Bye, bye Tories: Regensburgerin in Newcastle freut sich über Abwahl der Konservativen

Newcastle/Regensburg. Es war einmal eine ernsthafte, konservative Partei. Doch dann kam der exzentrische Boris Johnson und der verschlagene Nigel Farrell und drängelten Großbritannien in den Brexit. Mit verheerenden Folgen. Heute Nacht heißt es: Bye, bye, Tories. Auch von meiner Regensburger „Korrespondentin“ in Newcastle.

Labour-Chef Keir Starmer (rote Mitte) verspricht Change, noch-Premierminister Rishi Sunak versucht sich als einfacher McDonalds-Gast, Sir Ed Davey, Vorsitzender der Liberaldemokraten, beim Bungee-Sprung, Nigel Farage versucht die Demokratie zu erlegen und Silvie Fisch, Regensburgerin in Newcastle als Brexit-Gegnerin. Collage: jrh

Laut neuesten Zählungen kommt die die Labourpartei unter Parteichef Keir Starmer (61) auf 412 Sitze – für eine absolute Mehrheit sind mindestens 326 der 650 Sitze im Unterhaus nötig. Der sozialdemokratische Wahlsieger freut sich am Freitagmorgen: „Jetzt ist es an der Zeit für uns, zu liefern. Der Wandel beginnt jetzt. Im ganzen Land werden die Menschen zu der Nachricht aufwachen, erleichtert, dass eine Last von ihren Schultern genommen wurde.“

Noch-Premierminister Rishi Sunak (44) und seine Konservative Partei, die sogenannten Tories, wurden abgewatscht: Sie wurden annähernd gedrittelt und kommen nur noch auf 121 Sitze – statt bisher 365. Sunak hat die Niederlage bereits eingeräumt: Er habe Labour-Chef Keir Starmer angerufen, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren. Außerdem kündigte er den Rücktritt vom Parteivorsitz an.

Brexsack nimmt Tories Stimmen ab

Sehr gedämpften Jubel gibt es bei der rechtspopulistischen Partei „Reform UK“ von Brexit-Vorkämpfer Nigel „Brexsack“ Farage – der Mann, der den Tories und der Insel den Brexit-Salat einbrockte. Seine Partei kommt auf 4 Mandate und trägt durch sein Fischen am rechten Rand der Konservativen zu dem schlechten Ergebnis bei. Er hatte sich freilich mehr ausgerechnet.

Im britischen Mehrheitswahlsystem tun sich kleine Parteien traditionell schwer, da nur Sitze erhält, wer die Mehrheit in einem Stimmkreis erringt. Drittstärkste Kraft sind die Liberaldemokraten mit 71 Sitzen, mit weitem Abstand gefolgt von der Schottischen Nationalpartei (9), Sinn Féin (7), der Demokratischen Unionisten Partei (5), Farages Reform UK (4), den Grünen (4), Plaid Cymru (4), einer Abspaltung von Labour (2) und sonstige (9).

Bereits jetzt steht fest: Der 61-jährige Labour-Chef Starmer wird nach 14 Jahren Tory-Herrschaft als Nachfolger von Sunak in die Downing Street einziehen. Die Konservativen erleiden ihre schlimmste Niederlage seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sie waren schon mal beliebter, die britischen Konservativen: Der Glanz des Empire ist erloschen, der Niedergang an vielen Ecken sichtbar. Collage: jrh

Hoffen auf die Unabhängigen mit Jeremy Corbyn

Gedämpfte Freude im Haus unserer England-Exilantin Silvie Fisch. Die Regensburgerin lebt seit vielen Jahren mit ihrem Lebensgefährten Graham Smith, ihrer Tochter Amber und ihrer Mutter Elisabeth in Newcastle im Nordosten von England. „Man fragt sich heute noch, wie es die Tories so lange geschafft haben, im Sattel zu bleiben“, sagt die junggebliebene 55-Jährige. „Spätestens seit Theresa Mays Amtsperiode hagelte es Krisen und Skandale.“

Dennoch hält sich im Hause Fisch & Smith die Freude in Grenzen: „Labour ist schon lange nicht mehr meine Partei“, sagt sie bitter. „Aber Spaß macht es natürlich schon, die Tories abziehen zu sehen!“ Nigel Farages Brexsack-Reformer seien stärker als erwartet, Grün habe miserabel abgeschnitten. „Ich hoffe jetzt auf die stärker werdende Bewegung der Independents, der Unabhängigen, mit Jeremy Corbyn als Frontmann.“

