Bockboanig [ˈbɔkbaɪ̯nɪç]: Fragen wir doch mal Lucy

Nordoberpfalz. Manchmal ist die Metaebene nicht groß genug – dann muss bei meiner Grantelei in meiner Glosse eben die Evolutionsebene herhalten. Wobei mir schon bei meiner Freundin Lucy sind.

Die Lauscher auf Empfang: Wohin führt uns die Evolution? Foto: OberpfalzECHO/Ann-Marie Zell

Einige Kollegen fragen sich vielleicht, was ich bitteschön um Gotteswillen als Bildschirmhintergrund gewählt habe: Es ist ein komischer Totenkopf. Bin ich so ein harter Kerl, ein Rocker, ein morbider Grufti? Das alles bin ich selbstverständlich nicht. Das Bild zeigt Lucy, einen Australopithecus Afarensis. Sie ist vor 3,18 Millionen von einem Baum im heutigen Äthiopien gefallen und damit eine der Topfavoritinnen in der Riege der Kandidaten für “Wer war eigentlich der erste Mensch?” Lucy ist also von allen anderen gefundenen Arten von Menschenaffen uns am ähnlichsten. Ihr Skelett zeigt bereits deutliche Anpassungen an den aufrechten Gang. Und wenn man ehrlich ist, beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass seitdem nicht viel besser geworden ist.

Darf ich mich als alter, weißer Homo Sapiens mit Stehbiesel-Hintergrund eigentlich in dieser Art und Weise äußern? Zu Lucys Zeiten war das wohl noch kein Thema. Tatsächlich plagten Lucy sicherlich andere Ängste und Sorgen als Pilotenstreik, Inflationsrate und die Verknappung des Klopapiers.

Australopithecus Afarensis

Es ist eine Art der ausgestorbenen Gattung Australopithecus aus der Familie der Menschenaffen. Fossilien, die Australopithecus Afarensis zugeordnet wurden, stammen aus rund 3,8 bis 2,9 Millionen Jahre alten Fundschichten Ostafrikas, insbesondere aus Hadar (Äthiopien) und Laetoli (Tansania). Mehr…

(Quelle: Wikipedia)

Wir leben im Zeitalter des Anthropozän – Halleluja!

Wie primitiv war Lucy doch im Gegensatz zu uns. Mit ihren Händen konnte sie nur greifen und klettern – keine einzige Kurznachricht schreiben. Immerhin ging sie schon aufrecht, aber das entwickelt sich ja gerade wieder zurück. Welche Fragen hätte Lucy an uns, wenn sie einen Sprachapparat gehabt hätte – oder ein Smartphone?

Was sind wir nur stolz auf alles, was wir können. Theoretisch könnten wir sogar komplex persönlich miteinander kommunizieren. Machen wir aber in unserer Evolutionsstufe nicht mehr. Aber wir können wunderbare Autos bauen. Und in Urlaub fahren. Diese komische Eiweißmasse in unserem Kopf schonen wir inzwischen immer mehr – auch das eine Lehre der Evolution, denn was das schon alleine Energie zieht, sich zu informieren und dann auch noch den einen oder anderen Gedanken selbst zu formulieren. Das muss im Anthropozän doch wirklich nicht mehr sein. Das erledigt die Schwarmintelligenz, der Algorithmus und Dieter Bohlen doch besser für uns.

Schleppen wir uns von Auerbachs Keller ins Studierzimmer und fassen also kurz zusammen:

Verachte nur Kunst und Wissenschaft

Des Menschen allerhöchste Kraft,

Lass nur in Blend- und Zauberwerken

Dich von dem Lügengeist bestärken.Mephistioteles, Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

Einfach mal herunterkommen vom hohen Ross

Da ist er nun, der Homo Sapiens – die diamantene Spitze der Evolution. Jeder ist doch schon mal in ein Klo hereingerannt, wo gerade einer auf der Schüssel saß. Wem wäre da der Stoßseufzer entfahren: “Oh, ein Ebenbild Gottes” oder “Die Perle der Schöpfung!” Wir sind scheinbar so wunderbar, dass uns ein Algorithmus ersetzen kann. Und der kennt nur zwei Zustände – Null und eins, an und aus.

Wir müssen über Reproduktion sprechen

Ich bräuchte auch das alles mit der Fortpflanzung nicht. Wenn es nach mir ginge, würden wir alle noch als Amöben im Urmeer dümpeln. Und wer sich vermehren will, der soll sich dann halt teilen. Wäre das alles wirklich ein Rückschritt? Apropos Evolution: Eine interessante Spielart der Natur ist auch das Verhalten der Bonobo-Affen. Bei ihnen gibt es bei Streitigkeiten Versöhnungssex. Vielleicht wäre das auch eine Lösung in der Ukraine – Selenskyj opfer sich und sein Gegenüber hätte damit ja Gerüchten zufolge sowieso kein Problem.

Aber nein, wir müssen es ja wieder auf die Spitze treiben, schließlich sind wir der wunderbare, heilige Homo Sapiens. Deshalb wird heute der potenzielle Partner nach Matchingpunkten auf entsprechenden Plattformen ermittelt, denn nur so finden Singles mit Niveau das adäquate Gegenstück. Hier ist also im zwischenmenschlichen Bereich quasi der “Kölner Keller” zwischengeschaltet. Was das bringt, sehen wir ja Woche für Woche in der Bundesliga. Bussi? “Das müssen wir uns nochmal genau anschauen”. Händchenhalten? “Es hat scheinbar ein Kontakt stattgefunden” und wenn es “All-In” geht, wird erstmal noch die kalibrierte Linie gezogen.

Lucy, rutsch mal…

Ich würde mich gerne zu Lucy setzen und einfach statt digital rumzumosern den ganzen Tag auf die Brust trommeln. Und Stoffwechsel betreiben. Und mich vielleicht doch reproduzieren. Das wars dann schon, mehr braucht es doch auch nicht. Wahrscheinlich würde mich der Ast, auf dem Lucy sitzt, leider nicht aushalten, aber die Geschichte Menschheit wäre eine andere.

Wo bleibt denn heute eigentlich die Möglichkeit, einfach Mensch zu sein? Und zwar nicht auf der großen Metaebene, sondern ganz persönlich und individuell – wo Formulierungen wie “Da geht einem das Herz auf” oder “das hat mich menschlich erschüttert” noch möglich sind? Ich befürchte, davon können wir uns verabschieden. Mich beschleicht sowieso das Gefühl, dass wir seit Lucy schon unzählige Male falsch abgebogen sind, vielleicht ist es auch deshalb Zeit für einen Relaunch. So wie wir mit unserem Planeten und unseren Mitmenschen umgehen, sind wir auf dem besten Weg dazu.

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