Europa-Perspektiven vor dem Weidener Frühlingsfest

Weiden. Da hat sich der SPD-Stadtverband etwas vorgenommen: Schwere politische Kost konkurriert mit dem Weidener Frühlingsfest. Immerhin, zum Bericht aus Brüssel des Amberger EU-Abgeordneten Ismail Ertug kommen am Freitagabend rund ein Dutzend Genossen. Nach dem Motto: Erst informieren, dann feiern.

SPD-Bezirkschef Ismail Ertung und Sabine Zeidler, Vorsitzende des SPD-Stadtverbands Weiden (Mitte) diskutieren mit den Genossen. Collage/Bilder: Jürgen Herda

SPD-Stadtverbandsvorsitzende Sabine Zeidler hat sich schon mal fesch gemacht für das anschließende Frühlingsfest. Politik und Vergnügen müssen sich ja nicht widersprechen. „Wir haben die Einladung an Ismail Ertug bereits vor Wochen ausgesprochen“, erklärt die Stadträtin, „da wusste noch keiner, dass Ende April seit fast zwei Monaten Krieg in der Ukraine herrscht.“

Dementsprechend standen ursprünglich Ertugs politische Schwerpunkte in Straßburg und Brüssel auf der Tagesordnung: Verkehrs-, Industrie- und Energiepolitik. „Das rückt heute angesichts der Weltlage natürlich etwas in den Hintergrund.“ Die Genossen wollten schließlich wissen, welche weiteren Schritte die EU in dieser brisanten Lage unternimmt – und wie das deutsche Krisenmanagement dort wahrgenommen wird. Zeidlers Stellvertreter Herbert Schmid gefällt dabei besonders, dass Ertug auf allen politischen Ebenen zu Hause ist: „Ismail kennt als Amberger die Kommunalpolitik, ist SPD-Bezirksvorsitzender Oberpfalz und ist als EU-Abgeordneter in die großen Fußstapfen von Gerhard Schmid getreten – er versteht es, die Sphären miteinander zu verbinden.“

SPD-Bezirkschef Ismail Ertung (links) und Sabine Zeidler, Vorsitzende des SPD-Stadtverbands Weiden. Bild: Jürgen Herda

„Ertug: „Kenne die Stimmungslage vor Ort“

Der Europa-Abgeordnete macht dann auch gleich deutlich, dass er in keinster Weise dem Klischee des abgehobenen Politikers gleicht: „Es besteht natürlich die Gefahr, dass wir uns in Straßburg und Brüssel nur noch in unserer Blase aufhalten“, sagt Ertug, „aber dadurch, dass ich jedes Wochenende nach Amberg zu meiner Familie fahre und in den Ortsvereinen mit normalen Leuten rede, weiß ich schon sehr genau, wie die Stimmungslage vor Ort ist.“ Seit 13 Jahren vertritt Ertug bereits Oberpfälzer Interessen im Europäischen Parlament.

Als Vollmitglied im China-Ausschuss kennt er auch die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von der aufstrebenden Weltmacht im Fernen Osten. „Das Besondere an meiner Laufbahn aber ist, dass sich die Politik, seit ich im Parlament bin, in einem permanenten Krisenmodus befindet.“ Er zählt auf: „2008 war die Immobilienkrise, wir diskutierten die Verschuldung Griechenlands rauf und runter – leider oft von oben herab.“ Ohne dass dieses Problem gelöst worden sei, ist man in die Immigrationskrise geschlittert, begleitet vom Bürgerkrieg in Syrien. „In der öffentlichen Debatte wurde eine Krise durch die nächste ersetzt.“ Es folgte die weltweite Pandemie, die unser Leben bestimmt habe. „Und seit zwei Monaten redet die ganze Welt über den Krieg.“

Uwe Bergmann, zweiter Bürgermeister der Stadt Schnaittenbach, und Landtagskandidat der SPD. Bild: Jürgen Herda

„Kein Scholz-Bashing in Brüssel“

Mittlerweile führe die SPD Regierung und Land. „Der Blick auf uns Sozialdemokraten ist jetzt ein komplett anderer.“ In vielen Ländern im Süden und Osten mit anderer politischer Kultur zähle allein die Macht: „Da gibt es nicht wie bei uns eine Zivilgesellschaft, den vorpolitischen Raum“, beschreibt Ertug, „da gibt es einen Parteivorsitzenden, der gibt seinen Leuten vor, wie sie sich zu verhalten haben.“

