EM dahoam vorbei: Jetzt hält Spanien auch noch die Titel-Krone in Händen
Berlin. Neutral Fußballschauen, ohne mitzufiebern? Das macht keinen Spaß. Für welches Team entscheidet man sich, wenn es einem egal ist? Dann halt England, damit uns die Spanier nicht auch noch an EM-Titeln überflügeln. Von wegen: Wieder KANE Titel für die Three Lions, the Winner takes it all: Europameister, Titel-Krone, bester Spieler des Turniers, bester junger Spieler.

Es ist leider so gekommen, wie es die Experten prophezeiten: Die beiden Teams mit dem höchsten Marktwert machen den Titel unter sich aus. O.k., das stimmt nicht ganz: Zwar führt das United Sheikhdom das Ranking der Rich-Kids mit einem Durchschnittswert pro Spieler von 53,94 Millionen Euro je Spieler an. Aber Spanien folgt erst auf Platz 4 hinter Portugal und Frankreich – rechnet man dann aber Ronaldo und Mbappé wieder heraus, dürfte Spanien nach oben rücken.
Füllkrugs verflixter Ausgleich
Ach, hätte Niclas Füllkrug doch nur dieses späte 1:1 gegen die Schweiz verpasst! Der Weg ins Finale gegen diese Engländer wäre um so vieles leichter gewesen. Und ohne das Elfer-Trauma des VR hätte es vielleicht auch gegen das Team von Luis de la Fuente gereicht – jedenfalls war die deutsche Mannschaft um Längen näher am Spanien-K.o. als die Briten, die nur punktuell Nadelstiche setzen können.
Wie in vielen Begegnungen fällt auch im Finale der entscheidende Treffer sehr spät: Ausgerechnet der permanent ausgepfiffene Handkünstler Marc Cucurella läuft links die Linie hoch, passt exakt auf Mikel Oyarzabal, der um einen kleinen Zehennagel nicht im Abseits steht, und den Ball mehr ins Tor rutscht als schießt, 2:1 (86.).
Drei Löwen, drei Kopfbälle, kein Tor
Eine Dreifach-Chance in der 90. Minute lassen die Three Lions liegen: Nach Declan Rices Ecke pariert Spanien-Keeper Unai Simon, den Abpraller köpft Marc Guehi zurück aufs Tor, Dani Olmo rettet auf der Linie – und nochmal bekommt ein Engländer den Schädel hin, aber Eckenschütze Rice köpft über die Latte. Die restliche Spielzeit (90+4) verstreicht mit vielen Unterbrechungen und Wechseln.
In Führung geht Spanien nur eine Minute nach der Pause: Daniel Carvajal passt in den Lauf von Lamine Yamal, der Luke Shaw stehen lässt, den völlig verwaisten Nico Williams auf der linken Seite bedient, der flach ins rechte Eck einnetzt, 1:0 (47.). Auf der Tribüne bejubeln König Felipe VI. (56) und Tochter Sofia das Wunderkind, das den Treffer mit seiner fünften Turnier-Vorlage einleitet – Bestwert aller Spieler.
Southgates letzter Wechsel?
England wirkt nach der spanischen Führung kopflos und wie ohne rechten Verteidiger. Aber noch einmal kann Englands Coach Gareth Southgate (53) sein Wechselgeschick unter Beweis stellen – Kapitän Harry Kane muss dem antrittsschnellen Ollie Watkins weichen, der kurz nach der neuerlichen spanischen Führung Jude Bellinghams Zuspiel nicht sauber verarbeiten kann – ansonsten steht er allein vor dem Keeper (89.).
Trotzdem dürfen auch Prinz William (42) und Sohn George (10) einmal jubeln und hoffen. Cole Palmer, der für Kobbie Mainoo auf den Berliner Rasen geschickt wird, versenkt einen kongenialen Rückpass Bellinghams aus der Box nach 146 Sekunden im linken unteren Eck (70.). Über die weitgehend ereignislose erste Halbzeit, die Spanien ohne große Akzente dominiert, gibt es wenig zu erzählen. Deshalb lassen wir’s dabei.
Teuer ist nicht immer unterhaltsam
Den größten Unterhaltungswert hatten die vier teuersten Teams nicht wirklich. Die Engländer würgten sich mit Bellinghams Duseltor gegen die Slowakei, einem Elfmeterschießen gegen die Schweiz und einem Last-Minute-Treffer gegen Holland ins Endspiel. Von der drögen Vorrunde mit zwei Remis und einem 1:0 ganz zu schweigen.
