Fulminantes Festival im Juli: „Paulusbrunn erwacht zum Leben“
Paulusbrunn. Mit einem fulminanten Festival zwischen Bärnau und Tachov erwecken die Vereine für Bayerisch-tschechische Freundschaft und Via Carolina das verschwundene Dorf Paulusbrunn am 12. und 13. Juli zum Leben: Mit Open-Air-Kino, Lichtshow und Zeitzeugen-Gesprächen am Lagerfeuer.

„Man kann Matouš Horáček und seinem Verein für Bayerisch-Tschechische Freundschaft gar nicht genug danken, dass sie die Initiative zur Erinnerung an das verschwundene Dorf Paulusbrunn ergriffen haben“, freut sich Alfred Wolf, Vorsitzender des Vereins „Via Carolina – Goldene Straße e.V.“, der zusammen mit dem tschechischen Partnerverein das Festival „Paulusbrunn erwacht zum Leben“ organisiert.
Am Wochenende, 12. und 13. Juli, feiern Oberpfälzer und Westböhmen zum zweiten Mal die Renaissance der ehemaligen Grenzgemeinde, die vor der Vertreibung rund 1500 Einwohner zählte. „Allein aus der Region Tachov wurden 100.000 Deutschböhmen vertrieben“, sagt Matouš Horáček, „das waren 90 Prozent der Bevölkerung.“ Heute leben 57.000 Menschen in und um Tachov. „Den früheren Bevölkerungsstand haben wir nie wieder erreicht.“
Wo früher eine Kirche, eine Grundschule, Bauernhöfe und Wohnhäuser standen, finden auf einer ausgedehnten Wiese Insekten Nahrung – und die kleine Gruppe mit Alfred Wolf, Matouš Horáček und Václav Vrbík, Geschäftsführer des Geschichtsparks Bärnau, stöbert bei der Geländebegehung vereinzelt Mauerreste, Ziegelsteine und einen Brunnenschacht in den angrenzenden Waldstücken auf.
Festival „Paulusbrunn erwacht zum Leben“
Hier wollen die Initiatoren wie vergangenes Jahr Paulusbrunn erneut zum Leben erwecken:
- Markierung von Gebäuden: Um der Fantasie etwas nachzuhelfen, werden Matouš, Alfred & Co. einige der Gebäude, wie Kirche, Pfarrhaus, Schule, Kneipe, Postamt, das Baťa-Schuhgeschäft oder auch das Haus, in dem der bedeutende deutsche Schriftsteller Max von der Grün lebte, auf dem Gelände markieren und mit Informationsschildern zu den einstigen Bewohnern versehen. Großer Wunsch der Veranstalter: „Bitte betreten Sie die markierten Bereiche nicht“, sagt Horáček, „bewahren wir gemeinsam den Respekt vor den Menschen, die hier gelebt haben.“
- Wanderausstellung unter freiem Himmel: Auf dem Weg von der renovierten Böttgersäule zu Ehren von Dr. Josef Carl Böttger zum Festivalgelände zeigt eine Wanderausstellung Fotos und Texte zum Leben der Bewohner des Ortes auf dem Böhmerwaldkamm.
- Diskussion mit Zeitzeugen: Wie im Vorjahr erwarten die Initiatoren neben den geladenen Zeitzeugen wieder viele Menschen, die von ihren persönlichen Erinnerungen erzählen. „Weiden hat ja noch immer die Patenschaft über den ehemaligen Landkreis Tachov“, sagt Wolf, „und es leben noch viele Paulusbrunner.“ Darunter die 93-jährige Zeitzeugin Traudl Kraus: „Es ist beeindruckend, wenn sie ihre Geschichte ohne jegliche Feindseligkeit erzählt.“

- Sommerkino: Sobald es dunkel wird, flimmern Bilder aus einer untergegangenen Epoche über die Leinwand. Unter die Besucher mischen sich Amateurschauspieler der Tachover Truppe Komedyjanti (Komiker) in Kostümen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. „Am Samstag planen wir eine Lichtshow als Symbol des wiedererwachten gemeinsamen Lebens“, sagt Horáček, dem vorschwebt, das Licht in den Fenstern der verschwundenen Häuser zu entzünden.
