Christian Doleschal: „Viele befürchteten, dass sich Europa zerlegen lässt“
Weiden. Die Plakate hängen, die Kandidaten rennen, aber medial bekommt man nicht allzu viel mit vom Europa-Wahlkampf. Dabei war die EU nie wichtiger als heute, findet der Oberpfälzer Europa-Abgeordnete Christian Doleschal (CSU) angesichts der Krisenherde vor der Haustüre. Echo-Interviewserie zur Europa-Wahl (1): Sicherheitspolitik.
Europa sieht sich aktuell mit diversen Krisenherden konfrontiert. Das aggressive russische Regime bedroht nicht nur die Ukraine, es verunsichert mit Cyberangriffen die Bürger in europäischen Staaten, beeinflusst mit Propaganda die Meinungsbildung und destabilisiert so demokratische Gesellschaften. Und Europa wirkt bei all dem hilflos und uneinig …
Doleschal: Das sehe ich nicht so skeptisch. Die Akzeptanz für die EU ist so hoch wie selten. Am 24. Februar vor zwei Jahren hatten viele die Befürchtung, dass sich Europa zerlegen lässt. Putin glaubte, er könnte in ein paar Tagen die Ukraine überrennen und der Westen würde genauso zuschauen wie bei den russischen Bombardements in Syrien.
Das ist nicht passiert. Und bei aller berechtigter Kritik an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Es gibt inzwischen ein Gesicht, eine Telefonnummer, die ein US-Präsident anwählen kann. Dennoch gebe ich Ihnen recht, dass noch vieles zu schwerfällig ist.
Wir müssen Strukturreformen anpacken, wir können ja Orbán nicht jedes Mal zum Kaffeetrinken schicken.
Christian Doleschal
Solange jedes Land sein Vetorecht zücken kann, lässt sich das kaum vermeiden?
Doleschal: Wenn ein Land die Einstimmigkeit missbraucht, muss das Konsequenzen haben. Wir haben schon im Vertrag von Lissabon bei vielen Punkten die Einstimmigkeit aufgehoben. Das gemeinsame Vorgehen in der Pandemiebekämpfung, die gemeinsame Bestellung von Impfstoffen und das abgestimmte Vorgehen bei der Entwicklung und Freigabe der Impfstoffe hatten bei allen anfänglichen Störgeräuschen für alle Mitgliedsstaaten Vorteile. So eine gemeinsame Linie brauchen wir auch beim Thema Verteidigungspolitik. Deshalb müssen wir weitere Themen von der Einstimmigkeit ausnehmen.
Warum sollten Ungarn oder die Slowakei, die einen prorussischen Kurs fahren, da mitmachen?
Doleschal: Nicht nur Viktor Orbán, auch die deutsche Regierung hat weitere Schritte blockiert.
Es braucht hier ein abgestimmtes Vorgehen des Weimarer Dreiecks – also Deutschlands, Frankreichs und Polens. Christian Doleschal
Das Problem ist, dass alle drei derzeit innenpolitisch blockiert sind: bei uns durch den ständigen Streit in der Ampel-Koalition, in Frankreich durch die Angst vor einem Wahlsieg von Marine Le Pen – sodass es in Polen nach der Abwahl der PIS-Partei noch am harmonischsten zugeht. Wir brauchen in der EU zwei, drei Regierungen, die vorangehen.
Im November könnte erneut Donald Trump ins Weiße Haus einziehen, der die Nato infrage stellt und klargemacht hat, dass er Putin ermutigen würde, Länder, die seiner Auffassung nach zu wenig für die Verteidigung ausgeben, anzugreifen. Die EU sieht dieses Gefahrenszenario auf sich zukommen, und nicht einmal Deutschland und Frankreich ziehen bei der Unterstützung der Ukraine am gleichen Strang. Man möchte sich nicht ausmalen, wie eine desolate Bundeswehr das Land beschützen soll …
Doleschal: 333 Millionen Amerikaner sagen verständlicherweise, „wir sichern nicht dauerhaft 448 Millionen Europäer“. Deshalb ist es wichtig, dass das Thema Bundeswehr nach Dekaden des Friedens wieder einen anderen Stellenwert hat. Als langfristiges Ziel halte ich eine Europäische Armee für wünschenswert. Wir müssen sowohl die Waffenbeschaffung als auch die -produktion besser koordinieren, und dafür ist ein kleiner europäischer Obolus obendrauf als Anreiz angedacht. Wenn man sieht, dass heute 82 Prozent aller Waffen, die wir an die Ukraine liefern, außerhalb Europas angeschafft werden, zeigt das, dass wir schlagkräftiger werden müssen.
Und wie werden wir schlagkräftiger … am besten bis November?
Doleschal: Dazu brauchen wir einen europäischen Verteidigungskommissar, der bei der Entwicklung mittelfristiger Ziele, der gemeinsamen Beschaffung und Koordinierung von Waffenlieferungen den Hut auf hat – und der wird auch kommen.
