Buchtipp & Interview: “Jeder sollte eine Rachel in seinem Leben haben“

Nordoberpfalz. Rachel Hanan erzählt in ihrem Buch „Ich habe Wut und Hass besiegt. Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat" ihre Lebensgeschichte.

Rachel Hanan hat vier Konzentrationslager überlebt. Foto: Matthias Holl

90 Jahre nach Übernahme der Macht im Deutschen Reich durch die Nazis erklimmt ein Buch die Bestsellerlisten, das am Beispiel einer Lebensgeschichte einmal mehr ergreifend aufzeigt, welche lebenszerstörende beziehungsweise lebensbeeinflussende Auswirkungen die zynische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten hatte. Es ist die Lebensgeschichte von Rachel Hanan, geboren 1929 im heute rumänischen Viseu de Jos (Unterwischau), die als Teenager Deportationen, vier Konzentrationslager, Zwangsarbeit und letztendlich auch einen Todesmarsch überstanden hat. 1945, nach Befreiung durch die Rote Armee, kehrt sie Deutschland den Rücken und schweigt Jahrzehnte über das erfahrene Leid. Seit mehr als 75 Jahren ist das israelische Haifa inzwischen ihre Heimat.

Das Leben vor und nach Auschwitz

Zusammen mit dem Münchner Journalisten Thilo Komma-Pöllath hat sich eine der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen des Holocaust auf den Weg gemacht, die Welt ihrer verborgenen Gefühle und Erinnerungen an die dunkelste Zeit ihres Lebens – im wahrsten Sinne des Wortes – zu entdecken.

Thilo Komma-Pöllath mit Rachel Hanan. Foto: Matthias Holl
Thilo Komma-Pöllath mit Rachel Hanan. Foto: Matthias Holl
Rachel Hanan mit Ehemann Shlomo und den Söhnen Doron und Yaron Anfang der 60er. Foto: Jonas Opperskalski / laif
Rachel Hanan mit Ehemann Shlomo und den Söhnen Doron und Yaron Anfang der 60er. Foto: Jonas Opperskalski / laif
Matthias Holl
Foto: Jonas Opperskalski / laif

Offen und sehr persönlich lässt die heute 93-Jährige die Leserinnen und Leser an ihrem Leben teilhaben, das sie selbst in zwei Lebenshälften einteilt – eine vor Ausschwitz und eine danach. Und gerade die zweite Lebenshälfte beschreibt sie im Rückblick als „gelungen, glücklich und großartig“. Wie wunderbar. „Die Bilder der Vergangenheit lebendig werden zu lassen gegen das Vergessen“ wurde für Rachel Hanan in einer späten Phase ihres Lebens Auftrag und Verpflichtung. „Wer sonst außer uns Opfern, die all das erlebt haben, sollte das tun?“ Es ist an der Zeit, sagt sie, aus ihrem Herz und ihrer Seele keine Mördergrube mehr zu machen.

Prädikat: Besonders lesenswert

Eigentlich sollte, um mit den Worten von Star-Dirigent Omer Meir Wellber aus dem Vorwort zu sprechen, „jeder eine Rachel in seinem Leben haben“. Aber die realen Begegnungen mit Holocaust-Opfern werden seltener, irgendwann werden sie gar nicht mehr möglich sein. Dennoch ist es nötig, den nachfolgenden Generationen die Begegnung mit diesen wichtigen Zeitzeugen und ihren leidvollen Erfahrungen weiterhin zu ermöglichen. Bücher wie das von Rachel Hanan und dem gebürtigen Oberpfälzer Thilo Komma-Pöllath schaffen die Voraussetzung hierfür.

Das Buch „Ich habe Wut und Hass besiegt. Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat“ ist ein bewegendes Zeugnis von der dunkelsten Epochen deutscher Geschichte – persönlich, progressiv, politisch. Prädikat: Besonders lesenswert!

„Ich habe Wut und Hass besiegt”

„Ich habe Wut und Hass besiegt.“
Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat

Heyne, 288 Seiten 20 Euro.
ISBN 978-3-453-21841-3

Rachel Hanan im Interview: „Ich bin ein glücklicher Mensch“

Text & Interview von Matthias Holl

Was mussten Sie in der Zeit des Nationalsozialismus erleben?

Rachel Hanan: Ich wurde an meinem 15. Geburtstag nach Auschwitz deportiert und ein Jahr später, kurz vor meinem 16. Geburtstag in Theresienstadt befreit. Dazwischen war ich noch in Bergen-Belsen und in Duderstadt. Ich habe also vier Konzentrationslager, Zwangsarbeit in einer Waffenfabrik, das Bombardement meines Gefangenentransports durch die Alliierten und den sogenannten Todesmarsch nach Theresienstadt erlebt und überlebt.

