Dexit? „Für die Oberpfalz wäre ein EU-Austritt katastrophal“
Weiden. Die Unzufriedenheit mit dem politischen System wächst. Populistische Parteien befeuern die Erosion der parlamentarischen Demokratie. Aber es gibt auch Gründe für den wachsenden Unmut: Der Investitionsstau ist gewaltig. Interviewserie mit MdEP Christian Doleschal (CSU) zur Europa-Wahl (3): Demokratie am Scheideweg.
Deutschland ist noch immer ein reiches Land – mit Bayern an der Spitze. Gerade die Oberpfalz hat seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wirtschaftlich enorm zugelegt. Gleichzeitig gibt es hausgemachte Probleme. Schon die diversen Großen Koalitionen haben es in einer langen Phase des Niedrigzins versäumt, das Land fit für die Zukunft zu machen.
Infrastruktur, E-Mobilität, Energiewende – wohin man blickt, eine Baustelle ohne klare Terminsetzung. Marode Schulen, eine Krankenhauslandschaft am Rande der Zahlungsunfähigkeit, fehlende Wohnungen. In den Innenstädten verschwinden Kaufhäuser, weil sie kein Rezept gegen die gnadenlose Konkurrenz mit den US-Tech-Konzernen finden. Und die Schere zwischen Milliardären und einem Mittelstand unter Druck wird immer größer.
Der Oberpfälzer Europa-Abgeordnete Christian Doleschal (CSU) weiß: Ein Grund für die Unzufriedenheit mindestens mit den politischen Akteuren, zum Teil sogar mit dem politischen System, ist der Vertrauensverlust in die Lösungskompetenz der Politik.
Herr Doleschal, wie wollen Sie das ändern?
Doleschal: Zunächst einmal müssen wir den Menschen reinen Wein einschenken. Ob in der Landwirtschaft oder in den Innenstädten, unsere Lebenswelt hat sich verändert.
Wir können das Einkaufsverhalten der Menschen, die lieber bei Amazon bestellen, wo sie eine optimale Auswahl und einen Preisvergleich haben, als im Kaufhaus, nicht zurückdrehen. Christian Doleschal
Und wir werden zwar unsere Landwirte für ihre großartigen Leistungen im Bereich Landschaftspflege, Erhalt der Kulturlandschaft, beim Umwelt- und Artenschutz unterstützen, aber nicht in allen Bereichen bedingungslos bezuschussen können. Im Moment aber liegt der Ball klar in der Hälfte der Bundesregierung, die für die großen Linien die Verantwortung trägt. Das Einzige, was sie aber wirklich geliefert hat, ist ein Gleichstellungs- und ein Cannabisgesetz.
Man muss die Ampel nicht mögen, aber ist es vor dem Hintergrund multipler Krisen nicht ein wenig zu schlichte Parteipolemik, die – durch die schwierige Dreierkonstellation zusätzlich erschwerte – Regierungspolitik darauf zu reduzieren?
Doleschal: Es ist die Aufgabe der Opposition, auf Fehler hinzuweisen.
Klar, man muss dann aber in Regierungsverantwortung selber liefern. Glauben Sie, dass angesichts des gewaltigen Investitionsstaus bei Infrastruktur oder Bildung eine Unions-geführte Regierung ohne Aussetzung der Schuldenbremse auskommt?
Doleschal: Die Aussetzung der Schuldenbremse wäre das Öffnen der Büchse der Pandora. Die Zinszahlungen sind schon jetzt auf 40 Milliarden Euro hochgeschnellt. Natürlich ist der Haushalt an vielen Stellen bereits gebunden. Deswegen wird es Abstriche beim Bürgergeld und bei Flüchtlingen geben müssen – und vor allem müssen wir die Wirtschaft zum Laufen bringen. Ich halte in unserer demografischen Situation nichts davon, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und den Geldhahn aufzudrehen.
Glauben Sie, dass Kürzungen im Sozialhaushalt zu mehr Akzeptanz führen werden?
Doleschal: Ich denke, dass die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung es schon honoriert, wenn diejenigen, die mehr arbeiten, spürbar mehr im Geldbeutel haben. Ich finde auch, dass der Überstundenvorschlag von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in die richtige Richtung geht.
Man hat bei dieser Diskussion aber immer den Eindruck, als seien gerade die sozial Schwächsten die größten Prasser. In Wirklichkeit ist die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgegangen, schaffen es die großen Tech-Konzerne, kaum Steuern zu zahlen – das passt nicht so ganz zu dieser Gerechtigkeitsphilosophie …
Doleschal: Natürlich darf es nicht sein, dass wir die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen. Der größte Skandal der vergangenen Wochen war doch, dass die leitende Staatsanwältin bei den Cum-Ex-Ermittlungen hinschmeißt, weil dieser Betrug nicht wirklich aufgearbeitet wird.
Um Gerechtigkeit herzustellen, müssen wir den größten Lumpen mit aller Wucht auf die Finger hauen. Christian Doleschal
Aber außer in der „Heute Show“ war das Thema seltsam unterbelichtet. Man hat den Eindruck, alle ducken sich weg.
Reden wir über Europa: Die Briten haben mit knapper Mehrheit für den Brexit gestimmt, weil ihnen versprochen wurde, dass alles besser wird, wenn man nur die volle nationale Souveränität zurückerhält. Die AfD wünscht sich nach diesem Modell den Dexit. Welche Folgen hätte das für Deutschland?