Dass die SPD als Juniorpartner das Land mitgestaltet habe, sei bei weitem nicht so ins Gewicht gefallen, wie jetzt, da sie den Kanzler stelle. Und er stelle fest: „Die negative Diskussion, die bei uns über die angeblich zögerliche Haltung Deutschlands geführt wird, kann ich aus Brüsseler Perspektive nicht bestätigen.“

SPD-Urgestein Heinz Gerstenberger (rechts) befürchtet, dass die Pariser Klimaziele nicht erreicht werden, „wenn wir die Situation nicht weltweit sehen“. Bild: Jürgen Herda

Waffenlieferung und Gas-Boykott: Bevölkerung verunsichert

Natürlich gebe es kritische Stimmen, vor allem aus Kreisen der baltischen und osteuropäischen Kollegen, die bereits seit Jahren vor Putin gewarnt hätten – und von Koalitionären, „die jetzt einen Tag in der Ukraine waren und auf einmal die größten Waffenexperten sind“. Er selbst möchte nicht in der Haut von Bundeskanzler Olaf Scholz stecken. „Ich finde, das macht er schon gut“, wehrt er sich gegen das Scholz-Bashing hierzulande, „er hat schließlich einen Eid geschworen, nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Interessen Deutschland und Europas zu handeln“, erklärt Ertug.

„Wenn man blind reingeht, weiß man nicht, wo man rauskommt.“ Schließlich müsse man auch daran denken, wie es nach dem Krieg weiter gehe: „Russland verschwindet nicht von der Landkarte.“ Und auch die Verunsicherung in der Bevölkerung sei mit Blick auf Waffenlieferungen und Energie-Boykott nicht zu unterschätzen: „Bei einer Umfrage befürworteten Zweidrittel der Befragten eine Beteiligung an einem Gas-Boykott“, stellt er die Aussagekraft solcher Stimmungstests infrage, „fast gleichzeitig war eine etwa gleich große Mehrheit dagegen, sofort auf russisches Gas zu verzichten.“

Günther Grabs von den Naturfreunden Oberpfalz beklagt, dass die EU zu wenig Werbung in eigener Sache betreibt und viele deshalb nicht verstünden, wie wichtig sie für den Frieden in Europa sei. Bild: Jürgen Herda

Die Fehler der EU

Dabei verhehle er nicht, dass die Europäische Union auch Fehler gemacht habe. „Ich war immer für die Erweiterungsrunden“, sagt der Abgeordnete, „weil sie, wenn sie gut gemacht sind, großen Nutzen bringen.“ Aber man habe lange nicht daran gedacht, die Länder außerhalb der Ostflanke zu integrieren. „Ihr habt uns zu einem Rohstofflieferanten degradiert“, habe Putin einmal gesagt. „Der beobachtet jetzt sehr genau, dass wir aus den fossilen Energieträgern aussteigen, um am Ziel der Klimaneutralität festzuhalten.“ Für Russland sei deshalb das Ende seiner wichtigsten Einnahmequelle absehbar. „Das ist auch eine Erklärung für seine Motivation.“ Europa müsse zur Kenntnis nehmen, dass „unsere Art unser Leben gestalten zu können, auch davon abhängt, wie es in anderen Teilen der Welt zugeht“.

Nach der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges hätten zunächst die USA als einzig verbliebene Weltmacht das Vakuum gefüllt. „Inzwischen ist China in Konkurrenz dazu getreten.“ Russland versuche, mit Gewalt Anschluss zu finden. „Wir müssen leider konstatieren, dass die EU außenpolitisch keine Macht ist – das wissen die Putins, Erdogan und Orbans dieser Welt.“ Bei dieser Kalkulation habe sich Putin in puncto Ukraine allerdings geschnitten. „Die Nato war im Begriff zu implodieren“, sagt Ertug, „Macron sprach sogar von ihrem Hirntod – durch diesen externen Impuls aber hat die Nato wieder zusammengefunden.“

Verena Waßink vom Vorstand des SPD-Ortsvereins Stadtmitte will wissen, wie realistisch der Aufbau einer Europäischen Armee ist. Bild: Jürgen Herda

Europäische Lösungsansätze

Der europäische Einfluss in der Welt stehe und falle mit der wirtschaftlichen Stärke des Kontinents mit seinen über 500 Millionen Einwohnern: „Die darf man nicht aufs Spiel setzen.“ Die Feinde der Demokratie wollten die Gesellschaft spalten. Die von Moskau finanzierte Marine Le Pen habe versucht, über die Kaufkraft zu punkten. „Wer sagt uns, dass sie es in fünf Jahren nicht wieder versucht?“ Und Frankreich sei nach der Pandemie bereits gewaltig verschuldet. Umso wichtiger sei, dass auch künftig die Achse Deutschland-Frankreich funktioniere, um die EU zusammenzuhalten.

