Gastbeitrag von Ludwig Stiegler: 125 Jahre SPD in Weiden – Geschichte, die Fortsetzung braucht

Weiden. Der Mann mit dem roten Pullunder ist Weidens lebendes rotes Denkmal. Ludwig Stiegler war bayerischer SPD-Landesvorsitzender und Fraktionschef im Bundestag. Der 79-Jährige schreibt zum SPD-Jubiläum: „Eine eindrucksvolle Geschichte, die Fortsetzung braucht.“

Ludwig Stiegler, lebendes Denkmal der Weidener SPD. Archivbild: SPD

160 Jahre wird die deutsche Sozialdemokratie in diesem Monat, 125 Jahre davon wirkt sie in Weiden. Bestehen und Wachsen im Wandel der Zeiten, gegründet noch im Königreich Bayern. In der Prinzregentenzeit erlebten Mitglieder und Sympathisanten den ersten Weltkrieg, das Ende von Kaiser und König und die Ausrufung des Freistaats Bayern.

Anschließend eine kurze Räterepublik, Spaltungen und Wiedervereinigungen der Partei, eine prekäre Demokratie in der Weimarer Zeit, Unterdrückung, KZ, Verfolgung, Vertreibung und Emigration in der Nazizeit. Schließlich den 2. Weltkrieg, die bedingungslose Kapitulation, den Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland mit Weiden als Zentrum im Zonenrandgebiet, die neue Deutsche Einheit, ein zusammenwachsendes Europa und aktuell wieder Krieg in Europa.

Arbeiterleben damals wie heute in der Dritten Welt

Es ist wie ein Theaterstück mit vielen Szenen, euphorisch, tragisch, komisch, ernst und heiter. Aktuell stellt die SPD in Weiden den Oberbürgermeister, im Bund den Bundespräsidenten, die Bundestagspräsidentin und den Bundeskanzler. Das hätte man ihr bei der Gründung nicht zugetraut. Die fand auch in einer im Vergleich zu heute anderen Welt der Arbeit und der Gesellschaft statt. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, wie es den Arbeiterinnen und Arbeitern in der ersten Zeit der Industrialisierung erging, muss heute in die Elendszentren der Dritten Welt schauen.

SPD-Geschichte ist wie ein Theaterstück mit vielen Szenen, euphorisch, tragisch, komisch, ernst und heiter.Ludwig Stiegler

Die Gründung der SPD in Weiden ist ein Erfolg der Nürnberger Genossen, die zu Fuß und mit Rucksack die Oberpfalz bewanderten und die sozialdemokratischen Ideen predigten. Industrialisierung (Glas und Porzellan) und der Eisenbahnanschluss hatten die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Nürnberger Wanderprediger geschaffen.

Spott für „königlich bayerische Sozialdemokraten“

Die Impulse aus Nürnberg sagen mir heute, dass die Missionare aus Nürnberg August Bebel, der 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands in Eisenach gründete, näher standen als Ferdinand Lassalle, der 1863 den Allgemeinen Arbeiterverein in Leipzig startete. Die Franken waren lange Zeit linker und radikaler als die Oberbayern unter den führenden Genossen Georg von Vollmar und Erhard Auer, die in der damaligen Zeit von den Norddeutschen gelegentlich als „königlich bayerische Sozialdemokraten“ verspottet worden sind.

Dass der Freistaat Bayern von den bayerischen Sozialdemokraten gegründet worden ist, ist leider nur halb wahr. Der Freistaat Bayern wurde von dem aus Berlin zugewanderten Journalisten und Neukantianer Kurt Eisner und seinen Gefolgsleuten in der SPD-Abspaltung USPD ausgerufen und damit gegründet. Nach einer großen Kundgebung am 8. November 1918 war Erhard Auer mit der großen Mehrheit der MSPD schon friedlich abgezogen, als Kurt Eisner mit seiner radikaleren Minderheit Soldaten in den Kasernen mitzog und den Freistaat Bayern ausrief, der sich dann allerdings nur durch das Mitmachen der MSPD und der radikalen Bauern aus Niederbayern kurze Zeit konsolidieren konnte.