Zugegeben, da spulten die Spanier schon ein weit routinierteres Programm ab und kamen lediglich gegen Deutschland und Frankreich phasenweise ins Schwitzen. Dass wir Marc Cucurellas wohl spielentscheidenden Volleyball-Block am Elfmeterpunkt noch nicht verarbeitet haben, sei uns als enttäuschte Gastgeber verziehen – noch dazu, weil es den begründeten Verdacht gibt, VAR Stuart Attwell, der wegen des umstrittenen Handelfers für Deutschland gegen Dänemark harscher Kritik ausgesetzt war, habe nicht noch einmal im Fokus stehen wollen.
EM-Bilanz: Rosig wie das Auswärtstrikot?
Was bleibt also von der EM dahoam, das sicher kein Sommermärchen, aber auch keine Enttäuschung war? Auf alle Fälle einige Sommernachts-Träume, wie das 5:1-Spektakel gegen freilich auch limitierte Schotten – Pardon, natürlich nur auf dem Spielfeld, denn als Feierbiester bleiben die MacKilties unübertroffen. Dazu kommt der wiedergewonnene Respekt der Fußballwelt für Toni Kroos, Jo Kimmich, Flo Wirtz, Jamal Musiala & Co. Für uns manisch-depressiven deutschen Fußballfans fast schon wieder ein Grund zum Größenwahn.
Schlechter Verlierer hin oder her, alles Hadern hilft ohnehin nichts. Dann schließen wir uns besser Julian Nagelsmanns offensiver Trotztaktik an und holen uns die Weltmeisterschaft in zwei Jahren auf dem amerikanischen Kontinent. Schließlich hat die Handschrift des jungen Bundestrainers samt Assistent Sandro Wagner einen ähnlich erfrischenden Eindruck hinterlassen, wie die des Sommermärchen-Duos 2006, Klinsmann und Löw – auch wenn Jogi dann noch lange acht Jahre auf einen Titel warten musste.
„German Angst“ unbegründet
Die „German Angst“ ging auch vor diesem Turnier um: Kommen die Fans auch wirklich am Spieltag an, oder sorgt die chronisch verspätete Bahn für leere Stadien? Erleben wir wie in Katar erneut peinliche Versuche von Verbänden, eine vermeintlich erwartete politische Botschaft zum Fremdschämen grottig umzusetzen? Werden die Terroristen dieser Welt die internationale Bühne für Anschläge nutzen? Die politische Protestkultur hielt sich zum Glück in Grenzen: Die Balkankriege sind bei den Fans von Serbien, Kroatien und Albanien noch präsent.
Nicht nur der türkische Nationalspieler Merih Demiral, auch viele Fans gefielen sich mit dem Gruß der rechtsextremen Grauen Wölfe. Französische Spieler, vor allem Superstar Kylian Mbappé, riefen dazu auf, wählen zu gehen, um einen Sieg des Rassemblement National in Frankreich zu verhindern – mit Erfolg, auch wenn sich der Einfluss der Fußballer auf das Wahlverhalten in Grenzen halten dürfte. Und, ach ja, für Aufregung sorgten auch ein falsches Maskottchen, das sich Zutritt zum Eröffnungsspiel verschaffte, ein Stadiondach-Kletterer, Blitze und Wasserfälle vom Dortmunder Stadiondach. Fazit: „German Angst“ weitgehend „unnecessary“.
Nagelsmanns Appell: „Anpacken statt Schwarzmalen“
Also Ende gut, alles gut? Die Stimmung erreichte vielleicht nicht die unbeschwerte Ausgelassenheit des Sommers 2006, aber dazu sind die Rahmenbedingungen – Stichwort Ukraine, Nahost, USA – auch zu ernst. Dennoch beschreiben die Gäste die Atmosphäre im Land überwiegend als entspannt und fröhlich. Die von vielen abgeschriebene deutsche Mannschaft hat bei fast allen wieder einen Stein im Brett. Und selbst das pink-lilafarbene Trikot fiel keinem queerophoben Anschlag zum Opfer – im Gegenteil: Das bunte Shirt avanciert zum bestverkauften Auswärtstrikot in der Geschichte des DFB.
