Alexander Frieds 100. Geburtstag: Kriegsende als größtes Geschenk

Tirschenreuth. Alexander Fried hat das dunkelste Jahrzehnt des blutigen 20. Jahrhunderts durchlitten. Der jüdische Holocaust-Überlebende fand bei Dorothea Woiczechowski-Fried in Tirschenreuth ein spätes Glück. Eine Lebensgeschichte in 6 Teilen zu seinem 100. Geburtstag.

Spätes Happy End in Tirschenreuth: Alexander und Dorothea Woiczechowski-Fried fanden und erkannten sich in ihren Schicksalen wieder. Archivfoto: Jürgen Herda

Am heutigen 7. Mai 2025 wäre Alexander Fried 100 Jahre alt geworden. Das hatte uns der Mann, der drei Konzentrationslager, den Todesmarsch an die Ostsee, die Odyssee zurück nach Žilina, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, die Flucht aus Prag nach Wien – zuletzt sogar Corona überlebt hatte, eigentlich fest versprochen.

Zum Schluss hatten den unvergleichlichen Lieblingsmenschen von vielen, die ihn kennenlernen durften, die Kräfte verlassen und immer öfter die Dämonen der Vergangenheit eingeholt. Erinnerungen an unfassbare Grausamkeit in den Lagern mischten sich mit der ernüchternden Erkenntnis, dass trotz der unermüdlichen Erzählung seines Schicksals in Schulen der Schoß, aus dem der braune Wahnsinn kroch, noch immer fruchtbar ist.

Wir widmen unserem Freund, der sein Leben dem Gedenken an Millionen ermordeter Leidensgenossen, fast seiner ganzen Familie und allen 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs, den ein irrsinniger Nationalismus entfacht hatte, eine sechsteilige Serie, die nicht nur seine Opferrolle schildert. Um zu begreifen, wie kolossal das Verbrechen des nationalsozialistischen Terrorregimes wiegt, muss man den ganzen Menschen Alexander Fried betrachten.

  • Ein neugieriges Kind, das im Gasthof seiner Eltern bereits mehrere Sprachen der Reisenden lernte, die vom nahen Bahnhof bei den Frieds einkehrten.
  • Ein junger Mann, der sein Leben riskierte, um vergeblich seine Mutter zu suchen, die bereits von den Schergen des NS-Regimes abgeholt worden war.
  • Der Überlebenswille, mit dem Alexander seinem Bruder das Überleben auf der Flucht und im Lager ermöglichte.
  • Das ausgemergelte Häufchen Elend, das am Vortag der Kapitulation seinen 20. Geburtstag erlebte: „Mein größtes Geschenk“, erinnerte sich Fried mit Tränen in den Augen.

Auf der Suche nach der Geburtsurkunde

Das Jahrhundert, das Nationalisten in zwei Weltkriegen in Blut und Tränen tauchten, beginnt für das Kind zweier frommer Ostjuden in Korolevo in der heutigen Ukraine. „Ich war zwei Jahre alt, als wir nach Žilina, ein Eisenbahnknoten in der Nordwestslowakei, umzogen“, erzählte Alexander Fried. Die Eltern, kleine Hoteliers, eröffnen ein Restaurant beim Bahnhof – eine gute Schule für den wissbegierigen Schani, wie die Eltern den kleinen Nesanel Mehil Abraham nennen. Den deutschen Rufnamen bekommt er, als Mitschüler ihn wegen des hebräischen Klangs auslachen: „Mein Vater ging zum Rektor, der sagte nur: ,Nennen Sie ihn doch Alexander‘ – und so hieß ich dann, ohne dass das jemals irgendwo eingetragen wurde.“

Mit Spätfolgen, wie sich herausstellte. „Wir brauchten ein Jahr, bis wir alle Unterlagen für unsere Hochzeit zusammen hatten“, erinnert sich Dorothea Woiczechowski-Fried, Jahrgang 1940, und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Deutsche Behörden können stur sein, und so muss eben auch ein Holocaust-Opfer seine Geburtsurkunde in der Ukraine beschaffen. „Und als wir sie hatten“, fährt die agile Ärztin im Ruhestand fort, „stand da nirgends Alexander – ein Antrag auf Namensnennung wurde notwendig.“ Für die Heirat in der Prager Synagoge braucht das Paar zudem tschechische Übersetzungen.