Silvie Fisch an der britischen See. Foto: Graham Smith

Als Nichtbritin Bürgerin zweiter Klasse

Die krude Migrationspolitik hat auch für die Deutsche mit festem Wohnsitz und Beruf konkrete Folgen. „Mit Brexit kam persönlich für mich die einschneidendste Veränderung, die auch weiterhin spürbar ist.“ Nicht nur für sie: „Zum Beispiel muss meine in England geborene Tochter nach wie vor Arbeitgebern für jeden kleinen Job nachweisen, dass sie eine Arbeitserlaubnis hat.“

Sogar die 87-jährige Mutter wird gegängelt: „Sie ist erst kurz vor dem Referendum zu mir gezogen“, erzählt Silvie, „und sie hat sich sehr schwergetan, die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.“

Schlangen vor den Tafeln

Beruflich und im ehrenamtlichen Engagement hat die Direktorin bei Northern Cultural Projects (CIC) und assoziierte Forscherin an der Newcastle University viel mit ärmeren Menschen zu tun. „Seit dem Amtsantritt der Tories hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch um einiges vergrößert“, sagt Silvie. „Die Einführung von Universal Credit etwa hat bewirkt, was von den Tories gewollt war – arm sein, wird bestraft.“

Hier als Sozialhilfeempfänger ein menschenwürdiges Leben zu führen, sei praktisch unmöglich. Wer jetzt von den deutschen Bürgergeld-Gegnern jubelt, sollte einen Moment innehalten: „Niedrigverdienenden geht es kaum besser.“ Vor den Tafeln stünden Schlangen von Menschen, viele von ihnen berufstätig, darunter viele Krankenschwestern. „Während der Coronakrise wurde ihnen noch von den Tories applaudiert, das ist jetzt der Dank für ihren Einsatz.“

Silvie Fisch als Brexit-Gegnerin. Foto: Graham Smith

Keine großen Erwartungen an Labour

Ganz leer sind die Supermärkte trotz Brexit, Lieferschwierigkeiten und fehlender Lkw-Fahrer zwar noch nicht. „Ja, Bananen gibt es noch in den Geschäften“, sagt die Oberpfälzerin. „Aber die meisten Menschen, mit denen ich arbeite, können sie sich nicht leisten – von der Lebensmittelqualität will ich besser erst gar nicht erst reden.“

Allzu viel verspricht sich die Einwanderin vom Regierungswechsel dennoch nicht: „Starmer hat den Mitte-Rechtsruck manifestiert, um mehrheitsfähig zu werden.“ Er stehe für Privatisierung und hartes Durchgreifen gegen Immigranten. „Gegen die linke Fraktion hat er eine Hexenjagd veranstaltet und damit etwa ein Drittel an Mitgliedern verloren.“

Silvie Fisch und Graham Smith auf Regensburg-Besuch. Foto: privat

Ein Land im freien Verfall

Andrea Buhl, eine ehemalige Kollegin, lebt und arbeitet zwar immer noch in Regensburg, ist aber ein ausgesprochener Briten-Fan. Das hindert sie freilich nicht daran, die Entwicklung im Vereinigten Königreich kritisch zu betrachten. „London war ja schon immer sauteuer, der Verkehr eine Katastrophe“, sagt die Anhängerin schwarzen Humors. „Ich habe beobachtet, wie Polizei oder Rettungswagen einfach stecken geblieben sind.“

„Cornwall, Bath, Brighton – alles erschreckend heruntergekommen in den traditionell strukturschwachen Gegenden, seit ich zum ersten Mal da war in den 1990er Jahren“, erzählt Andrea. „Das britische Gesundheitssystem hatte meines Wissens zwar noch nie den deutschen Standard – außer für Charles und Kate, versteht sich.“ Inzwischen gibt es Berichte von akut Krebskranken, die monatelang auf eine Behandlung warten. Mit tödlichen Folgen.

Politiker aus abgehobenen Elite-Unis

„Das Schulsystem ist ein Witz und Bildung kaum erschwinglich.“ Der ÖPNV, sofern vorhanden, „null barrierefrei“, die U-Bahn völlig überaltert. Kanalisation und sanitäre Anlagen seien desaströs. „Und so ein Cottage schaut zwar putzig aus, aber komfortabel ist was anderes, finde ich.“ Insgesamt kann sie den Verdruss der Briten, die die Tories nach 14 Jahren in die Wüste schicken, gut nachvollziehen.

