EM dahoam: Fülle köpft Nagelsmann gegen die Schweiz Käselaib vom Herzen
Frankfurt. Bei der EM-Premiere gegen die Schweiz rumpelt sich die deutsche Mannschaft in letzter Minute zum Gruppensieg. Der stumpfe Frankfurter Hybrid-Rasen bremst das deutsche Kombinationsspiel. Edel-Joker Niclas Füllkrug köpft in der Nachspielzeit den Ausgleich.
Die Eidgenossen sind mit 55 Duellen nicht nur Rekordgegner der deutschen Mannschaft – sie waren am 5. April 1908 auch der erste Prüfstein (siehe Infokasten) der noch unerfahrenen teutonischen Balltreter. Und wie vor 116 Jahren hätten die Schweizer auch im aktuellen Match fast gesiegt.
Der Jubel von Bundestrainer Julian Nagelsmann nach Niclas Füllkrugs Ausgleich in der zweiten Minute der vierminütigen Nachspielzeit spricht Bände. Dem Hoffnungsträger fällt nach dem wuchtigen Kopfball ein ganzer Käselaib vom Herzen. Anstatt des zu erwartenden Shitstorms nach einem partiellen Rückfall in alte Muster korrigiert der späte Treffer eine überschaubare Leistung und sichert den Gruppensieg.
Vor 47.000 Zuschauern beginnt die unveränderte deutsche Startelf zwar gewohnt beherzt – bis zum aberkannten Führungstreffer von Robert Andrich (17.). Gefühlte Minuten nach dem von Ex-Bayern-Keeper Yann Sommer ins Netz geklatschten Fernschuss dreht der inkonsequente italienische Schiri Daniele Orsato wegen eines leichten Remplers Jamal Musialas zuvor im Strafraum die Anzeigentafel von 1 auf 0 zurück.
Fahrige Abwehr lädt ein
Stattdessen lässt sich die deutsche Mannschaft immer wieder vom forschen Pressing der Schweizer überraschen. Nach Musialas Ballverlust schickt Fabian Rieder Sturmkollegen Remo Freuler links in den Strafraum, halbhoher Pass an den ersten Pfosten, Dan Ndoye, der um eine Haarspitze nicht im Abseits steht, bekommt die Fußspitze vor Jonathan Tah an die Kugel und hievt sie aus fünf Metern unter die Latte, 1:0 (28.).
Anschließend ist das zuvor so passsichere deutsche Team spürbar von der Rolle. Fehler in allen Mannschaftsteilen sorgen für weitere Atemaussetzer auf der Tribüne: Der extrem fahrige Antonio Rüdiger begleitet den Torschützen Ndoye, ohne einzugreifen, dessen Abschluss von halblinks aus rund 16 Metern zischt um einen halben Meter am rechten Pfosten vorbei (31.).
Fehler machen Schweizer stark
Mit anderen Worten: Die ungewohnten Fehler im Spielaufbau machen die braven Eidgenossen gefährlicher als sie das bei ihrem biederen 1:1 gegen die Schotten zeigen konnten. Dazu kommt: Der nach einem Event eigentlich austauschreife, stumpfe Frankfurter Hybridrasen erschwert das in den ersten Spielen so präzise Kombinationsspiel. Die Deutschen haben zwar öfter den Ball, aber zwingend ist kaum etwas, was Toni Kroos, İlkay Gündoğan, Kay Havertz oder Florian Wirtz offensiv versuchen.
Nach zwei Wechseln nach einer Stunde – Tah sieht nach dummem Bocksprung die zweite Gelbe Karte – versuchen die Deutschen über Nico Schlotterbeck und David Raum (für Maximilian Mittelstädt), Maximilian Bayer (für Andrich) sowie Mitte der zweiten Halbzeit Leroy Sané (für Musiala) und Niclas Füllkrug (für Havertz) mehr Flanken über links ins Zentrum zu bringen.
Um eine Fußspitze am 0:2 vorbeigeschrammt
Statt des erhofften durchschlagenden Erfolgs mit gestärkter Offensive aber erst einmal beinahe der nächste Nackenschlag. Die Nati kontert die Abwehr wieder viel zu leicht aus, der ebenfalls eingewechselte Ruben Vargas taucht links frei vor dem fehlerlosen Manuel Neuer auf und netzt im rechten Toreck ein – die Fahne ist oben, Vargas um eine Fußspitze im Abseits (84.).
