Christian Doleschal: Weniger Bürokratie durch die EU?
Weiden. Seit Jahrzehnten versprechen Politiker den Bürokratieabbau. Doch jeder Versuch hat meist zu mehr Regeln geführt. Die EU gilt den meisten Bürgern als das Bürokratie-Monster schlechthin. MdEP Christian Doleschal überrascht mit der These: „Eine Regel für 28 Länder führt zu weniger Bürokratie.“ Interviewserie zur Europa-Wahl (4): Lähmende Bürokratie.

Wer hat eigentlich die Bürokratie erfunden? Der große deutsche Soziologe Max Weber beschreibt in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1921/1922) die „legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab … bewusst gesetzten Regeln und auf Dauer eingerichtete Verwaltungen … mit hauptamtlichem, fachlich ausgebildetem Personal“ als Voraussetzung der modernen, leistungsfähigen Strukturen von Wirtschaft und Verwaltung.
Weil jeder sich Bürger, jeder Unternehmer auf die geltenden Regeln, die Gleichbehandlung, den Rechtsweg verlassen konnte, entwickelte sich in westlichen Demokratien anders als in totalitären Staaten eine florierende Marktwirtschaft. Ein Jahrhundert später müssen wir allerdings feststellen: Unsere Demokratie hat sich verändert – und mit ihr der Grad der Bürokratisierung.
Nicht nur der Amtsschimmel ist schuld
Daran ist zwar auch der berüchtigte Amtsschimmel schuld, aber zu einem nicht geringen Maß auch das gewachsene Anspruchsdenken aller Bürger, die in den vergangenen Jahrzehnten dafür sorgten, dass immer kompliziertere Gesetze immer mehr Lebensumstände regelten.
Diesen gordischen Knoten zu durchschneiden kann nur gelingen, wenn eine demokratische Mehrheit in diesem Land akzeptiert, dass man nicht alle Lebensrisiken gesetzlich regeln kann. Das wird schwer genug. Was aber muss die Politik dazu tun?
Herr Doleschal, besonders die EU wird von vielen Menschen als Bürokratiemonster wahrgenommen. Stimmt der Eindruck?
Christian Doleschal: Die Europa-Skeptiker stellen die EU immer als gewaltige Bürokratiemaschine dar. Überall dort, wo wir in Europa eine Regel für alle Länder haben, statt 28 Regeln für jedes einzelne Land, führt das aber im Ergebnis zu weniger Bürokratie.
Und trotzdem kommen EU-Politiker und Beamte immer wieder auf Ideen, die vielleicht gut gemeint sind, aber in der Ausführung für mehr Ärger als Nutzen sorgen – wie der Deckel an Plastikflaschen, der jetzt mit einer Lasche befestigt sein muss. Sorgt nicht für weniger Plastik, aber für mehr Aufwand. Was ist eigentlich aus Stoibers Entbürokratisierungs-Auftrag geworden – davon hat man nichts mehr gehört?
Doleschal: Edmund Stoiber hat 7000 Vorschriften gecancelt, darunter die Bananenverordnung – und dabei 41 Milliarden Euro eingespart, davon 18,4 Milliarden Euro Bürokratiekosten. Er hat durchgesetzt, dass die Unternehmen ihre 40 Milliarden Rechnungen im Jahr per E-Mail schicken können. Und er hat vor allem kleinere Unternehmen von lästiger Buchführung befreit.
Bürokratie fällt nicht vom Himmel und ist auch kein seltsames Hobby von EU-Bürokraten, sondern der Ausfluss wachsender Ansprüche der Gesellschaft an Mitspracherechten, Daten-, Umwelt- und Verbraucherschutz – einerseits beklagt die Politik vor Ort ausufernde Dokumentationspflichten und Hygienevorschriften, die kleine Metzger und Bäcker nicht mehr stemmen können. Andererseits ist der Aufschrei groß, wenn bei einem Fleischskandal nicht genau genug kontrolliert wurde.
Doleschal: Bürokratie ist die Summe an EU-Vorgaben, Bundes- und Landesgesetzen, Exekutivvorschriften, an denen nicht nur gewählte Abgeordnete, sondern Vertreter von Berufsgenossenschaften und Verbänden mitarbeiten. Die Zivilgerichtsbarkeit formt diese Gesetzgebung dann noch aus.
Zumindest bei der Verbandsklage, wenn ein Umweltverband aus NRW gegen ein Windrad in Störnstein klagt, hört mein Verständnis auf. Christian Doleschal
Finanzminister Albert Füracker hat recht: Die Gesellschaft muss kapieren, dass das Bedürfnis, alles regeln zu wollen, zur Lähmung führt. Es wäre besser, die Krankenschwester hätte mehr Zeit für den Patienten, anstatt zu dokumentieren, wie sie ihn betreut hat. Papier ist bekanntlich geduldig.
Mit anderen Worten: Die Dokumentationen sind nur Alibi, weil im Nachhinein kaum jemand kontrollieren kann, ob das auch stimmt, was behauptet wird?