Nach Ende des Kalten Krieges hatte man den Eindruck, dass sich Spionage vor allem auf wirtschaftliche Aspekte fokussiert. Inzwischen kommen fast täglich neue Verdachtsmomente ans Licht, dass vor allem Russland und China deutsche und europäische Ziele ausspionieren – offenbar auch mithilfe von AfD-Politikern. Wie reagiert die EU darauf?
Doleschal: Wir müssen zunächst einmal sehen, dass es in der derzeitigen Außenpolitik nicht um moralische Fragen geht, sondern seitens Russlands und Chinas um die knallharte Durchsetzung von Interessen. Wenn man sich dann noch anschaut, wohin die AfD driftet: Der Büroleiter des Spitzenkandidaten für die Europa-Wahl wurde verhaftet, Maximilian Krah, der Kandidat selbst, ist zweifach im Verdacht, Geld angenommen zu haben. Die Nummer 2, der amtierende Bundestagsabgeordnete Petr Bystron, soll sich bei den Russen beschwert haben, dass sie ihn mit 200-Euro-Scheinen bezahlt haben, weil man mit denen nicht an deutschen Tankstellen bezahlen kann. Von den 12 oder 13 AfD-Abgeordneten im Europäischen Parlament sind nur noch 5 übrig, alle anderen sind ausgetreten.
Wenn selbst die Vorsitzende des rechtsnationalistischen Front national, Marine Le Pen, sagt, „mit denen möchte ich nichts mehr zu tun haben“, dann weiß man, was das für Leute sind. Christian Doleschal über die AfD-Spitzenkandidaten zur Europa-Wahl
Ich kann ja den Frust mancher Wähler verstehen. Aber jeder muss sich doch ernsthaft fragen: Will ich am Ende wirklich skrupellose Leute ins Parlament wählen, die kein Konzept haben, außer sich die Propaganda von russischen und chinesischen Geheimdiensten in ihre Reden schreiben zu lassen?
Westliche Geheimdienste warnen vor russischen Cyberangriffen und sogar Anschlägen. Wie nah diese Bedrohung auch in der Oberpfalz ist, zeigt die Festnahme zweier Deutschrussen, die unter anderem den US-Truppenübungsplatz Grafenwöhr ausspionieren sollten, um Informationen über Waffenlieferungen an die Ukraine zu beschaffen. Haben unsere Sicherheitsorgane diese Gefahr auf dem Schirm?
Doleschal: Ich gehe davon aus, dass unsere Geheimdienste, die ja vor dieser Bedrohung gewarnt haben, diese Gefahr auf dem Schirm haben. Die Zusammenarbeit im Fall Bystron mit dem tschechischen Geheimdienst hat schon mal gut funktioniert. Aber klar ist auch: Cyberangriffe werden zunehmen. Schon heute beeinflussen Russen über TikTok die Meinung von Millionen Jugendlichen. Und was die US-Truppenübungsplätze betrifft: Die Amerikaner sind seit dem Ukraine-Krieg erhöht wachsam. Denn wie hat jemand so treffend formuliert: Wir sind nicht Kriegspartei, aber Kriegsziel.
Die Verunsicherung der Bevölkerung durch Fake-News ist messbar, wie man an der Zustimmung zur AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht sieht, die unter anderem das russische Narrativ verbreiten, Putin habe mit dem Angriffskrieg lediglich auf die Ausbreitung der Nato Richtung Osten reagiert. Trotz der leichten Einbußen der AfD bei jüngsten Umfragen führt die Partei in allen östlichen Bundesländern. Wie will die Union dem massiven Vertrauensverlust in Sachsen und Thüringen entgegenwirken?
Doleschal: In manchen Regionen Ostdeutschlands zeigen rechte Burschenschaften mehr Präsenz als die alten Volksparteien. Um die AfD kleinzubekommen, müssen sich die etablierten Parteien wieder mehr um die Menschen vor Ort kümmern. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, wenn Mitglieder und Kandidaten fehlen.
Aber in Sachsen verkörpert, finde ich, Ministerpräsident Michael Kretschmer den Typus des Kümmerers noch ganz gut. Christian Doleschal
Wir müssen uns im Westen auch den despektierlichen Blick Richtung Osten abgewöhnen. Und dann gibt es halt auch noch Trigger-Themen, die den Populisten in die Karten spielen: Die Fehler beim Heizungsgesetz waren ein maximaler Beschleuniger der Unzufriedenheit – und wir müssen die Probleme bei der Zuwanderung lösen.
Die Zunahme internationaler Krisen wird neue Fluchtursachen erzeugen – ganz im Gegensatz zu dem Alibi-Versprechen, wir würden Fluchtursachen vor Ort bekämpfen. Glauben Sie wirklich, dass Aufnahmelager in problematischen außereuropäischen Staaten wie Ruanda faire Asylverfahren ermöglichen – und dass sich die Flüchtenden davon abhalten lassen, weiter übers Meer ihr Glück zu versuchen?