Wie Adidas bei einer der letzten Gelegenheiten vor dem Sponsorenwechsel verkündete, habe Toni Kroos‘ Rückennummer 8 besonders reüssiert. Es folgen auf den Plätzen Trikots des Künstler-Duos „Wusiala“, Jamal Musiala und Florian Wirtz. Sogar der alte Grantler Uli Hoeneß lässt sich von der kleinen Euphorie um die Mannschaft anstecken. „Sie sind auf einem guten Weg.“ Ned g‘schimpft, is‘ g‘lobt gnua! Den perfekten Schlusspunkt setzt Bundestrainer Nagelsmann mit einem Appell bei der Abschlusspressekonferenz in Herzogenaurach: „Wir haben Probleme im Land“, die auch die Nationalmannschaft vor dem Turnier gehabt habe. „Man hat gesehen, wohin es führen kann, wenn alle anpacken.“
EM-Bilanz: Großer Fan-Durst, kleine Nachhaltigkeit
Nach dem EM-Finale im Berliner Olympiastadion zwischen Spanien und England geht das Turnier mit insgesamt 51 Spielen unter 24 teilnehmenden Nationen in 10 deutschen Städten zu Ende. Mehr als 2,5 Millionen Fans haben die Stadien besucht und viele Millionen die Spiele über diverse Medien verfolgt – laut Telekom allein auf Magenta-TV doppelt so viele Zuschauer wie bei der WM in Katar 2022. Gab es da schon Magenta? Anyway!
Das Interesse an der EM war auch noch nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Viertelfinale riesig. Wenn auch nicht bei allen. 15 Millionen Zuschauer verfolgten das Halbfinale England gegen die Niederlande in der ARD – die bisher höchsten Einschaltquoten eines Spiels ohne deutsche Beteiligung. Ein Tribut auch an die niederländischen Fans, die trotz aller Animositäten – Lama Rijkaards Spuckattacke gegen Rudi Völler – neue Freunde in Deutschland gefunden haben.
Für die Gastronomie, die nach den dürren Jahren auf fette Umsätze beim Sommermärchen 2.0 hoffte, erfüllten sich die Erwartungen nur teilweise. Nach einer Studie des Zahlungsabwicklers Mastercard dürfen sich die Gastwirte in den Austragungsorten Dortmund, Düsseldorf, Köln und Stuttgart über teils dreistellige Steigerungsraten freuen. Umgekehrt zeigt eine aktuelle Umfrage des Branchenverbands Dehoga, dass in Hamburg, Berlin und München rund 90 Prozent der Bars, Kneipen und Restaurants ihre Umsätze durch die EM nicht steigern konnten.
Dennoch gibt sich Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführerin des DEHOGA Bundesverbandes, optimistisch: „Die EM ist auf jeden Fall ein wichtiger Impulsgeber zur Stärkung des Deutschland-Tourismus. Die positiven Bilder und Berichte rund um die Spiele und ihre Austragungsorte werden definitiv nachwirken.“
Wie sieht die Bilanz bei den Austragungsorten insgesamt aus? Mehr als 500.000 Fans aus aller Welt waren zur EM nicht nur in München, sondern verteilt in ganz Bayern. Die Arena war laut UEFA immer ausverkauft, die Fan Zone am Olympiapark besuchten über 600.000 Gäste. Das Münchener Referat für Arbeit und Wirtschaft schätzt, dass Touristen an den sechs EM-Spieletagen etwa 150 Millionen Euro in der Stadt gelassen hätten. Rein monetär bleibe das zwar ein Draufzahlgeschäft, sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Ein paar Millionen hat es schon gekostet.“ Im Gegenzug habe die Stadt dafür Werbeevents für den Tourismus bekommen – und die EM für Völkerverständigung und ein positives Lebensgefühl mit trinkfester Unterstützung der Schotten gesorgt.
Für wie viel Ärger hat die Deutsche Bahn gesorgt? Das Verlagern der Infrastruktur auf Busse und Bahnen war ein wesentlicher Punkt im Nachhaltigkeitskonzept der UEFA für die EM in Deutschland. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) bilanziert nach vier Wochen EM: „Es fuhr alles, was Räder hat.“ Der Verband fordert mehr Investitionen: „Wir sind am Limit.“ Das System stoße an seine Kapazitätsgrenzen, der schlechte Zustand der Infrastruktur sei bei erhöhter Nachfrage störungsanfällig. „Es fehlt an Fahrzeugen und Personal.“
Das nachhaltigste Turnier aller Zeiten hat die UEFA versprochen: Tatsache oder Greenwashing? Recycling-Initiativen und der Einsatz von Ökostrom in den Stadien sollten dazu beitragen. Die Deutsche Umwelthilfe zieht dennoch eine kritische Bilanz. Geschäftsführerin Barbara Metz fordert die konsequente Ausgabe von Mehrwegbechern, nicht nur in Stadien und Fanzonen. Auch die Kurzstreckenflüge mancher Nationalmannschaften hätte es nicht gebraucht.
* Diese Felder sind erforderlich.