Zwei sozialdemokratische Zugpferde: Ludwig Stiegler und Renate Schmidt. Bild: SPD

Keine Mehrheit für die Räterepublik

Nach den Landtagswahlen, wo die USPD Eisners nur sehr wenige Stimmen erhalten hatte, ist Kurt Eisner auf dem Weg zum Landtag, wo er seinen Rücktritt erklären wollte, von einem Rechtsradikalen erschossen worden. Unterstützer der danach ausgerufenen Räterepublik wie Ernst Toller und Erich Mühsam gehörten später zu den von den Nazis verbannten und verbrannten Dichtern. Mit der auch von der MSPD unterstützten Niederschlagung der Räterepublik waren die Versuche, in Bayern eine soziale Republik zu schaffen, gescheitert und die Arbeiterbewegung endgültig in Sozialdemokraten und Kommunisten geteilt.

Bayern wählte auch mit Frauenwahlrecht konservativ und rechts. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren in der Provinz anders als in den Industriemetropolen München-Augsburg-Nürnberg. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass wir in Bayern nach dem 2. Weltkrieg zwar eine Hoegner’sche Verfassung haben, und Wilhelm Hoegner auch Ministerpräsident war, Bayern aber unter CSU-Herrschaft geriet, wenn heute auch nicht mehr mit absoluter Mehrheit, weil sich die Welt verändert hat. In Bayern hofft die SPD deshalb, die Niederlage bei der letzten Landtagswahl hinter sich zu lassen und wieder an die Erfolge von Renate Schmidt anzuknüpfen.

Verfolgte Weidener Sozialdemokraten

In der NS-Zeit sind auch Weidener Sozialdemokraten verfolgt worden. Josef Mörtl und sein Bruder, die aus Prag SPD-Schriften schmuggelten, sind wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt und ins KZ Dachau verfügt worden, Josef Mörtl dann von Himmler persönlich ins Strafbataillon versetzt, aus dem der in Griechenland desertieren konnte. Fritz Ecker musste über die Tschechoslowakei nach Stockholm emigrieren. Mörtl und Ecker gehörten zu denen, die die SPD in Weiden, die am 22. Juni 1933 verboten worden war, 1945 wieder gründeten und kommunale Ämter übernahmen.

„Ich war „dem Zebisch sei Bleistift“.Ludwig Stiegler

Aus der Wiederaufbaugeneration sind die Oberbürgermeister Hans Schelter und Hans Bauer nicht wegzudenken. Für Aufbau und Entwicklung der Partei war aber vor allem Franz Zebisch federführend, der die Weidener SPD als Partei der Arbeit profilierte. Ich war neben Studium, Referendarzeit und junger Anwaltszeit von 1967 bis 1980 Mitarbeiter in seinem Bundestagsbüro. Zusammen mit Hilde Zebisch (damals Fräulein Kraus) habe ich als „dem Zebisch sei Bleistift“, wie der Detag-Wirt Hoyer einmal sagte, aus dem Blick eines Betriebsratsvorsitzenden die Arbeitswelt in allen Facetten kennengelernt.

Empfang in der Landesvertretung Bayerns: Franz Josef Zebisch und Bundesministerin Käte Strobel (1968). Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F026590-0028 / Gräfingholt, Detlef / CC-BY-SA 3.0

Schlange vom Dachgeschoss bis auf die Straße

Er war der Kümmerer für seine Kolleginnen und Kollegen. Wenn er Sprechstunde hielt, warteten die Leute im Sparkassenhaus vom Dachgeschoss bis auf die Straße. Rudi Habla, Gisela Birner, Helmut Kötteritzsch und Karl Hölzl sind MitstreiterInnen, die die Nachkriegsentwicklung der WeidenSPD maßgeblich geprägt haben.