Also kommt es, wie es kommen musste: Fülle muss ran! Gündoğan verlagert auf Raum, endlich eine passgenaue Flanke in die Box, Sprungwunder Füllkrug steigt am höchsten und versenkt das Spielgerät mit breiter Stirn gegen Sommers Laufrichtung im linken Eck, 1:1 (90+2). Ein Aufatmen rasselt durch die Bankenstadt, die erste Heimblamage ist abgewendet.
Was macht Mut?
Der Turnierbaum sieht für Deutschland jetzt ein Achtelfinale am Samstag (21 Uhr/ZDF und MagentaTV) in Dortmund vor. Potenzielle Gegner sind England, Dänemark, Slowenien und Serbien – die Entscheidung darüber fällt am Dienstagabend beim Vorrundenfinale der Gruppe C. Im Erfolgsfall würde der weitere Weg der Nagelsmänner über Stuttgart und München bis ins erhoffte Endspiel in Berlin am 14. Juli führen. Auf die Schweiz warten am Samstag, 18 Uhr, Titelverteidiger Italien, Kroatien oder Albanien.
Was trotz des leichten Rückfalls in alte Muster Mut macht? Julian Nagelsmann hat immer daran geglaubt. Das sagen Menschen aus seinem Umfeld, die ihn gut kennen. Er sei sich von Beginn seines sportlichen Himmelfahrtskommandos an sicher gewesen, dass es der Sommer der deutschen Nationalmannschaft werden kann. Und sein Optimismus ist ansteckend. Auch Deutschlands Lebensversicherung Niclas Füllkrug ist sich sicher: „Wir sind bereit!“
War das unser Algerien-Moment?
Dieser Glaube hat sich in der ruckelnden Vorbereitung sehr, sehr spät auf das zweifelnde Publikum übertragen. Heftige Pleiten gegen Österreich und die Türkei waren nicht gerade eine Initialzündung für die Hoffnung auf ein deutsches Comeback. Allerdings gingen Klinsis Sommermärchen 2006 auch dramatische Pleiten voraus, an die sich im Nachhinein nur kaum mehr einer erinnern mag. Ganz zu schweigen vom Algerien-Moment bei der WM 2014, als die deutschen Helden beinahe vor dem Triumphmarsch gegen Brasilien aus dem Turnier gepurzelt wären.
Fußball wird eben immer von hinten erzählt, wie Fußball-Podcaster Tommi Schmitt in seiner sehenswerten Doku erzählt. Im besten aller Fälle ist dieses späte 1:1 gegen die Schweiz so ein Algerien-Moment für die Nagelsmänner – und danach kommen die brasilianischen Kabinettsstückchen. Gegen die starken Spanier, die im Viertelfinale den Weg kreuzen könnten, wäre allerdings so ein wunderbarer Sahnetag auch bitter nötig.
Rekordgegner Schweiz
Noch nie trat die deutsche Nationalmannschaft bei einer Europameisterschaft gegen die Schweiz an. Das letzte Duell bei einem großen Turnier datiert von 1966, bei der Weltmeisterschaft in England. Im ersten Gruppenspiel deklassierten Siegfried Held sowie Franz Beckenbauer und Helmut Haller mit je zwei Toren das Alpenland. Insgesamt trafen Deutsche und Schweizer 54-mal aufeinander – die Nati ist Rekordgegner des DFB.
Nicht nur der häufigste, auch der erste Gegner der Deutschen hieß Schweiz. Am 5. April 1908 verloren die noch unerfahrenen kaiserlichen Balltreter vor 5000 Zuschauern mit 3:5 gegen den reichen Nachbarn. Frauen erhielten zu ihrer Eintrittskarte eine Tafel Schokolade, Fritz Becker schoss das erste Tor in der deutschen Länderspielgeschichte.
Nicht gegen, aber in der Schweiz fand 1954 das legendäre Endspiel gegen Ungarn statt, in dem Helmut Rahn, Deutschland zum ersten Weltmeister-Titel schoss – im Berner Wankdorf-Stadion. Und es waren auch die Schweizer, die diese sportliche Renaissance der Deutschen überhaupt möglich machten. Sie legten vier Jahre zuvor beim Weltverband FIFA ein gutes Wort für die nach dem von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg ein. Den Antrag des Schweizer Fußball-Verbands, dass Deutschland wieder in die FIFA aufgenommen wird, wurde im September 1950 positiv beschieden.
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