- Magische Nacht im Herzen des Böhmischen Waldes: Auf dem Festivalgelände können Besucher von Samstag auf Sonntag ihr Zelt aufzuschlagen und ausnahmsweise im Landschaftsschutzgebiet Böhmischer Wald übernachten – am großen gemeinsamen Lagerfeuer können sich alle Gäste beim gemütlichen Beisammensein aufwärmen.
- Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto: Paulusbrunn befand sich direkt an der Grenze, auf der tschechischen Seite, an der Straße zwischen Tachau und Bärnau. Von der Kreuzung, auf der das Böttgerdenkmal steht, ist das Festivalgelände nicht zu übersehen. Vom Bärnauer Stadtzentrum zum Denkmal sind es knapp 4 Kilometer. Vor Ort gibt es ausreichend Parkplätze. Lage des untergegangenen Dorfes.
Sprengung der Kirche erst 1977
Das Dorf lag nach Kriegsende im tschechischen Sperrgebiet. Viele der Einwohner flüchteten noch im Jahr 1945, der Rest wurde ausgewiesen. In den folgenden Jahren wurden viele Orte, die man von Deutschland aus sehen konnte, dem Erdboden gleich gemacht. Da einige Gebäude der Großgemeinde Paulusbrunn von der tschechoslowakischen Armee als Kaserne genutzt wurden, standen hier noch bis in die 70er Jahre einige Dorfreste. „Die Kirche wurde erst 1977 gesprengt“, erzählt Horáček. „Die Kaserne wurde neu gebaut, Häuser, Schulen und Kirchen waren danach verschwunden.“
„Der Friedhof auf der anderen Straßenseite wurde nach der Grenzöffnung mithilfe des tschechischen Bürgermeisters František Čurka aus Halže wieder hergestellt“, erklärt Wolf, dessen Großmutter in einem Ortsteil von Paulusbrunn aufwuchs. „Ich selbst habe mit meiner Tochter einen der Grabsteine aus dem Moorgebiet gezogen und hierhergebracht.“ Die Angehörigen der Verstorbenen pflegen die Gedenkstätte unter den großen Lindenbäumen bis heute.
Feier von 80 Jahren Frieden in Freiheit
Ein grenzüberschreitender Panoramaweg verbindet heute entlang der bayerisch-tschechischen Grenze Bärnau und Tachov. Unterstützt wurde das Projekt von der tschechischen Gemeinde Obora, vom Verein „Via Carolina-Goldene Straße“ und dem Naturpark Nördlicher Oberpfälzer Wald. „Man sollte die Geschichte seiner Landschaft kennen“, erklärt Horáček, tachover Stadtrat und Vorsitzender des Vereins für Bayerisch-Tschechische Freundschaft.
„Mir ist wichtig, dass sich Menschen unterschiedlicher Nationen verstehen, statt sich gegenseitig mit Vorurteilen zu begegnen.“ Und weil sich besonders Bayern und Böhmen am besten bei Bier und Bratwurst verstehen/pochopit, lässt Horáček die Gastro-Profis des Tachover Streetfood-Festivals für eine zünftige Verpflegung sorgen. Jetzt hoffen die Veranstalter erst einmal, mit ihrem fulminanten Programm noch mehr als die rund 1500 Besucher von der Premiere 2024 anzulocken: „Wir feiern in diesem Jahr das 80-jährige Jubiläum des Kriegsendes“, sagt Wolf. Angesichts näher rückender kriegerischer Konflikte ein guter Grund, den Wert von Frieden in Freiheit zu feiern – „in aller Stille“, wie Wolf betont.