Doleschal: Ein Beispiel: Seit man bei der griechischen EU-Abgeordneten Eva Kaili 500.000 Euro in der Wohnung gefunden hat, müssen wir alles offenlegen. Glauben Sie, dass jemand das künftig aufschreibt, wenn ihm einer 500.000 Euro zusteckt?
Der mit 90 Prozent wieder gewählte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordert, die EU soll sich auf die großen Linien beschränken, statt alles auch noch im Detail regeln zu wollen …
Doleschal: Das sehe ich genauso. Auch das Lieferkettengesetz ist falsch eingefädelt. EU-Kommission und linke Parteien kommen mit dem Zeigefinger und sagen, der Mittelständler soll gewährleisten, dass in der ganzen Lieferkette alle Menschenrechte und Umweltgesetze eingehalten werden. Wie soll das gehen?
Wie soll der Unternehmer in Störnstein kontrollieren, was ein Zulieferer in Indien macht? Christian Doleschal
Das ist falsch aufgehängt, die Unternehmen dort müssen das gewährleisten, und die Behörden dort müssen das überprüfen. Wir müssen ein Zertifikat einführen, ich kann nicht die Haftung beim Mittelständler abladen.
Und diesen Zertifikaten, die von einer – sagen wir – Regionalregierung in Bangladesch kontrolliert werden, sollen wir vertrauen?
Doleschal: Wir können durchsetzen, dass wir nur Handelsabkommen abschließen, wenn die wichtigsten Forderungen erfüllt sind.
Funktioniert das dann auch bei Fast Fashion, wo der Verbraucher eine Ahnung haben könnte, dass ein T-Shirt für einen Euro nicht vom Schneidermeister handgenäht wurde?
Doleschal: Ich finde es legitim, bei Importen einen Mindeststandard an Fairtrade und Nachhaltigkeit einzufordern.
Und wie fordern wir von Tech-Unternehmen wie TikTok ein, dass sie nicht im großen Stil Fake-News verbreiten und Hassnachrichten durch ihren Algorithmus begünstigen?
Doleschal: Das ist Teil einer demokratischen Auseinandersetzung. Wenn wir es nicht in den Griff bekommen, Fake-News zu löschen, die man klar identifiziert hat, bekommen wir keine politische Meinungsbildung auf Faktenbasis mehr zustande.
Weil die AfD mit Polemik, Hass und Wut Emotionen anspricht, ist sie gegenüber anderen Parteien klar im Vorteil. TikTok ist nicht das Medium, das auf sachliche Argumentation abfährt. Christian Doleschal
Dennoch dürfen wir den Populisten das Feld nicht überlassen. Ich finde den Ansatz von Söder da ganz erfrischend. Wir haben die Bratwurst-Videos zu Beginn zu sehr belächelt. Politiker müssen nahbar und ansprechbar sein. Dieses Bedürfnis müssen wir befriedigen. Deshalb nehme ich ein gemeinsames Video mit Söder für TikTok auf und beantworte Fragen. Mein Ziel: Nach Söder die Nummer 2 der CSU auf TikTok werden.
Wahlprogramm CDU/CSU zur Europawahl 2024
Bei der vergangenen Europawahl im Jahr 2019 hatten die Christlich Demokratische Union Deutschland (CDU) und die Christlich Soziale Union (CSU) erstmals ein gemeinsames Wahlprogramm für die Europawahl aufgestellt. Auch zur Europawahl 2024 haben die Parteien wieder zusammen ein Wahlprogramm erarbeitet, das sie einstimmig beschlossen und am 11. März 2024 der Öffentlichkeit präsentiert haben. CDU-Parteichef Friedrich Merz und CSU-Parteichef Söder betonten die Geschlossenheit der Union.
- „Union pur“: Das Wahlprogramm sei „Union pur“ und ein klares Angebot an die politische Mitte, aber auch für „Mitte-bürgerlich, konservativ, rechts“, so Söder: „Wir wollen ein bürgerlich-konservatives Europa.“
- Sicherheit: CDU und CSU setzen ihren Fokus im Europawahlkampf auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung. Sie plädieren für eine massive Aufrüstung der Europäischen Union, inklusive Flugzeugträger und eigenem Raketenschirm. Zudem fordern sie einen eigenen EU-Verteidigungskommissar. Da sich die Sicherheitslage in Europa in den vergangenen Jahren insbesondere durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fundamental verändert habe, müsse für Europas Sicherheit und Wehrhaftigkeit deutlich mehr getan werden.
- Gegen Verbrenner-Aus: Außerdem drängen die beiden Parteien darauf, das umstrittene Verbrenner-Aus ab 2035 rückgängig zu machen. Die deutsche Spitzentechnologie des Verbrennungsmotors sollte erhalten und technologieoffen weiterentwickelt werden, heißt es im Wahlprogramm.
- Für Emissionshandel (ETS): Merz verteidigte ein Kernstück des Green Deal der EU, den europäischen Emissionshandel (ETS), gegen Kritik, dass dieser die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien weiter verschlechtern werde. „Wir sehen es umgekehrt. Wir sehen es als eine Chance an, wettbewerbsfähige Produkte auf der Basis von Klimaneutralität zu entwickeln“, sagte er.
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