Doleschal: Der Wohlstandsverlust durch den Brexit wird inzwischen auf 140 Milliarden Euro geschätzt. Dabei ist Großbritannien keine Industrienation wie wir, die auf Export angewiesen ist. Für Deutschland als Land im Herzen Europas, mit zahllosen Außengrenzen, mit Transitverkehr und dringend benötigten Pendlern aus Nachbarstaaten, wäre ein Austritt noch katastrophaler. Wir bekamen während der Pandemie einen Vorgeschmack, was es bedeutet, wenn die Grenzen auch nur für begrenzte Zeit dicht sind.
Gerade unsere Oberpfälzer Firmen beschäftigen bis zu 10 Prozent Arbeitskräfte aus Tschechien. Mit dem Dexit spielt man nicht! Christian Doleschal
Der Brexit trifft auch Oberpfälzer Unternehmen, die gute Geschäfte mit den Briten gemacht hatten. Jetzt merken immer mehr Briten die Folgen dieser Entscheidung. Fachpersonal wurde abgezogen, der Brexit ist die größte Wohlstandsvernichtung der jüngeren Geschichte. Immer mehr Briten würden ihn am liebsten rückgängig machen.
Wer wie wir seit 1989 im deutsch-tschechischen Austausch aktiv ist, wundert sich ein wenig, dass nach 35 Jahren in Sonntagsreden immer noch davon gesprochen wird, dass man die bayerisch-böhmischen Beziehungen mit Leben erfüllen müsse, dass man bedaure, nicht oder kaum Tschechisch zu sprechen – von einer gemeinsamen Region wie an der deutsch-französischen Grenze ist man noch immer weit entfernt.
Doleschal: Wirtschaftlich sind wir schon zusammengewachsen. Tausende tschechische Arbeitnehmer pendeln jeden Tag zu unseren Unternehmen. Umgekehrt haben viele Oberpfälzer Unternehmen Niederlassungen in Tschechien. Aber richtig ist auch, dass es im zwischenmenschlichen Bereich, auf der Ebene der Kommunen und Vereine noch Luft nach oben gibt.
Wir wollen deshalb sogenannte Europäische Verbunde für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), ein ähnliches Konzept wie der Kommunale Zweckverband, ausgestattet mit Europäischen Mitteln, mit einem gemeinsamen Beirat. Christian Doleschal
Der kann dann beispielsweise eigenständig entscheiden, die Kosten für tschechische Kinder im Schirndinger Kindergarten zu übernehmen. Außerdem brauchen wir endlich einen vernünftigen ÖPNV zwischen Waldsassen und Cheb. Tschechien ist da viel weiter, sowohl beim Zug als auch beim Bus. In puncto kultureller Zusammenarbeit haben die wenigsten Oberpfälzer bisher mitbekommen, dass in Karlsbad das größte Filmfestival Mitteleuropas stattfindet. Wir wollen eine nachhaltige Ausstattung gemeinsamer bayerisch-tschechischer Projekte, damit nicht, wie bei den Interreg-Projekten, nach drei Jahren die Finanzierungsfrage wieder offen ist. Dafür fordern wir eine Grenzland-Milliarde.
Wahlprogramm CDU/CSU zur Europawahl 2024
Bei der vergangenen Europawahl im Jahr 2019 hatten die Christlich Demokratische Union Deutschland (CDU) und die Christlich Soziale Union (CSU) erstmals ein gemeinsames Wahlprogramm für die Europawahl aufgestellt. Auch zur Europawahl 2024 haben die Parteien wieder zusammen ein Wahlprogramm erarbeitet, das sie einstimmig beschlossen und am 11. März 2024 der Öffentlichkeit präsentiert haben. CDU-Parteichef Friedrich Merz und CSU-Parteichef Söder betonten die Geschlossenheit der Union.
- „Union pur“: Das Wahlprogramm sei „Union pur“ und ein klares Angebot an die politische Mitte, aber auch für „Mitte-bürgerlich, konservativ, rechts“, so Söder: „Wir wollen ein bürgerlich-konservatives Europa.“
- Sicherheit: CDU und CSU setzen ihren Fokus im Europawahlkampf auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung. Sie plädieren für eine massive Aufrüstung der Europäischen Union, inklusive Flugzeugträger und eigenem Raketenschirm. Zudem fordern sie einen eigenen EU-Verteidigungskommissar. Da sich die Sicherheitslage in Europa in den vergangenen Jahren insbesondere durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fundamental verändert habe, müsse für Europas Sicherheit und Wehrhaftigkeit deutlich mehr getan werden.
- Gegen Verbrenner-Aus: Außerdem drängen die beiden Parteien darauf, das umstrittene Verbrenner-Aus ab 2035 rückgängig zu machen. Die deutsche Spitzentechnologie des Verbrennungsmotors sollte erhalten und technologieoffen weiterentwickelt werden, heißt es im Wahlprogramm.
- Für Emissionshandel (ETS): Merz verteidigte ein Kernstück des Green Deal der EU, den europäischen Emissionshandel (ETS), gegen Kritik, dass dieser die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien weiter verschlechtern werde. „Wir sehen es umgekehrt. Wir sehen es als eine Chance an, wettbewerbsfähige Produkte auf der Basis von Klimaneutralität zu entwickeln“, sagte er.
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