EM dahoam: Kein Müller mehr, oder was?
Regensburg. Thomas Müller ist der Schelm des deutschen Fußballs. Schon beim ersten Länderspiel fiel er mehr durch die PK mit Maradona als durch Fußball auf. Er ist der Mann der unmöglichen Tore. Auch bei seinem 2:1 mit den Bayern Amateuren im Jahn-Stadion vor 16 Jahren. Jetzt hat es sich ausgemüllert.

Nach einer gewonnenen Weltmeisterschaft, einem Goldenen Schuh bei der WM 2010 und einem Silbernen bei der WM 2014, zwei Champions League-Titeln, zwei Klub-Weltmeisterschaften, zwei UEFA-Super-Cup-Siegen zieht Thomas Müller einen Schlussstrich unter das Thema Nationalmannschaft.
Zugegeben, bei Müllers erstem Live-Auftritt im Jahn-Stadion sprang das Genie des damals 19-Jährigen nicht unbedingt ins Auge. Der SSV Jahn kontrollierte das Spiel gegen die kleinen Bayern im April 2009 über weite Strecken. Vom langen Schlaks war da wenig zu sehen.
Markus Weinzierls Drittliga-Elf hatte die besseren Möglichkeiten, aber dafür hat man ja beim FCB einen Goalgetter, der dann auftaucht, wenn man es am wenigsten vermutet: Ein Zuspiel von Daniel Sikorski, Müller umrundet Jahn-Keeper Rouven Sattelmaier und netzt zum 2:1 ein (62.).
Für den Tiger ist Müller genial
Wer vom ersten Moment an den jungen Oberbayern glaubt, der schon als 11-Jähriger vom TSV Pähl an die Säbener Straße wechselte, ist „Tiger“ Hermann Gerland: „Ein Spieler, der immer anschiebt, auch im Training oder wenn es nicht läuft – immer positiv, der ist einfach top, der ist genial.“ Wenn Holger Badstuber mal einen Fehlpass gespielt habe, sei der in sich zusammengefallen. „Wenn Thomas sehr, sehr schlecht gespielt hat, kam er an: ,Tiger, eines kann ich dir sagen, am Samstag spiele ich wieder super‘.“
Auch auf dem Weg zum WM-Finale 2014 in Rio gegen Argentinien denkt Müller an seinen wichtigsten Mentor. Während Benedikt Höwedes neben ihm in eine Tüte atmet, um seine Panik-Attacke in den Griff zu bekommen, ruft der robuste Müller Gerland an, der eine Pferdezucht betreibt: „Hermann, wenn wir gewinnen, zahle ich dir mehr, aber wenn wir verlieren, machst du’s billiger.“ Gerland sagt später: „Ich dachte, der tickt nicht richtig, vor dem wichtigsten Spiel seiner Karriere mit so einem Quatsch zu kommen.“ Müllers Art, mit der Nervosität umzugehen.
Keiner nervt wie Müller
Spaßvogel Thomas Müller polarisiert. „Ich kenne keinen anderen Spieler, der so nervt“, sagt Ex-Teamkollege Bastian Schweinsteiger nur halb im Spaß und schiebt dann bewundernd hinterher: „Er sieht aus wie ein Kreisligaspieler – warum ist der so gut?“ Radio Müller ist immer auf Sendung. Kein Spaß für Zimmerkameraden, die auch mal ihre Ruhe haben wollen. „Wer hat bei der WM 2014 am meisten geredet?“, wollte ein Interviewer wissen. Unisono alle Befragten: „Thomas Müller.“
Der Mann mit der großen Nase, wie er scherzhaft bei einer PK in China über sich sagt, ist aber auch immer zur Stelle, wenn andere in Deckung gehen. Wenn die Ergebnisse nicht mehr stimmen: „Ja, was meinen Sie denn, wie die Stimmung ist“, fährt er nach verlorener Meisterschaft eine Reporterin an, die das Interview mit den üblichen Phrasen beginnt und dann aus Verlegenheit lacht: „Ja, da lachen Sie …!“ – „Nein, ich lache nicht …“ – „Natürlich haben Sie gelacht!“ Und eine kolumbianische Journalistin, die ihn nach dem WM-Triumph fragt, ob es ihn nicht ärgert, den Goldenen Schuh verpasst zu haben, blafft er nur semi-lustig auf boarisch an: „Den kannst dir aufblos’n, den Goldanan Schuah!“
