Die Stuttgarter MHP-Arena geht komplett steil und lässt erahnen, wozu das Publikum bei der Fortsetzung des Fußball-Sommer-Festivals fähig wäre. Dass es am Schluss so knapp nicht reicht, wird das Land der zu oft Zaudernden und Zagenden dennoch nicht wieder in eine tiefe Fußball-Depression stoßen. Zu erfrischend, zu mutig, hat die neu formierte Mannschaft gespielt, um gleich wieder alles in Grund und Boden zu kritisieren.
Es ist das erste große Turnier der Nagelsmänner – Jogi Löw hat nach dem Umbruch mit Jürgen Klinsmann und seiner Übernahme als Teamchef erst im vierten Turnier den großen Wurf geschafft. Wenn sich das Team weiter so entwickelt, kann das auch ohne die Legende Toni Kroos gerne schneller gehen – auch wenn Fußball zu einem erheblichen Anteil eben auch Glücksspiel bleibt.
Stimmen zum EM-Aus: Traurig, stolz und ein wenig wütend
Nagelsmann kämpft mit den Tränen: Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft im ARD-Interview mit den Tränen. „Die Jungs haben in den letzten sechs Wochen echt viel reingeschmissen. Heute haben sie unverdient verloren. Wir haben in der Halbzeit gut reagiert. In der zweiten Halbzeit haben wir es gut gemacht. Wir waren dem Siegtreffer deutlich näher als die Spanier. Am Ende glaube ich waren wir nicht zwingend viel besser, aber einen Tick klarer im letzten Drittel.
Es tut weh, weil wir es erst in zwei Jahren besser machen können. Und ein Heimturnier wird in meiner Karriere wohl nicht nochmal kommen. Wenn wir wieder lustlos aufgetreten wären, wäre es verdient und dann müssten wir nicht hier stehen und mit den Tränen kämpfen. […] Morgen Abend werden wir uns nochmal zusammensetzen. Ich weiß gar nicht, wie jetzt der Plan ist, weil ich nicht mit einem Ausscheiden geplant habe. Ich und mein Team haben den Job, uns über den Kader Gedanken zu machen, was in der Nations League das Richtige ist.“
Zum nicht gegebenen Elfmeter sagt Nagelsmann: „Wenn man 48.000 Wiederholungen hat, kann ich das nicht nachvollziehen. Ich versuche schon seit Jahren, bei allen Schiedsrichter-Sichtungen mit reinzubringen, was aus der Situation wird. Wenn der Ball klar aufs Tor geht, dann stoppt er den Ball mit der Hand. Das finde ich total skurril im Fußball, dass die Intention der Aktion überhaupt nicht bewertet wird. Es gibt 50 Roboter, die uns Kaffee bringen, es gibt KI.“
Toni Kroos nach seinem letzten Spiel: „Natürlich war es ein Spiel, wo wir alle alles reingelegt haben, um nicht zu verlieren. Da waren wir sehr nah dran, und umso bitterer ist es. Ich denke, dass wir alle stolz sein können, weil wir Fußball-Deutschland die Hoffnung zurückgeben konnten. Aber wir sind extrem enttäuscht, weil wir noch etwas weiterkommen wollten. Ich bin zuversichtlich, dass die Mannschaft das in Zukunft schafft. Aber es gehört auch dazu, dass wir heute alle traurig sind.
Jetzt im Moment überwiegt das Turnier-Aus, weil wir alle gemeinsam ein großes Ziel hatten. Und dieser Traum, den wir alle hatten, ist jetzt einfach ein Stück weit geplatzt. Auch wenn wir in den nächsten Tagen realisieren, dass wir ein gutes Turnier gespielt haben. Es ist extrem bitter.“
Bastian Schweinsteiger: „Es war eine unglaubliche Stimmung hier im Stadion. Das ist eigentlich das Wichtigste. Natürlich würden wir das sofort mitnehmen, wenn wir Europameister werden. Aber wir konnten die Herzen der Fans wieder mitnehmen und das war das Schönste bis jetzt. Man muss ehrlich sein: es ist eine unverdiente Niederlage, weil wir ab der 70. Minute die klar bessere Mannschaft waren, mit klar besseren Torchancen. […] Das muss mir mal einer erklären. In neun von zehn Fällen ist das ein klarer Elfmeter. Hier hatten wir richtig Pech. Ich war wirklich verwundert.“
Niclas Füllkrug: „Es ist einfach gerade traurig, dass es vorbei ist. Man hatte eine Euphorie, ein Gemeinschaftsgefühl im Land. Im Moment ist noch kein Stolz da, es ist vorbei. Von Sekunde zu Sekunde ist es härter, es zu realisieren. Gerade gibt’s keinen Ausweg, seinen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Letztendlich hilft gerade gar nichts. Es ist brutal schwer, damit umzugehen. Da helfen auch keine Ausreden. Es wird ein bisschen Zeit brauchen. […] Es war mir eine Ehre, für euch auf dem Platz zu kämpfen. Schade, dass es nur bis zum Viertelfinale war, aber ihr wart auf jeden Fall überragend. Ich habe vor der EM nicht gedacht, dass man so ein Gefühl nochmal hinbekommt in Deutschland. Es ist gerade schwer für mich.“
Dani Olmo, Schütze zum 1:0 und Man of the Match: „Ich bin vollkommen kaputt. Wir haben gesehen, dass wir eine tolle Mannschaft haben. Wir haben bis zum Ende gekämpft. Für die ganze Mannschaft ist es ein tolles Turnier. Ich hoffe, dass sich Pedri nicht schwer verletzt hat. Es war unglaublich. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Es war sehr schwierig. Wir sind alle nach vorne gegangen, da hat man mit dem Herz gespielt. Wir müssen wirklich feiern und wir müssen froh sein, dass wir gewonnen haben.“
Mikel Merino, Siegtorschütze zum 2:1: „Ich bin jetzt wirklich tot. Das Tor war ein einzigartiger Moment. Am Ende sieht es so aus, als ob es nur auf das letzte Tor ankommt, aber dahinter steckt viel kollektive und individuelle Arbeit. Das ist eine Belohnung für die Arbeit, die wir geleistet haben. Es war das Spiel, das wir alle erwartet haben, zwischen zwei der besten Mannschaften des Turniers. Das hätte auch das Finale oder ein WM-Endspiel sein können. Es war ein sehr hohes Niveau, aber wir haben gezeigt, dass wir auch leiden können.“
Bundeskanzler Olaf Scholz: „Es war völlig nervenaufreibend. Beide Teams haben toll gekämpft und Deutschland ist erhobenen Hauptes aus dem Turnier gegangen. Die Leute haben sich wieder versammelt. Das ist eine tolle Sache geworden. Der spanische Ministerpräsident hat sich natürlich gefreut, dass es anders ausgegangen ist. Alle sind total begeistert von diesem Turnier. Es wird wichtig, dass wir gemeinsam alles dafür tun, dass es gut weitergeht in der nächsten Zeit.“
* Diese Felder sind erforderlich.