„Die Mannschaft“ ist zurück: Nach Tor-Gala ein Gedicht gegen Ungarn

Stuttgart. Bern 1954, Außenseiter Deutschland trifft im Finale auf die Goldene Mannschaft aus Ungarn. Der Torschrei nach Rahns 3:2 ist die Fanfare zum deutschen Wirtschaftswunder. Das Gedicht „Nach der Niederlage“ verarbeitet Ungarns Trauma. 70 Jahre später guckt nach dem deutschen Sieg Viktor Orbán bedröppelt aus der Wäsche.

Die Stimmung von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán (oben Mitte) in der Stuttgarter Arena verfinstert sich. Foto: Andrea Buhl

Die WM 1954 ist für viele Deutsche mehr als nur Fußball. Endlich wieder gelitten im Konzert der Nationen, die das Nazi-Regime noch vor einem Jahrzehnt in einem blutigen Krieg bekämpfte. Und dann schafft der Außenseiter und vormalige Paria auch noch die Sensation.

Das hungrige Nachkriegsdeutschland trifft auf die Goldene Mannschaft aus Ungarn. Im Gruppenspiel zerlegen die Magyaren eine deutsche B-Elf mit 8:3. Sepp Herbergers Finte? Im Finale dann das ungarische Trauma, das der große ungarische Dichter Lőrinc Szabó mit dem vom KP-Regime verbotenen Gedicht „Nach der Niederlage“ verarbeitet.

Ungarns Goldene Elf (1953) hinten: Gyula Lóránt, Jenő Buzánszky, Nándor Hidegkuti, Sándor Kocsis, József Zakariás, Zoltán Czibor, József Bozsik, László Budai vorn: Mihály Lantos, Ferenc Puskás, Gyula Grosics. Foto: Tibor Erky-Nagy

Das berauschte Land fliegt mir um die Nase,
und der kämpfenden Elf in Bern. […]
Neun Millionen von zehn leiden.
Pass auf, Herz, wie es landet, wo es landet,
der Ball. […] Weg bist du, weg bist du,
sicherer Sieg, in einer Minute! Lőrinc Szabó (1900–1957)

Einer der wichtigsten ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts verfasste am 12. August 1954 das epische Gedicht „Nach der Niederlage“, aus dem wir nur diese paar holprig übersetzten Zeilen abdrucken. Zeitzeugen dafür, wie sehr die Niederlage auf dem grünen Rasen eine Nation in eine tiefe Depression stürzen kann.

Das genaue Gegenteil in Deutschland: „Wir sind wieder wer“, ist das kollektiv berauschende Gefühl nach dem ersten WM-Titel. Der sportliche Triumph korrespondiert mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der jungen Bundesrepublik. Auftakt zu einem fröhlichen, wenn auch geschichtsvergessenen Jahrzehnt. Wie anders klingen da die Kalauer des Nationalkomikers Heinz Erhardt:

Vierundvierzig Beine rasen
durch die Gegend ohne Ziel,
und weil sie so rasen müssen,
nennt man das ein Rasenspiel. Heinz Erhardt

Selfie mit Orbán

70 Jahre später könnte die Ausgangslage nicht unterschiedlicher sein. Ungarns goldene Generation liegt längst unter der Erde. Immerhin, in der Fifa-Weltrangliste belegen die Magyaren Rang 26 – auch nur zehn Plätze hinter Deutschland, dem vierfachen Weltmeister, der in den vergangenen Jahren Federn lassen musste. Die unbequemen Ungarn wollen nach oben, die Deutschen zurück in die Spitzengruppe.

Auf der Tribüne gönnen sich Ungarns Premier Viktor Orbán und AfD-Chef Timo Chrupalla ein Selfie der politischen Verbundenheit. Zu gern würden die beiden Liebhaber eines autoritären Führungsstils der rosaroten deutschen Vielfalt auf dem Platz die fußballerischen Schengen-Grenzen aufzeigen. Wenn schon Putins Russland nicht mitspielen darf.

Blaues Herz und braune Seele: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und AFD-Chef Tino Chrupalla. Foto: Selfish

Der alte Neuer ist zurück

Schon in der ersten Minute der erste Schreckmoment für das deutsche Multikulti: Ballverlust İlkay Gündoğan, ausgerechnet, Joshua Kimmich kommt zu spät – aber der wiedererstarkte Riese Manuel Neuer ist um eine Schuhgröße schneller am Ball als Andras Schäfer. Das erwartet komplizierte Match gegen umschaltschnelle Ungarn.

Doch die berauschende Elf von der Schotten-Party legt den Schlendrian schnell ab. Die Nagelsmänner nageln den Herausforderer zunehmend am eigenen Strafraum fest. Kai Havertz düpiert Orbán: nicht den auf der Tribüne, sondern Willi, den Innenverteidiger von RB Leipzig. Am Fünfer will der die Kugel mit dem Rücken zum Arsenal-Stürmer blocken, Havertz drängelt sich vorbei, Keeper Péter Gulácsi bekommt gerade noch die Faust hoch (11.).