Der Vertreibung ging nazistischer Terror voraus
- Münchner Abkommen und Annexion (September/Oktober 1938):
Am 30. September 1938 zwangen Großbritannien, Frankreich und Italien unter dem Druck Hitlers die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes. Bereits am 1. Oktober rückte die Wehrmacht unter General von Leeb in die fünf festgelegten Zonen ein, die endgültige Grenzziehung folgte am 7. Oktober in Abwesenheit tschechoslowakischer Vertreter. Bis zum 10. Oktober war die Besetzung vollzogen. Die sudetendeutsche Bevölkerung empfing die Truppen vielfach euphorisch, nicht zuletzt weil wirtschaftliche Probleme und Minderheitenkonflikte das Vertrauen in den tschechoslowakischen Staat erschüttert hatten. - Institutionelle Integration und Verfolgung (1938–1945):
Mit der Gründung des Reichsgaus Sudetenland unter Konrad Henlein und der Eingliederung weiterer Grenzgebiete in die angrenzenden „Gauen“ begann die vollständige Gleichschaltung:- Deutsche Parteien wurden verboten oder in die NSDAP überführt, die Presse gleichgeschaltet.
- NS‐Organisationen wie Hitlerjugend, Deutsche Arbeitsfront und Gestapo erfassten die Bevölkerung systematisch.
- Bereits ab 1933 hatten deutsche Regimegegner und jüdische Flüchtlinge Zuflucht im Sudetenland gesucht; diese wurden nun teilweise erneut verfolgt, verhaftet oder deportiert.
- Einsatzgruppen der Gestapo, unterstützt vom „Sudetendeutschen Freikorps“, verhafteten Tausende, sowohl tschechische Patrioten als auch antifaschistische Deutsche.
- Militärische und polizeiliche Kontrolle:
Die Region um Paulusbrunn wurde Teil des Landkreises Tachau im Deutschen Reich. Grenzbefestigungen dienten nun nicht mehr der Verteidigung, sondern der Kontrolle von Bevölkerung und Arbeitskräften, etwa in Rüstungsbetrieben der Oberpfalz.
- Vertriebenenpolitik und „Beneš‐Dekrete“:
Nach Kriegsende 1945 ordnete die tschechoslowakische Regierung unter Präsident Beneš die „Umsiedlung“ der deutschsprachigen Bevölkerung an. Die Vertreibung erfolgte in mehreren Wellen:- Spontanvertreibungen durch örtliche Milizen und Partisanen noch im Mai und Juni 1945.
- Organisierte Überstellungen in Sammel‐ und Durchgangslager, häufig unter harten Bedingungen ohne Besitzmitnahme.
- Rest‐Vertreibungen bis 1947, nachdem bereits über zwei Millionen Sudetendeutsche das Land verlassen hatten.
- Räumung und Abbruch von Paulusbrunn:
Die einst 1500-köpfige deutschsprachige Gemeinde Paulusbrunn wurde komplett evakuiert – oder wie heute einige Unverbesserliche sagen würden: „remigriert“. In den frühen 1950er Jahren, beim Bau des „Eisernen Vorhangs“, ließ man die Häuser abtragen und das Dorf entvölkern. Nur die Ruine der Kirche „Zur Kreuzerhöhung“ blieb stehen, ihr Turm diente schließlich als Wachturm der Grenzsoldaten. - Langfristige ökonomische und demographische Effekte:
- Das Gebiet entvölkerte sich beinahe vollständig, landwirtschaftliche Nutzung und lokale Wirtschaft brachen zusammen.
- Die Grenzschließung 1951 isolierte die Region; erst ab 1991 wurde mit der Öffnung des Grenzübergangs Pavlův Studenec-Bärnau wieder ein bescheidener Austausch möglich.
- Heute erinnern nur noch verstreute Reste von Zollhaus, Hegerhaus und einer verlassenen Grenzerkaserne an die einst blühende Dorfgemeinschaft.
Die Erfahrungen in und um Paulusbrunn spiegeln exemplarisch die beiden Phasen nationalsozialistischer und stalinistischer Verwerfungen wider:
- 1938–1945: Eroberung, Gleichschaltung und Verfolgung unter dem NS‐Regime.
- 1945–1950er: Kollektive Vertreibung und Demontage des Ortes als Folge der nationalen Rache- und Sicherheitspolitik.
Erst das bewusste Gegenüberstellen dieser beiden Kapitel macht deutlich, wie eng Aggression und Gewaltausübung auf deutscher Seite mit den nachfolgenden Racheaktionen und dem Verlust einer ganzen Kulturlandschaft verbunden sind.
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