Alexander Fried im Interview. Archivfoto: Jürgen Herda

Spätes Happy End in Tirschenreuth

Das späte Happy End der beiden war so unwahrscheinlich wie anrührend. „Sein größtes Glück“, nannte er seine Dorle. Und die zierliche Medizinerin achtete darauf, dass sich ihr Shani nicht übernimmt. Fried, den seine globale Odyssee nach der Samtenen Revolution zurück nach Prag und zur Kur nach Marienbad führte, war auf der Suche nach einem deutschen Doktor. In Tirschenreuth erwähnte er beim Arztbesuch, er sei Jude: „Dann müssen sie Dorothea kennenlernen“, sagte der zu Fried. Eine Kinderärztin, die sich immer wieder in Afrika und Asien für die Ärmsten engagiert.

Sie sahen und erkannten sich in ihren Schicksalen. Woiczechowski-Frieds Mutter verdankte ihr Leben dem Mut ihres nichtjüdischen Mannes: „Eines Tages war meine Mutter verschwunden. Weg. Und mein Vater wusste nicht, wo sie war.“ Sie hatte sich freiwillig im Berliner Sammellager in der Rosenstraße gemeldet. 1943 protestierten die Angehörigen jüdischer Ehepartner für deren Freilassung und hatten Erfolg: „Die Deutschen gaben nach, ließen sie frei.“ Die Frieds lässt diese Geschichte nicht los.

Klassenfoto mit dem Schüler Alexander Fried in Žilina. Foto: privat

So viele Talente

Rückblick: Im koscheren Bahnhofsrestaurant seiner Eltern in Žilina, wo jüdische Handelsreisende aus allen Himmelsrichtungen einkehrten, legt der junge Fried den Grundstock seiner Sprachbegabung: „Es wurde Deutsch gesprochen, die Sprache der Klassiker, die meine Mutter las, Tschechisch, Slowakisch, Ukrainisch, Russisch.“ Fast 90 Jahre später kann sich Fried in zehn Sprachen unterhalten. Auf Hebräisch natürlich, Englisch perfektioniert er während seiner Professur in Kanada, Französisch an der Hochschule in Brüssel. „Die Tschechoslowakei war für uns Juden ein Eldorado“, erinnert sich Fried gerne an seine Kindheit und Jugend in der Slowakei.

Zu verdanken hat die gnadenlos verfolgte Minderheit diese Schonzeit dem Philosophen im Präsidentenamt: „Tomáš G. Masaryk war so judenfreundlich, dass ich ihn einen Zionisten nenne“, sagt er über den Staatsgründer der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Die ČSR, eine bis in die 30er Jahre – trotz der Zerrissenheit zwischen den „Heim ins Reich“-Deutschen der Henlein-Bewegung im Westen und den separatistischen Slowaken im Osten – funktionierende Demokratie umzingelt von faschistoiden Diktaturen.

Žilina, ein Eisenbahnknoten in der Nordwestslowakei. Aufnahme aus den 1930er Jahren: Stadtarchiv Žilina

Vertane Chancen, den Psychopathen zu stoppen

„Hätte Beneš, Masaryks Nachfolger, statt ins Exil zu gehen, mit der Million gut ausgebildeter Soldaten Widerstand gegen die Besetzung des Sudetenlandes geleistet, wäre es vielleicht gar nicht zu den späteren Gräueltaten gekommen“, nennt Fried eine von vielen Chancen, den psychopathischen Diktator zu stoppen, ehe er sich militärisch stark genug für seine Welteroberungspläne fühlte.

Vorboten der Katastrophe sind die sich häufenden Übergriffe auf Juden in Deutschland, von denen auch in Žilina Nachrichten eintreffen: „Die meisten wollten nicht wahrhaben, dass es auch uns treffen könnte“, bedauert er den Verdrängungsmechanismus auch noch nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935.

Meine Mutter sagte immer, Hitler ist nur ein Hund, der bellt. Alexander Fried

Die berüchtigt-zynische Inschrift am Tor des KZ Sachsenhausen. Foto: Fried

Heydrich, der Organisator der Juden-Vernichtung

„Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch Menschen“, zitiert Fried Heinrich Heine, einen seiner Lieblingsdichter. „Wir haben immer geträumt, nach Palästina auszuwandern“, ergänzt er. „Aber nur wenige kluge Juden wie Samuel Schlesingers Tochter Eva gingen 1935 wirklich nach Israel.“ Die große Mehrheit scheute das Abenteuer in dem fremden, orientalischen Sehnsuchtsort. „Dann kamen die schreckliche Besetzung und Heydrich, der Organisator der Juden-Vernichtung, nach Prag.“ Die NS-Zeit bricht über die friedliche Welt in Žilina herein. Fried erinnert sich: „Ich ging mit meinem Freund Hansi Weiß spazieren, der Arzt wurde, sich völlig assimilierte, nach Stuttgart ging und sich taufen ließ – aber es half kein heiliges Wasser gegen die Öfen.“

Nur eine von vielen Fügungen, die ihn dem sicheren Tod entreißt: Drei Tage nach Antritt der ersten Lagerhaft führt ein Wärter Fried zum Kommandanten. Der eröffnet ihm, dass er am 3. April das Lager verlassen könne. „Ich will bei meinem besten Freund Alt bleiben“, habe er protestiert. Es hilft nichts: „In jener Nacht um 3 Uhr musste ich bei der Deportation helfen“, sagt Fried mit erstickter Stimme.