„Ich meine, das Problem, das Amerika, Frankreich und England gemeinsam haben, ist diese spezielle Form der Eliteausbildung in privaten Kaderschmieden.“ Richtig gute Bildung, die so richtig steile Karrieren ermöglicht, kostet in diesen Ländern viel Geld. „Alle Präsidenten dieser Länder kommen traditionell ausnahmslos aus den teuersten Eliteunis, und das kommt inzwischen eben immer weniger gut an.“

Die wahrscheinlich hübschesten Mädels rund um unseren Abiturjahrgang des Goethe-Gymnasiums vor 40 Jahren: (von links) Aleksandra, Astrid, Silvie und Bianca. Foto: Neli Färber (kann doch sein)

Partei der Skandale: Wetten, die Populisten gewinnen die nächste Wahl?

Dass die Briten gerne auf alles wetten, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, ist bekannt – und natürlich auch, ob einer bei 2 oder die andere erst bei 4 auf dem Wipfel hockt. Dass sich jetzt aber auch noch Mitglieder der Konservativen Partei am Wahltermin bereicherten, schlägt doch auch für britische Verhältnisse dem Ale-Fass den Boden aus.

Da hatte Premier Rishi Sunak im engsten Kreis von Eingeweihten den Wahltermin, den 4. Juli, besprochen, und dann haben die Spitzenpolitiker nichts anderes zu tun, als ins nächste Wettbüro zu laufen und mit ihrem Insider-Wissen noch satt Kohle abzuräumen.

Der Datenbeauftragte der Tories, Nick Mason, hat sich wegen Ermittlungen gegen ihn in dem Fall beurlauben lassen, berichteten die Sunday Times und andere britische Medien. Er ist bereits das vierte Parteimitglied der Konservativen, gegen das die Glücksspielaufsicht eine Untersuchung eingeleitet hat.

Es ist nicht der schlimmste Skandal der Tories in ihrer Regierungszeit, aber er ist bezeichnend für die immer niedrigere moralische Hürde, über die britische Politiker springen müssen. Boris Johnson, der notorische Lügner, der großartig sprechen und versprechen, aber nichts halten kann, stolperte über eine Corona-Party, zu der seine Jungs heimlich Schnaps in Aktentaschen in die Downing Street schleppten – das Volk hatte Ausgangssperre, für die Eliten galten andere Gesetze.

Seine Nachfolgerin Liz Truss wiederum senkte in einem Akt des Größenwahns entgegen allen Experten-Ratschlägen die Steuern so drastisch, dass die Märkte verrücktspielten und der Staat am Rande der Zahlungsunfähigkeit stand. Dass die Konservativen Anhänger des schlanken Staates sind, weiß man spätestens seit Magret Thatcher, die die Gewerkschaften genauso eliminierte wie die britische Eisenbahn und das Gesundheitswesen.

Seitdem sich aber zur Ideologie auch noch der galoppierende Populismus gesellte, fielen alle Tabus. Johnson versprach mit riesigen Werbeaufschriften auf Doppeldecker-Bussen, das Geld, das man der EU in den Rachen geschoben habe, künftig ins Gesundheitssystem zu stecken. Dass die dabei zirkulierenden Zahlen von vornherein falsch waren, geschenkt! Und das Märchen vom gesundenden Gesundheitssystem nach dem Brexit? Wer’s glaubte!

Das tun im Übrigen immer noch die Anhänger von Nigel Farages Brexsack-Reformern. Das Elend des Landes schreiben sie nicht etwa den gravierenden Folgen des Brexits zu. Im Gegenteil: Sie meinen, man habe den Brexit nur nicht hart genug umgesetzt. In Zeiten moderner Mythen ist deshalb auch Farages Vision nicht unvorstellbar: Diese Wahl sei nur zum Warmlaufen, hat er verkündet. Bei der nächsten will er die Mehrheit holen.

Bei Former-Great-Britains derzeitiger existentieller Krise kann man jetzt schon auf den nächsten Sieg der Trickser und Täuscher wetten. Vielleicht die beste Methode, um im Land der ungleichen Chancen doch noch an ein paar schnell verdiente britische Pfund zu kommen!

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