Spiel lesen, antizipieren, blitzschnell handeln
Was macht das Erfolgsgeheimnis des Rekordspielers aus – bester junger Spieler bei der WM 2010, Wahl in das Dream-Team der WM 2014, mit 41 Torvorlagen Rekordhalter in der Nationalmannschaft? Seinen Torriecher hält Müller selbst weder für Instinkt noch für geheimnisvoll. Er beschreibt es in einem Interview anhand des 3:0 beim WM-Vorrundenspiel 2014 gegen Portugal: „Das ist eines meiner Lieblingstore.“
Normalerweise versuche ein Stürmer immer vor dem Verteidiger an den Ball zu kommen. „Ich sehe gedankenschnell, dass ich nicht hinkomme, entscheide mich, auf den Block zu gehen.“ Und schon müllert es wieder. Er liest das Spiel, antizipiert Handlungsmöglichkeiten und entwirft blitzschnell eine Strategie. Oder überlegt sich Tricks, die auch mal schiefgehen. Wie der Stolperer vor dem Freistoß kurz vor Schluss gegen Algerien beim Stand von 0:0. Die Verteidiger ablenken, Toni Kroos chippt über die Abwehr, Müller stiehlt sich an der verwirrten Mauer vorbei. „Hat auch geklappt, Toni war abgelenkt, sein Chip war zu kurz.“
Maradonas Schreckgespenst
Bezeichnend für Müllers Karriere ist auch die kleine Eulenspiegelei mit Diego Maradona († 2020) bei seinem Länderspiel-Debüt. Die selbsternannte Hand Gottes ist irritiert, dass „ein Balljunge“ am Podium sitzt, verlässt seinen Platz und schreibt lieber Autogramme. Nachdem Müller das Feld geräumt hat, bequemt sich der argentinische Startrainer zurück auf seinen Platz, entschuldigt sich halbscharig, dass er nicht gewusst habe, dass Müller ein Spieler sei und normalerweise nur die Nationaltrainer dort oben sitzen würden.
Bei einem der nächsten Begegnungen gelingt Müller ein Blitztor gegen Argentinien. Jetzt wusste Diego, wer Müller ist. Und auch wenn nicht er, sondern der eingewechselte Mario Götze mit seinem Kunstwerk zum 1:0 in der Verlängerung die Gauchos in tiefe Verzweiflung stürzte – Müller dürfte für „El Pibe de Oro“, den Goldjungen aus Lanús, ein Schreckgespenst geblieben sein. Das Schreckgespenst aller Strafräume und Interviewer wird fehlen.
Da müllerte es Rekorde
- 32 Titel beim FC Bayern: erfolgreichster Spieler des Vereins.
- 12 deutsche Meisterschaften: Bundesliga-Rekord für einen Spieler.
- 151 Einsätze in der Champions League: deutscher Rekordspieler gemeinsam mit Toni Kroos.
- 104 Siege in der Champions League: deutscher Spieler mit den meisten Siegen nach 150 Einsätzen.
- Einziger Spieler mit 100 oder mehr Siegen für nur einen Verein.
- 8 DFL-Supercup-Siege und 12 Teilnahmen: auch zwei Rekorde.
- 173 Torvorlagen: Bundesliga-Rekord.
- 22 Torvorlagen innerhalb einer Bundesliga-Saison: Rekord zweimal infolge, 2019/20 und 2020/21.
- 13 Torvorlagen innerhalb einer Bundesliga-Hinrunde: Rekord 2021/22.
- 339 Siege nach 473 Einsätzen: Bundesliga-Rekordsieger.
- Bundesliga-Rekordspieler des FC Bayern gemeinsam mit Sepp Maier: 473 Einsätze.
- 707 Pflichtspiele (508 Siege, 103 Unentschieden, 96 Niederlagen): die meisten Pflichtspiele eines Feldspielers für den FC Bayern.
- 65 Einsätze im DFB-Pokal: Vereinsrekord.
- 53 gewonnene DFB-Pokal-Partien: Rekord.
- 54 Treffer in der Champions League: deutscher Rekordtorschütze der Champions League, Platz 7 der ewigen Torschützenliste.

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