Franz Zebisch wollte, dass ich sein Nachfolger werde, obwohl ich eigentlich an der Uni als Arbeitsrechtler bleiben wollte und schon an der Promotion mit dem Thema „Die Mitbestimmung des Betriebsrates in wirtschaftlichen Angelegenheiten“ saß. Ich habe es nicht bereut, ihm gefolgt zu sein und mich der Missionsaufgabe in der Diaspora gestellt. Fast alle Gemeinden des Wahlkreises hatten am Ende meiner Amtszeit einen Ortsverein und die Zahl der Mitglieder im Unterbezirk Weiden überstieg 1998 die 5000, womit wir unsere Gründer in Nürnberg überholten.

Fast alle Gemeinden des Wahlkreises hatten am Ende meiner Amtszeit einen Ortsverein und die Zahl der Mitglieder im Unterbezirk Weiden überstieg 1998 die 5000, womit wir unsere Gründer in Nürnberg überholten.Ludwig Stiegler

Teure Regierungsverantwortung in Krisenzeiten

Aber Regierungsverantwortung in Krisenzeiten hat uns Stimmen, Vertrauen und Mitglieder gekostet, die bei uns wie in ganz Bayern bisher nicht wieder ersetzt werden konnten. Wir brauchen einen neuen missionarischen Ansatz. Die neuen Medien sind kein Ersatz für die solidarische Zusammenarbeit im Ortverein. Und die SPD muss wieder in erster Linie Partei der Arbeit sein. Alle Veränderungen, die global, regional oder lokal auf uns zukommen, muss die SPD als erstes unter dem Blickwinkel der Arbeitswelt betrachten und bewerten.

Wir leben in einer Welt kataraktischer und disruptiver Veränderungen. Unsere erste Aufgabe ist es deshalb, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit im Wandel zu geben. Seit ihrer Gründung hat die SPD viel bewegt und erreicht. Das gilt es zu bewahren und gleichzeitig den Klimawandel und die Digitalisierung zu bewältigen. Ein Blick in die lange Parteigeschichte lehrt uns, dass unsere Vorfahren ganz andere Brocken zu bewältigen hatten. Politik ist selten „Triumph des Augenblicks“ sondern meist „Glanz der Dauer“.

Krisenmanagement statt Utopie

Zur Gründerzeit herrschte die Utopie einer besseren Zukunft („Mit uns zieht die neue Zeit!“). Bebel verkündete noch den „großen Kladderadatsch“; dann sei die neue Gesellschaft da. Heute treibt uns die Sorge, das Erreichte erhalten und verbessern zu können angesichts Klimakrise, Digitalisierung und dem demografischen Wandel, dem Krieg und der Migration. Wir haben also nicht mehr nur den Traum von einer besseren Welt, sondern auch den Alptraum einer sich wieder verdüsternden Welt zu verarbeiten und in Tatkraft zu wandeln.

Wir haben also nicht mehr nur den Traum von einer besseren Welt sondern auch den Alptraum einer sich wieder verdüsternden Welt zu verarbeiten und in Tatkraft zu wandeln.Ludwig Stiegler

Zwischen Utopie und Dystopie gilt es die Hoffnung zu wahren. Das gelingt uns nur mit dem schon nach dem Krieg von Waldemar von Knoeringen geforderten „Große Gespräch“ über Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Wir leben mit den neuen Medien aber in einer Zeit der Individualisierung und Compartierung in Echokammern. Das gilt es auch lokal zu bekämpfen und zu überwinden. Das geht aber nur mit Solidarität der Starken mit den Schwachen und Gemeinsamkeit weiter vorwärts.

Niemand von uns kann von dem leben, was er selber schafft. Ohne internationale, nationale und lokale Arbeitsteilung geht es nicht. Die gelingt aber nur mit Gerechtigkeit. Wir können uns also nicht auf unserer Geschichte ausruhen sondern müssen weiter Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erkämpfen und uns darin bewähren. Glückauf WeidenSPD!

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