Großes Echo für Zeitzeugen-Doku „Suche nach den Verlorenen“
Tirschenreuth. Welturaufführung mit großem Echo: Die „Suche nach den Verlorenen“ des Dokumentarfilmers Michael Teutsch füllt zweimal den Kinosaal des Cineplanet. Vormittags verfolgen Schulklassen das Porträt von sechs jüdischen Holocaust-Überlebenden, abends die etwas ältere Generation. Darunter auch Zeitzeugin Dorothea Woiczechowski-Fried.
„Es war eine gute Vorstellung“, freut sich Dokumentarfilmer und Regisseur Michael Teutsch, „und wenn dann auch noch das Kino voll belegt ist, dann macht das den Filmemacher glücklich.“ Dem Sohn eines KZ-Aufsehers und SS-Offiziers war es ein Anliegen, sechs jüdische Schicksale zu porträtieren, um das Leid der Holocaust-Überlebenden mit der Biografie des Vaters zu kontrastieren.
„Meinen Vater hatte ich in meinem Leben nur wenige Male gesehen“, berichtet der Filmemacher. Zurück in Deutschland nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft hatte er die Mutter verlassen, weil sie Arm in Arm mit einem Engländer gesichtet worden sei. „Aus der Sicht meines Vaters also mit dem Feind.“ Um sich selbst ein Bild von diesem unbekannten Vater zu machen, besuchte er Rudolf Teutsch und dessen zweite Frau Irma bereits vor Jahrzehnten in Dortmund.
„Rudi war Erz-Nazi, er riecht das“
Seine Hoffnung damals: „Vielleicht wäre es ja möglich, Rudolf Teutsch in einen Dokumentarfilm einzubinden, den ich über den Überlebenden und authentischen Protagonisten Georg Heisler, aus Anna Seghers‚ ,Das siebte Kreuz‘, drehen wollte.“ Die Begegnung sei ernüchternd gewesen. „Obwohl ich nur wenig über meine politische Einstellung geäußert hatte, sagte er plötzlich: ,Irma, mein Sohn ist ein Roter‘.“ Stiefmutter Irma meinte später lachend in einem Gespräch mit Teutsch: „Der riecht das – Rudi war Erz-Nazi, er hat Kommunisten gehasst aufs Blut.“
Den Vorschlag, seine Sicht auf die Vergangenheit im Dokumentarfilm darzulegen, habe der während des II. Weltkriegs dekorierte Waffen-SS-Mann brüsk, beinahe panisch zurückgewiesen: „Es würde heute alles falsch dargestellt und er wolle sich seine Erinnerung nicht zerstören lassen.“ Michael Teutsch verzichtete dennoch nicht auf die biografische Spurensuche und kontrastiert in der „Suche nach den Verlorenen“ die jüdischen Lebensläufe mit dem Gespräch mit der inzwischen verstorbenen Stiefmutter – nachgestellt von der Schauspielerin Ilona Grandke als Lesung.
„Gnade der späten Geburt“
Teutsch selbst habe wegen der Nazi-Überzeugung seines Vaters, die dieser nie ablegte, keine Schuldgefühle: „Ich genieße da sozusagen die Gnade der späten Geburt“, zitiert er Günter Gaus mit einem Ausspruch, den sich später Helmut Kohl zu eigen machte. „Meine Verantwortung liegt darin, beizutragen, dass dieses Deutschland ein demokratisches, weltoffenes Land bleibt, um Faschismus und Antisemitismus in jedweder Form zu verhindern.“
Eindrucksvoll stehen sich in der Dokumentation die betonierten rassistischen, antisemitischen und rückwärtsgewandten Feindbilder des Vaters und die lebensbejahenden Entwürfe der Holocaust-Überlebenden gegenüber, die trotz unermesslichen Leids und der Ermordung ihrer Familien und Freunde durch ein mörderisches Regime die Kraft fanden, ihren Kindern eine positive Perspektive zu vermitteln.
Irmas Zwiespalt
Irmas Verhältnis zu ihrem Mann ist zwiespältig: „Ausgerechnet dich alten Nazi musste ich heiraten“, habe sie mal zu ihm gesagt. Und: „Was mir gar nicht gefällt, ist dieser Judenhass“, äußert sie gegenüber Michael Teutsch im Münchener Olympiaturm, „das sind doch Menschen wie du und ich.“ Andererseits glaubt sie den Beteuerungen Rudolfs, wenn der behauptet: „Mit Juden-Vergasungen hatte ich nichts zu tun, das war im Geheimen.“ Auch Irmas Schilderungen stehen unter dem Vorbehalt der Befangenheit.