1000 junge Menschen wurden in einen Waggon gepfercht, und ich musste meinem Freund in den schrecklichen Käfig helfen. Alexander Fried

Das Trauerjahr ist vorbei, der Grabstein für Alexander Fried am Jüdischen Friedhof in Amberg wurde am Sonntag enthüllt. Foto: Jürgen Herda

Ein Knall, ein Sturz, Blut quillt aus der Schläfe

Dass Fried mehrere Konzentrationslager übersteht, ist schon an ein Wunder. Aber der völlig entkräftete KZ-Häftling überlebt auch noch den Todesmarsch an die Ostsee, in die die NS-Massenmörder die letzten Zeugen ihres Genozids treiben wollen. Als sein Freund Freddy Glasel bei einem Asthmaanfall nach Luft ringt, stützt ihn Shani. Sie halten den Zug auf. „Los, weiter, Judenpack!“, brüllt ein blonder SS-Fahrer in seinem Wagen. Freddy strauchelt, ein Knall, ein Sturz, Blut quillt aus der Schläfe, Freddy ist tot. „Weiter, los, weiter, stell dich nicht so an!“

Nach einer kalten Nacht wacht Fried auf, die Wächter sind weg. Geflohen vor den Russen. Der junge Mann, nur noch Haut und Knochen, schafft es anschließend mit Kutsche, Zug und zu Fuß bis in die Slowakei. Ein gefährlicher Gewaltmarsch, wo Fried trotz seiner traumatischen Erfahrungen Racheaktionen gegen Deutsche entgegentritt: „Ich habe mehr als einmal einem jungen Soldaten, der eine Frau vergewaltigen wollte, gesagt, ,schämst du dich nicht?‘“

Alexander und Dorothea Woiczechowski-Fried hielten im Gespräch mit Schülern die Erinnerung an die Schicksale von Millionen Juden wach. Foto: privat

30-mal dem Tod entronnen

Ein Schatten legt sich über die sonst so wachen Augen des alten Mannes: „Ich bin bestimmt 30-mal dem sicheren Tod entronnen“, jagen schreckliche Bilder durch seinen Kopf, „Hunderte Verwandte aber nicht – und ich sitze jetzt hier und spreche mit dir, wie ist das möglich?“ Nicht nur Deutsche hätten gemordet, den irrationalen Judenhass erlebt Fried auch in Polen, in der Ukraine. „Ich habe Massenmorde mit eigenen Augen gesehen“, sagt er bebend, „entschuldige, ich brauche eine Pause.“

An mehreren Tagen erzählt Fried von der idyllischen Kindheit und Jugend im jüdischen Stetl, vom heraufziehenden politischen Unheil, von den Schrecken der Lager, von der Befreiung und dem langen Marsch nach Hause. Er schildert die Verzweiflung, als nach der Rückkehr klar wird, dass die geliebten Eltern die Terrorherrschaft des Unrechts nicht überlebten – ein Großteil der Familie ausgelöscht. Alexander Fried beschreibt aber auch den Willen zum Weiterleben, das er als Auftrag versteht, mit Vorträgen dazu beizutragen, dass Menschen eine solche Tragödie nie wiederzulassen.

Ein fast 100-jähriges Leben lässt sich nicht in einen Artikel pressen – schon gar nicht ein Leben wie das des Alexander Fried. Im nächsten Teil der Serie gewährt der – trotz des erduldeten Unrechts so gütige – Alexander Fried einen Einblick in die untergegangene Welt des jüdischen Stetls.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht am 4. Dezember 2018 in Berlin an Alexander Fried (rechts) und Dorothea Woiczechowski-Fried aus Tirschenreuth den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Foto: Bernd von Jutrczenka

Geburtstag am Vortag der Kapitulation

Es gehört zu den Wundern, die Alexander Fried die Grauen der Judenverfolgung überleben ließen: „Bestimmt 30-mal entging ich dem sicheren Tod“, sagt der rüstige Greis. Dass er einen Tag vor der deutschen Kapitulation seinen 20. Geburtstag feierte, war so etwas wie eine Wiedergeburt.

OberpfalzECHO widmet dem Gedenken an einen Mann, der nach der Befreiung eine bemerkenswerte wissenschaftliche Karriere hinlegte, vor allem aber ein herzensguter Mensch war, zum 100. Geburtstag diese Serie.

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