Ein Leben wie im Löwenkäfig: Landgericht Weiden entscheidet über Psychiatrie-Patient

Weiden/Wöllershof. Die 1. große Strafkammer entscheidet über das weitere Schicksal eines Psychiatriepatienten (41). Die Staatsanwaltschaft hat seine unbefristete Unterbringung beantragt. In der Verhandlung wird die Tragik des Falls deutlich.

Landgericht Weiden
Verhandlung ohne die Hauptperson. Die 1. große Strafkammer mit den Berufsrichtern Franziska Kleber, Peter Werner und Vera Höcht entscheidet mit zwei Schöffinnen über die Zukunft des 41-jährigen Psychiatrie-Patienten. Im Gerichtssaal: Gutachter Prof. Joachim Nitschke und Verteidiger Marc Steinsdörfer (von links). Foto: Christine Ascherl

Die Strafkammer verhandelt in großer Besetzung mit den Richtern Peter Werner, Vera Höcht, Franziska Kleber und zwei Schöffinnen. Trotzdem ist es im Schwurgerichtssaal sehr leer: Der Beschuldigte nimmt auf gerichtlichen Beschluss nicht an der Verhandlung teil. Er wird vertreten von Rechtsanwalt Dr. Marc Steinsdörfer.

Patient klagte bis vor Gerichtshof für Menschenrechte

Bisher blieb sein Schicksal vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Seit 21 Jahren befindet sich ein 41-jähriger Mann in der geschlossenen Psychiatrie (siehe Infobox). Seit sieben Jahren lebt er in einem speziell gesicherten Bau auf dem Gelände des Bezirkskrankenhauses Wöllershof. Er selbst will das nicht. Er klagte 2014 bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf seine Entlassung. Ohne Erfolg.

Sein Fall kommt jetzt ans Licht, weil es in der zivilrechtlichen Unterbringung zu Straftaten gekommen ist. Die Staatsanwaltschaft Weiden will den 41-Jährigen unbefristet in der Forensik wissen. Nach Paragraf 63, dem „schärfsten Schwert“ des Strafgesetzbuches. Die Voraussetzungen sind erfüllt, so Staatsanwalt Andreas Falk in seinem Antrag: Weitere erhebliche Taten seien zu erwarten; der 41-Jährige sei für die Allgemeinheit gefährlich.

Niemand betritt ungesichert die Räume

Er lebt wie ein Tier, anders kann man nicht zusammenfassen, was Polizeibeamte im Zeugenstand schildern. Klar wird aber auch: Die Medbo (Medizinischen Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz) haben für den 41-Jährigen eine maßgeschneiderte Unterkunft geschaffen, so menschlich wie möglich. Der Spezialpatient hat zwei besonders gesicherte Zimmer zur Verfügung, dazu einen eigenen Gartenanteil, umgeben von fünf Meter hohen Zäunen.

Die Zimmer – ein Schlafraum und ein Aufenthaltsraum mit bruchsicherem Fernseh-Monitor – sind durch eine Tür verbunden, die per Fernsteuerung geschlossen werden kann. Das dient als eine Art Sicherheitsschleuse. Beispiel Frühstück: Wird im Aufenthaltsraum das Frühstück bereitgestellt, muss der 41-Jährige so lange im Schlafraum warten. In seiner Anwesenheit aufdecken? „Um Gottes willen!“, sagt ein Security-Mann vor Gericht: „Es muss immer zugesperrt sein.“

Mit Kugelschreibermine attackiert

Sie haben alle so ihre Erfahrungen mit dem 41-Jährigen gemacht. Der Security-Mann (69) hat ihn schon “sehr freundlich” erlebt. Aber eben auch komplett außer sich, spuckend und schreiend. „Er kann von einer Sekunde auf die andere anders sein.“

Im Juni 2023 griff ihn der Patient mit einer Kugelschreibermine an. Der 41-Jährige hatte per Klingel um ein Glas Wasser gebeten. Das reichte ihm der Mitarbeiter durch eine etwa 25 mal 25 Zentimeter große Kostklappe, eingebaut in der Tür. Als es zehn Minuten später wieder klingelte, dachte er, etwas vergessen zu haben und öffnete arglos noch einmal die Durchreiche. Die Hand des Patienten schnellte heraus, bewaffnet mit einer Kugelschreibermine. Die Mine durchstach den Kiefer des 69-Jährigen. Die Feder musste in der Uniklinik Regensburg herausoperiert werden. Der Sicherheitsmann wird von seiner Firma inzwischen woanders eingesetzt. “Auf eigenen Wunsch.”

Polizei kommt mit sechs Beamten zur Monatsspritze

Von Berufs wegen müssen sich Polizeibeamte aus Neustadt/WN regelmäßig in die „Höhle des Löwen“ begeben. Der Patient will nicht in der Psychiatrie sein – und er will seine Medikamente nicht. Etwa alle vier Wochen verabreicht ihm der Arzt eine Depotspritze. Dazu wird immer die Polizei gerufen. Erst galt die Regelung, dass man zu viert in das Patientenzimmer eindringt. Als “sich die Vorfälle häuften”, stockte man auf sechs Polizisten auf, berichtet ein Polizist.