Schwer vorstellbar bei einem KZ-Aufseher, auch wenn er in dieser letzten apokalyptischen Phase der nationalsozialistischen „Endlösung“ an der Front eingesetzt war. Seine hasserfüllten Bemerkungen über Israel klingen ganz im Sinne der menschenverachtenden Nazi-Ideologie: „Wenn ich nochmal 25 wäre, würde ich es den ganzen Engländern und Franzosen zeigen“, habe er gegenüber Irma geprahlt. Und Israel? „Eine Bombe drauf und fertig.“ Dass sie ihrem Mann dennoch abnahm, vom Holocaust nichts gewusst zu haben, mag auch Selbstschutz sein.
Vom KZ-Aufseher an die Front
„Ich kenne die Geschichte meines Vaters nur bruchstückhaft“, macht Teutsch klar, dass der Versuch einer Rekonstruktion keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit der ganzen Wahrheit beanspruchen kann. „Meine Mutter hat das vergraben.“ Sie habe ihn zwar mal im KZ besucht, wo er gearbeitet hatte. „Aber ich weiß nicht, was er dort wirklich gemacht hat“, habe sie dem Sohn erzählt. „Heute weiß ich, dass er als KZ-Aufseher seinen Dienst versah.“ Rudolfs zweite Frau Irma nimmt ihn dennoch in Schutz: „Da war im KZ noch nichts los, erst im Krieg hat das Vergasen begonnen.“
Im Mai 1940 sei er als einfacher Infanterist zum Frankreich-Feldzug eingezogen worden. Auch so ein Beleg, dass er eher ein kleines Licht gewesen sein soll. „War er an der Front?“, will Teutsch wissen. „Ganz zum Schluss bei der Waffen-SS, in Afrika als Infanterist.“ Als er Michaels Mutter kennengelernt habe, sei er Leutnant gewesen, und hätte für seinen Vorgesetzten Säcke voller Geld beiseiteschaffen müssen. „Stell dir vor, Irmi“, habe er ihr erzählt, „ich wäre damit durchgebrannt.“
„Wir waren ja alle Nazis“
Lediglich ein opportunistischer Mitläufer sei er allerdings auch nicht gewesen. Schließlich war ihr „Rudi“ bereits um 1930 herum, also vor Hitlers Machtergreifung, in die NSDAP eingetreten. „Er hat sich voll in den Dienst der Partei gestellt“, sagt Irma und gibt offen zu: „Wir waren ja alle Nazis, im Grunde ganz Deutschland. Als dann das Reich zusammenbrach, hätten alle den Schwanz eingekniffen. Nicht aber der Rudi: „Der bekennt sich immer – immer zur falschen Sache.“
So weit gehen aber die Bekenntnisse des Rudolf Teutsch auch wieder nicht, dass er offen im Dokumentarfilm seines Vaters über seine Vergangenheit sprechen würde. Vielleicht auch deswegen, weil er es in Dortmund beruflich durchaus zu etwas gebracht hat. Statt in der Schmutzwäsche der eigenen Vergangenheit zu wühlen, bleibt er lieber bei den Stammtisch-Brüdern hängen. So bleibt Michael allein das Zeugnis der Stiefmutter.
Sechs jüdische Schicksale und das Leben danach
In seinem Dokumentarfilm „Suche nach den Verlorenen“ lässt Regisseur Michael Teutsch sechs jüdische Holocaust-Überlebende zu Wort kommen: Elisabeth Erez, Norman Zysblat, Mordechai Segal, Alphonse Cerf sowie die beiden Wahl-Tirschenreuther Alexander Fried (†) und Dorothea Woiczechowski-Fried.
Besonders berührend: Das Schlusswort des damals 94-jährigen Alexander Fried zur seit Jahrhunderten währenden Verbundenheit der Juden mit europäischer Kultur, seinem Lebensgefühl als Weltbürger und seiner nie gestillten Sehnsucht, an einer besseren Welt mitzuwirken.