„Wir haben alle viel Geld in der Pandemie ausgegeben, uns auf den Finanzmärkten verschuldet, die Haushalte sind belastet, wir haben Kriegsfolgen zu bewältigen und müssen die Erderwärmung stoppen, um den Planeten zu retten.“ Die dazu notwendigen Entscheidungen würden unser Leben beeinflussen: „Das Ende des Verbrennungsmotors trifft besonders auch unsere Region“, sagt Ertug, „wie hängen mit unserer Zulieferindustrie stark an der Automobilindustrie.“ Zudem werde der Hausbau wegen der vorgeschriebenen Dämmung noch teurer: „In Amberg werden gerade Doppelhaushälften für 550.000 Euro gebaut“, nennt der Sozialdemokrat eine für viele nicht mehr darstellbare Summe. Schon deswegen sei die Regierung in der Pflicht, weiteren ökonomischen Schaden abzuwenden.

Der Pressather SPD-Stadtrat Christian Mörtl will von Ismail Ertug wissen, was man auf europäischer Ebene in der Verkehrspolitik plant. Bild: Jürgen Herda

Andere Haltung zu China

Dazu gehöre allerdings auch eine veränderte Haltung gegenüber China: „Xi Jinping spricht immer von der Heimholung“, warnt Ertug vor der möglichen Versuchung Pekings, im derzeitigen Kriegsnebel Taiwan anzugreifen. „Man kann das dann schlecht mit anderen Maßstäben bewerten als bei Russland.“

Wie gnadenlos das chinesische Regime agiere, verdeutlicht er mit den Erzählungen eines Austauschstudenten: „Der junge Mann hat geschildert, wie ein junger Demonstrant in Hongkong aus dem 3. Stock einer Mall gestürzt ist und die chinesische Polizei den jungen Kerl umringt hat, um zu verhindern, dass ihm ein Notarzt zu Hilfe kommt – das zeigt, wie wenig dort ein Menschenleben zählt.“

Sonja Schreglmann, stellvertretende Vorsitzende der AsF, will wissen, wie es inzwischen um den Brexit bestellt ist. Bild: Jürgen Herda

Lieferketten in die europäische Nachbarschaft

Das energiehungrige China werde, sobald Russlands Pipelines Richtung Peking fertig sind, gerne Putins billiges Gas abnehmen. Mit dem Westen will man ausschließlich Handel, ansonsten aber keine Einmischung. „China beherrscht inzwischen die Lieferketten im Nicht-High-Tech-Bereich zu fast 100 Prozent.“ Spätestens seit der Pandemie habe man begriffen, „dass wir die Abhängigkeit von China senken müssen“.

Hier sieht Ertug eine Chance für gelebte Nachbarschaft zur europäischen Peripherie: „Wir sollten die Lieferketten hierherholen“, fordert er, „Nordafrika kann uns mit Photovoltaik helfen, die Ukraine, die Türkei und den Nahen Osten könnten wir dadurch ebenso stärken – Wandel durch Handel kann hier funktionieren, aber man muss das jetzt angehen.“ Solange China nicht völlig unabhängig von High-Tech sei und dann bei seiner Taiwan-Heimholung keine Rücksicht mehr auf den Westen nehme.

Benjamin Meister freut sich über die Einführung des „Neun-Euro-Tickets“ und will wissen, ob es dazu auch von der EU Vorschläge gibt. Bild: Jürgen Herda

Rot-Grüne-Hoffnungen für Bayern

Bei der Landtagswahl im nächsten Jahr sei die CSU unter Druck wie nie, befindet der Oberpfälzer SPD-Chef Ismail Ertug. „Bei Umfragen liegen wir derzeit bei 15 bis 16 Prozent, die Grünen bei 19 Prozent.“ Natürlich müsse man die grüne Konkurrenz noch einholen, fordert er. „Dann haben wir eine Chance, den Ministerpräsidenten zu stellen.“

Die EU würde sehr genau auf Deutschland und die Bundesländer schauen: „Wie bewältigen die die Energiewende, was geht bei euch in Bayern ab, warum baut ihr keine Windräder?“ Die Energiepolitik müsse auf europäischer Ebene angeglichen werden. Derzeit gebe es 27 verschiedene energiepolitische Ansätze.

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