Ein Leben voller Gewalt, Hunger und Durst, ohne Hygiene und Menschlichkeit. Unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz hat mich Lagerarzt Josef Mengele, zusammen mit meinen Schwestern (im Alter von 13 bis 18 Jahren), von meinen Eltern Ethel und Fivish getrennt. Ein Jahr lang wussten wir nicht, was mit ihnen passiert war, tatsächlich wurden Mama und Papa, zusammen mit unseren beiden jüngeren Brüdern Zvi und Yehudaleh, unmittelbar nach unserer Trennung vergast und verbrannt. Genauso meine Schwester Chaya und ihr sechs Monate altes Baby Etia, meine Nichte, die ich nie habe kennenlernen und im Arm halten dürfen. Der Tod so vieler geliebter Menschen hinterlässt eine Leere, die nicht mehr zu füllen ist.

Überlasst die Welt nicht Hass, Wut, Rache und Rassismus. Hass trifft immer nur diejenigen, die hassen.

Was hat Sie stark gemacht, um nach Kriegsende ein neues Leben zu beginnen?

Rachel Hanan: Wenn ich heute zurückblicke, weiß ich selbst nicht mehr genau, wie mir das gelungen ist. Bei meiner Befreiung habe ich 25 Kilogramm gewogen und war von Eiterbeulen und Abszessen übersät. Ich habe seit jener Zeit grässliche Albträume, in der Joseph Mengele meine Kinder kidnappt und tötet. Gleichzeitig haben mich meine beiden Söhne gerettet. Als Mutter trägt man Verantwortung für diese kleinen, hilflosen Geschöpfe, es lag an mir, sie durch die Widrigkeiten des Lebens zu führen, die ich besser kannte als viele andere.

Dafür stark gemacht hat mich mein Elternhaus, die uneingeschränkte Liebe meiner Eltern in den ersten 15 Jahren meines Lebens. Ihre Zuneigung, ihr grenzenloses Vertrauen in mich, ihre Unterstützung war für mich eine Rüstung, an der schließlich sogar Auschwitz zerschellte. Ich kann heute mit einem Lächeln sagen: Ich bin ein glücklicher Mensch.

Wie haben Sie den Neuanfang in Israel erlebt?

Rachel Hanan: Der Anfang in Israel war, als würde ich vor einem leeren, weißen Blatt sitzen und müsste erst wieder lesen und schreiben lernen. Ich war ein Teenager, konnte die Sprache nicht, hatte keinen Schulabschluss, ich kannte kaum jemanden. Zuerst ging ich in ein Kibbuz, während des Unabhängigkeitskrieges meldete ich mich als Sanitäterin zum Militärdienst. In meinem beruflichen Leben habe ich später als Sozialarbeiterin und Leiterin einer Wohlfahrtsbehörde gearbeitet, viele der jüdischen Einwanderer waren mittellos und selbst traumatisiert.

Trotzdem gab es auch bei uns viele, die nicht glauben wollten, dass das alles wahr sein sollte, wovon wir Überlebenden erzählten. Wohl auch deshalb habe ich fast 50 Jahre nicht über das Erlebte gesprochen, in meinem Buch erzähle ich zum ersten Mal meine ganze Geschichte.

Worin liegt Ihrer Meinung nach der Sinn des Lebens? Was erfüllt Sie?

Rachel Hanan: Jeder erlebt in seinem Leben Krisen oder Rückschläge, auch wenn nicht jeder in einem Todeslager überleben muss. Trotz allem, was ich erlebt habe, habe ich danach immer nach den positiven Seiten des Lebens gesucht, nach einem Grund weiterzuleben. Das erklärt auch meinen Beruf: Ich wollte den Menschen in großen, existentiellen Nöten beistehen.

Wenige Jahre nach der Befreiung habe ich eine Familie gegründet und zwei Söhne bekommen. Die Familie ist der größte Sinn meines Lebens, meine Kinder, meine Enkel und Urenkel. Man könnte glauben, der Sinn des Lebens ist für jeden etwas anderes, das stimmt aber nicht. Die wechselseitige Liebe erfüllt uns alle mit dem größten Sinn. Anders als den Glauben an Gott habe ich den Glauben an die Menschen nie verloren.

Was möchten Sie den nachfolgenden Generationen gerne mitgeben?

Rachel Hanan: Die Lektion meines Lebens? Überlasst die Welt nicht Hass, Wut, Rache und Rassismus. Hass trifft immer nur diejenigen, die hassen. Nie diejenigen, die vom Hass getroffen werden sollen. Hass verseucht jeden von Ihnen und zerstört das eigene Leben. Das habe ich schnell gelernt.

Hasst nicht und steht auf und wehrt Euch, wenn neue Hitlers und Mengeles den Teufel an die Wand malen. Wenn man weiß, welchen Preis die Menschheit in Auschwitz und anderswo bezahlen musste, kann das Gebot der Stunde nur lauten: “Nie wieder!”

Herzlichen Dank für das Interview und alles Gute!

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