Der stets versöhnliche Alexander, dessen Zitat namensgebend für den Film werden sollte, sucht immer das Gute im Menschen. Dennoch kann er der Täter-Generation die bittere Wahrheit nicht ersparen: „Sie haben nichts gesehen und nichts gehört, sagen die Vorbeigehenden. ,Wann ist das geschehen?‘, fragen sie.“ Am 23. April 1945 habe man ihn und seinen Bruder zum Todesmarsch gejagt. „Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die Verlorengegangenen zu finden.“
Dokumentiert für die Nachwelt ist auch die rührende Liebesgeschichte von Doro und Alexander, deren Hochzeit in Prag und ihr gemeinsames Leben als Philemon und Baucis in Tirschenreuth. Dorothea Woiczechowski-Fried schildert auch das gespaltene Verhältnis vieler Juden zu einem Jahwe, der den Holocaust zugelassen habe: „Gott steht vor Gericht und die Rabbiner debattieren und debattieren, wie das so ist bei Juden – und am Schluss kommen sie zu dem Schluss und sagen, ,Gott ist schuldig‘ – lass uns in die Synagoge gehen und beten.“
Zeitzeugin Elisabeth Erez beklagt in dem Gespräch: „Die Generation meiner Kinder interessiert sich überhaupt nicht – die wissen über mich überhaupt nichts.“ Für die Israelin eine Möglichkeit, ihren Nachfahren ihre Lebensgeschichte zu hinterlassen. Dazu gehört, dass die Tochter eines Berliner Apothekers und einer schöngeistigen Mutter das harte Leben in einem israelischen Kibbuz kennenlernt. „Wir kamen im Juli 1937 in Palästina an, und standen erst einmal erschrocken vor einer Kamel-Karawane.“ Dazu das ungewohnte Frühstück mit unbekannten Oliven, Händler in der Altstadt von Jerusalem, die den Fremden Nazis hinterherrufen, weil sie Deutsch sprechen. „Wir wohnten in einer kleinen, noch unbewohnten Siedlung, eine kleine Zweizimmerwohnung, kein elektrisches Licht, aber Wasser.“ Eines Tages bekommt das Mädchen hohes Fieber: „Wir beschlossen nach Tel Aviv zu gehen.“ Ein ihnen aus Berlin bekannter Arzt diagnostiziert Flecktyphus. „Das musste eigentlich gemeldet werden.“ Der Arzt hält dicht, Papa Apotheker schickt Medikamente. Der selber Vater, der sich aus Verzweiflung über den Freitod seiner Frau später mit Zyankali ebenfalls das Leben nehmen sollte.
Der Franzose Alphonse Cerf schildert seine Erlebnisse im kleinen lothringischen Weiler Niederwiese. „Schon 1932 hörte man viel von Hitler, das Geschrei, ,es wird wahrscheinlich bald Krieg geben‘.“ Er habe zwar acht Jahre Französisch in der Schule gelernt, aber zu Hause den hiesigen deutschen Dialekt gesprochen. „In diesem Dörfchen lebte seit 300 Jahren die jüdische und katholische Gemeinde friedlich zusammen.“ Mit der Fertigstellung der Befestigung, der Maginot-Linie, werden die Franzosen zu den Waffen gerufen und die Bewohner an der Linie evakuiert. Auch die Familie Cerf, die 1942 das Milchgeschäft schließen muss. Er erinnert sich noch an das gegrölte Nazi-Lied: „Krumme Juden zieh‘n dahin, daher; sie ziehen durch das rote Meer, die Wellen schlagen zu und die Welt hat Ruh!“
Norman Zysblat überlebt das deutsche Mörder-Regime in England: „Meine Wurzeln sind deutsch, ich bin die erste Generation in Großbritannien.“ Er erzählt von der Blütezeit jüdischen Lebens während der Weimarer Republik in Leipzig. „1938 trieben die Nazis die Juden zusammen und nach Polen.“ Seine Familie habe es geschafft, nach London zu entkommen. Die Großmutter aber bleibt in Warschau: „Als sie von den Kindertransporten hörte, schaffte es sie es, ihre drei Töchter zurück nach Leipzig zu schicken und ihnen Tickets für den Zug nach London zu verschaffen.“ 10.000 jüdische Mädchen und Jungen entkommen so dem Nazi-Terror und finden in Pflegefamilien ein neues Zuhause. „Selbstverständlich wollte ich auch am zionistischen Traum teilzunehmen“, sagt Zysblat, „und wurde nicht enttäuscht.“ Wie in einer guten Oper, sei man heute erst bei der Ouvertüre. „Trotz aller Probleme in einem Land, das vor 60 Jahren von fünf Ländern angegriffen wurde, sich selbst verteidigte und Flüchtlinge aufnahm, ist Israel heute stärker als je zuvor.“ Die Israelis seien immer bereit gewesen, ein Abkommen mit den Arabern zu schließen: „Sie sind nicht bereit, uns hier zu akzeptieren.“
Mordechai Segal erinnert an seine Familiengeschichte: „Meine Eltern hatten eine Kaffeerösterei in der Berliner Kochstraße.“ Als sich die Lage in Nazi-Deutschland zuspitzt, warten die Segals angespannt auf Ausreisepapiere für Palästina. Weil die nicht kommen, versuchen sie nach Polen zurückzukehren, wo man die Einreise verweigert. Ende Oktober 1938 werden dann polnische Juden gewaltsam nach Polen ausgewiesen. „Darunter auch die Familie von Herschel Feibel Grynszpan.“ Dessen Schwester Berta habe ihm nach Paris geschrieben: „Hilf uns, wir haben nichts zum Essen und Trinken.“ Aus Wut und Verzweiflung erschießt er am 7. November 1938 in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Der Startschuss für die vom NS-Regime ausgerufene „Reichskristallnacht“.
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