Doleschal: Ich denke, dass der europäische Asylkompromiss Wirkung zeigen wird. Die EU-Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament sowie die Europäische Kommission haben sich Ende Dezember vergangenen Jahres auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Jetzt hat auch das Europa-Parlament die zehn Gesetzestexte angenommen und der Einigung zugestimmt – wer nicht zugestimmt hat, war die AfD, weil sie kein Interesse an der Lösung des Problems hat. Im Gegenteil: Das böse Spiel mit den Ängsten der Bevölkerung ist die Existenzgarantie dieser Partei.
Wie sieht denn diese Lösung aus?
Doleschal: Zu der EU-Asylreform gehört ein wirksamer Schutz der EU-Außengrenzen mit einheitlichen Standards für Registrierungen und Zuständigkeiten, sowie ein verpflichtender Solidaritätsmechanismus. Jeder muss nach der neuen EU-Asylreform künftig an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden. Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU hat, wird ein rechtsstaatliches Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort zurückkehren müssen.
Wie soll man sich denn ein rechtsstaatliches Asylverfahren an den Außengrenzen vorstellen? Unsere Richter sind doch schon mit dem deutschen Rechtssystem heillos überfordert.
Doleschal: Alle Asylsuchenden werden an den Außengrenzen einem verpflichtenden Screening unterworfen.
Alle Personen, die aus einem Land kommen, welches EU-weit eine Schutzquote von unter 20 Prozent hat, müssen ins Grenzverfahren. Christian Doleschal
Aber auch Personen, die über einen sicheren Drittstaat gekommen sind, können in das Grenzverfahren geschickt werden.
Was aber nichts an den Fluchtursachen ändert?
Doleschal: Kommunalpolitiker aller Couleur beschreiben die Lage vor Ort als dramatisch. Die Aufnahmekapazitäten sind erschöpft, von echter Integration ganz zu schweigen. Wir sind aber genauso wie die Asylsuchenden auf die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen. Geschlossene Turnhallen werden für noch mehr Unmut sorgen. Die Zahlen müssen nach unten gehen. Unsere Bürger haben auch ein gutes Gefühl für Gerechtigkeit. Wenn die Asylsuchenden nicht arbeiten dürfen, aber Bürgergeld bekommen, ist das Wasser auf die Mühlen der AfD. Deshalb müssen wir die Pullfaktoren verringern.
Und dann bleiben die Asylsuchenden, die ihr Leben riskiert haben, um nach Europa zu kommen, lieber perspektivlos in Nordafrika?
Doleschal: Wir suchen nach dem bestmöglichen Kompromiss für alle Beteiligten. Von destabilisierten Demokratien haben Asylsuchende auch nichts.
Wahlprogramm CDU/CSU zur Europawahl 2024
Bei der vergangenen Europawahl im Jahr 2019 hatten die Christlich Demokratische Union Deutschland (CDU) und die Christlich Soziale Union (CSU) erstmals ein gemeinsames Wahlprogramm für die Europawahl aufgestellt. Auch zur Europawahl 2024 haben die Parteien wieder zusammen ein Wahlprogramm erarbeitet, das sie einstimmig beschlossen und am 11. März 2024 der Öffentlichkeit präsentiert haben. CDU-Parteichef Friedrich Merz und CSU-Parteichef Söder betonten die Geschlossenheit der Union.
- „Union pur“: Das Wahlprogramm sei „Union pur“ und ein klares Angebot an die politische Mitte, aber auch für „Mitte-bürgerlich, konservativ, rechts“, so Söder: „Wir wollen ein bürgerlich-konservatives Europa.“
- Sicherheit: CDU und CSU setzen ihren Fokus im Europawahlkampf auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung. Sie plädieren für eine massive Aufrüstung der Europäischen Union, inklusive Flugzeugträger und eigenem Raketenschirm. Zudem fordern sie einen eigenen EU-Verteidigungskommissar. Da sich die Sicherheitslage in Europa in den vergangenen Jahren insbesondere durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fundamental verändert habe, müsse für Europas Sicherheit und Wehrhaftigkeit deutlich mehr getan werden.
- Gegen Verbrenner-Aus: Außerdem drängen die beiden Parteien darauf, das umstrittene Verbrenner-Aus ab 2035 rückgängig zu machen. Die deutsche Spitzentechnologie des Verbrennungsmotors sollte erhalten und technologieoffen weiterentwickelt werden, heißt es im Wahlprogramm.
- Für Emissionshandel (ETS): Merz verteidigte ein Kernstück des Green Deal der EU, den europäischen Emissionshandel (ETS), gegen Kritik, dass dieser die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien weiter verschlechtern werde. „Wir sehen es umgekehrt. Wir sehen es als eine Chance an, wettbewerbsfähige Produkte auf der Basis von Klimaneutralität zu entwickeln“, sagte er.
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1 Kommentare
Das EU-Parlament ist die einzige Volksvertretung der Welt, die keine eigenen Gesetze vorschlagen darf. Wer sich mehr für den wenig demokratischen, dafür umso korrupteren Laden interessiert, dem sei Nico Semsrotts Buch “Brüssel sehen und sterben” empfohlen.