Manchmal läuft der Einsatz völlig unspektakulär. Dann liegt der 41-Jährige schon auf seinem Bett bereit. Manchmal eben auch nicht. „Er ist absolut unberechenbar“, sagt ein Polizist im Zeugenstand. „Man weiß überhaupt nicht, was passiert, wenn man reingeht.“

An diesem Tag hatte sich der Patient mit einem Kunststoffmesser in seiner Nasszelle verbarrikadiert. Ein Beamter ging mit Schutzschild und Helm voraus. Die anderen Drei schoben hinterher. Ziel sei es, den Patienten an die Wand zu drücken und an den Extremitäten zu packen. „Wir haben das schon öfter geschult.“ Der 41-Jährige stach mit dem Kunststoffmesser auf das Schild ein, dass es zersplitterte. „Ich war erstaunt über die Schnelligkeit.“ Die Vier rangen ihn nieder. “Man schnappt sich irgendeine Extremität”, beschreibt es sein Kollege.

Strompfeile mit Widerhaken abgeschossen

„Blitzschnell“: So beschreibt auch ein Beamter aus Weiden einen weiteren Angriff im Juni 2023. Damals war der Einsatzzug der PI Weiden von den Neustädter Kollegen hinzugerufen worden. „Es kam die Mitteilung über einen Ausbruchsversuch.“ Der Patient hatte ein Fenster beschädigt. Die Klinik wollte zur Überprüfung einen Techniker in den Raum schicken.  

Der Aufenthaltsraum ist durch eine Sicherheitsglas-Scheibe einsehbar, der Schlafraum nur über die Videoüberwachung. Die Polizei sah den 41-Jährigen auf und ab gehen. Die Möbel waren verschoben. „Viel ist ja nicht drin: ein Bett, eine Matratze.“ Auf dem Boden lag ein spitzes Plastikteil bereit, von dem man nicht wusste, was es war. Die Polizei stellte sich mit Schutzschilden an der Tür auf. „Wir haben die Tür geöffnet. Das hat keine Sekunde gedauert und er ist Vollgas auf uns losgesprintet.“

Der Polizist löste den “Taser” aus, in diesem Fall ein DIK (Distanz-Elektroimplusgerät). Das DIK sieht aus wie eine Pistole mit viel Plastik drumherum. Pfeile mit Widerhaken werden abgeschossen. Die Pfeile sind mit Kabeln verbunden, die dann für fünf Sekunden Stromfluss sorgen. „Er ist erstarrt und umgefallen“, beschreibt eine Polizistin. Das DIK schießt auf eine Entfernung von bis zu sieben Metern. Die Widerhaken müssen von einem Arzt entfernt werden.

Fortsetzung am Dienstag

Psychiatrischer Sachverständiger ist Prof. Joachim Nitschke. Er wird am Dienstag, 20. Mai, sein Gutachten erstatten, dann fällt die Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft hatte im Vorfeld ins Spiel gebracht, dass der 41-Jährige auch bei einer strafrechtlichen Unterbringung in seinem Spezialbau auf dem BKH-Gelände in Wöllershof bleiben könne, wenn dieser zur Forensik quasi “umdeklariert” würde. Die Unterbringung nach Paragraf 63 ist lebenslang möglich.

Seit 21 Jahren in der Psychiatrie

Seit 21 Jahren befindet sich der Mann zwangsweise in der Psychiatrie. Mit 16 Jahren kassierte er eine Jugendstrafe, unter anderem wegen Körperverletzung und Widerstand. 2004 verurteilte ihn ein Jugendgericht in Regensburg zu Haft, ordnete aber parallel die Unterbringung in der Psychiatrie an. Der inzwischen 41-Jährige hatte zwei Schaffner bei einer Fahrkartenkontrolle geschlagen, einen Zellengenossen mit dem Messer verletzt und eine Staatsanwältin bedroht.

Seither hat er die Psychiatrie nicht mehr verlassen. 2005, 2006, 2007 und 2009 hatten psychiatrische Gutachter eine Entlassung geprüft und abgelehnt. Sie kamen alle zum Ergebnis, dass nach wie vor mit schweren Straftaten zu rechnen sei. Der Patient klagte gegen seine Zwangseinweisung – durch alle Instanzen. Das Verfahren ging bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der die Klage 2014 abwies.

Die Diagnose lautete zunächst auf eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, später gingen die Psychiater von Schizophrenie aus. Größtes Hindernis für eine Entlassung war immer mangelnde Einsicht. Der Patient lehnt jede Behandlung ab. Sein Zustand verschlechterte sich mit den Jahren immer weiter. Als er aus der Forensik entlassen wurde, folgte die Einweisung auf Basis des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Nur: Wohin mit ihm?

2018 zog der Mann in Wöllershof ein. Der Bezirk schuf für ihn eine Bleibe im neuen “Haus 11”, einem psychiatrischen Pflegeheim für 22 chronisch kranke Menschen. Die medbo (medizinischen Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz) informierten damals über die Entstehung dieses hoch spezialisierten Pflegeplatzes, soweit es der Datenschutz zuließ. Es gab auch eine Bürgerversammlung, nachdem die hohen Zäune für Unruhe gesorgt hatten. Wichtigste Botschaft: Für die Bevölkerung geht keine Gefahr aus.

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1 Kommentare

Walter Neuschitzer - 15.05.2025

Es ist eine wesentliche Aufgabe der Psychiatrie, die Geisteskranken sicher zu verwahren. Das trifft hier deutlich zu. Die Situation ist aber vielleicht verschlimmert worden. Einige Psychopharmaka steigern die Neigung zu Mord (und Selbstmord).