Mit Schub zur Führung

Die Schlüsselszene der ersten Halbzeit: Flo Wirtz und Jamal Musiala dribbeln sich in den Strafraum, der Ball eigentlich schon weg, Gündoğan schiebt an, Orban kommt ins Straucheln, der deutsche Kapitän klaut sich die Kugel, spitzelt zurück zu Musiala, der abzieht – die Kugel springt von Attila Fiolas Oberschenkel an die Unterlatte und ins Netz, 1:0 (22.).

Vor der Pause fast die kalte Dusche: Liverpools Dominik Szoboszlai schlägt eine gefährliche Freistoßflanke nach innen, Orban verlängert Richtung langes Eck, Neuer pariert zur Seite – wo Roland Sallai lauert und mit Köpfchen einnetzt. Der Schreck sitzt in den Gliedern, der Blick geht Richtung Linienrichter, das Fähnchen zeigt nach oben, kurzer Check, Erleichterung.

Die EM 2024 als Grillparty. Foto: jrh

Deutsche Reifeprobe

Bis zur Vorentscheidung lassen sich die deutschen Feinmotoriker bis zur 67. Minute Zeit: Antonio Rüdigers Querpass leitet den Spielzug ein, wer anders als Toni Kroos vergoldet ihn mit dem raumgewinnenden Pass auf Musiala, der links raus zum durchgelaufenen Maxi Mittelstädt – klasse quergelegt auf Gündoğan, der mit links ins rechte untere Eck zum 2:0 einnetzt. Und wieder ist der deutsche Kapitän an allen Toren beteiligt.

Nach dem Schlusspfiff steht fest: Es war das erwartet komplizierte Spiel, aber Kreativität hat die Nase vorne. Deutschland steht im Achtelfinale. Nach dem mageren 1:1 der Schweizer gegen tapfer kämpfende Schotten reicht der Heim-Elf jetzt sogar ein Remis zum Gruppensieg. Anders als bei der mitreißenden Auftaktgala muss die deutsche Auswahl einige kritische Momente überstehen – und mit ihnen ihre Reifeprobe.

Rückkehr von „Die Mannschaft“

Weil die Ungarn jederzeit zu gefährlichen Kontern in der Lage sind, wirkt das deutsche Spiel nicht ganz so dominant wie gegen chancenlose Schotten, die keinen – in Zahlen 0 – Schüsse aufs deutsche Tor abgaben. Dennoch kontrollieren Kroos und Gündoğan das Geschehen über weite Strecken und setzt Musiala seine Glanzpunkte.

Das Torfestival bleibt aus, aber ein überragender Neuer und eine stabile Innenverteidigung lassen wenig zu: Beispielhaft Neuers doppelfäustiger Flug zum Lattenkreuz nach Szoboszlai-Freistoß (26.), Jonathan Tahs Grätsche vor Szoboszlai-Schuss (29.) – alle für einen, einer für alle, die Jungs merzen die Fehler des jeweils anderen aus und manifestieren die Rückkehr von „Die Mannschaft“.

Bilder einer Reifeprüfung: Deutschland jubelt über den zweiten Gruppensieg gegen Ungarn. Collage: jrh/dpa

Ungarns Trainer in Rage

Nach Abpfiff ätzt Ungarns Nationaltrainer Marco Rossi gegen Schiri Danny Makkelie! Kurios: Vor dem Spiel lästerten deutsche Spieler über die angebliche Arroganz des Niederländers. Stein des Anstoßes: das vermeintliche Foul von Käpt’n İlkay Gündoğan vor dem 1:0.

Auf der Pressekonferenz erklärt er: „Er ließ einen Schubser gegen Orban zu und pfiff in einer ähnlichen Situation gegen Andrich Foul.“ Der Einsatz von Gündoğan wird vom VAR überprüft, das Tor zählt.

Rossi nölt weiter: „Ich habe mich in meiner Karriere nie beschwert oder nach Ausreden gesucht, aber was der Schiedsrichter heute Abend gemacht hat … komm schon. Sogar die Deutschen hier können sehen, dass der Schiedsrichter mit zweierlei Maß gemessen hat.“

Rossi, seit 2018 im Amt, räumt ein: „Deutschland ist vielleicht der Favorit auf den EM-Titel, aber sie benötigen keine Hilfe vom Schiedsrichter, um die EM zu gewinnen.“ Immerhin. Ein verkapptes Kompliment. „Mal sehen, wenn Deutschland beispielsweise gegen Frankreich spielt, ob es dafür ein Foul gibt.“

Gündoğan sieht’s gelassen: „In der Premier League, wo ich sieben Jahre lang gespielt habe, hätten die Leute über diese Szene gelacht.“

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