Interview mit Historiker zu Nazi-Straße in Weiden: “Umbenennen ohne Zögern”

Weiden. Der Historiker Dr. Marc Rothballer hat zur Namensgebung von Straßen in Weiden und Passau geforscht. In seinem Buch "Ehrenmänner und Straßenfeger", 2025 erschienen im Verlag Friedrich Pustet, greift er auch ein heißes Eisen in der Stadt Weiden auf: die Dr.- Johann-Stark-Straße in der Mooslohe.

Dr. Marc Rothballer hat zur Vergabe von Straßennamen in Weiden und Passau geforscht. Foto: Stephan Schumann

OberpfalzECHO: Ihr Buch kommt zur richtigen Zeit. In Weiden entbrennt gerade einmal wieder die Diskussion um die Dr.-Johann-Stark-Straße. Ein entsprechender Antrag auf Umbenennung wird am Montag in der Stadtratssitzung diskutiert. Der Physik-Nobelpreisträger war glühender Nationalsozialist. 

Dr. Marc Rothballer: Ich würde ja eher sagen, dass der glühende Nationalsozialist Stark auch Physik-Nobelpreisträger war – man sollte aufhören, Stark lediglich als „glühenden Nationalsozialisten“ im Nachsatz zu seiner Tätigkeit als Physik-Nobelpreisträger zu kennzeichnen, als wäre das eine Randnotiz. Stark war spätestens seit Anfang der 1920er Jahre ein überzeugter Antisemit und völkischer Agitator. Seine politische Haltung war keine Phase, sondern prägend für sein gesamtes öffentliches Wirken – bis über 1945 hinaus.

OberpfalzECHO: Wie konnte es dann passieren, dass nach ihm eine Straße benannt wurde?

Rothballer: Die Benennung der Weidener Stark-Straße erfolgte im April 1972 auf Vorschlag der städtischen Vermessungsabteilung. Man war in dem damaligen Neubaugebiet offenbar bemüht, Personen zu finden, die im technischen oder wissenschaftlichen Kontext mit der bereits bestehenden Oskar-von-Miller-Straße harmonierten. Dass Stark Nobelpreisträger war – und dazu noch der einzige aus der Oberpfalz – reichte offenbar als vermeintliches Gütesiegel. Über die politischen Abgründe seiner Biografie wurde vermutlich gar nicht näher nachgeforscht. Dabei hätte man 1972 sehr wohl wissen können – und eigentlich müssen –, dass Stark ein radikalisierter, antisemitischer Nationalsozialist war. Er hat schon in den 1920ern in Weiden gegen Juden gehetzt.

Wäre ich Stadtrat und müsste darüber entscheiden: Selbstverständlich würde ich der Straße einen anderen Namen geben, und ohne jedes Zögern. Wer möchte schon einen Antisemiten ehren? Dr. Marc Rothballer

OberpfalzECHO: Sie schreiben in Ihrem Vorwort: “Diese Arbeit gibt keine Empfehlung.” Aber – Hand aufs Herz – würden Sie der Dr.-Johann-Stark-Straße nicht auch gern einen anderen Namen geben?

Rothballer: Wäre ich Stadtrat und müsste darüber entscheiden: Selbstverständlich würde ich der Straße einen anderen Namen geben, und ohne jedes Zögern. Wer möchte schon einen Antisemiten ehren? 2009/10 wurde ja schon einmal über diese unsägliche Benennung diskutiert. Leider hat sich die Stadt damals wohl mehr Gedanken über die Kosten gemacht, die eine solche Umbenennung bei den gewerblichen Anliegern verursacht, als über die Frage, welche Wirkung die fortdauernde Ehrung eines Hetzers und Judenhassers hat. Sicherlich, Stark war anfangs auch verdienter Wissenschaftler, und so sehr er den Nobelpreis auch verdient haben mag – sein politisches Wirken und auch seine spätere wissenschaftliche Tätigkeit („Arische Physik“) disqualifizieren ihn meines Erachtens vollständig für jegliche Form der öffentlichen Ehrung.

OberpfalzECHO: Hätten Sie einen Favoriten für eine Alternative?

Rothballer: Der aktuell diskutierte Vorschlag, die Straße nach Heinrich Hertz umzubenennen, wäre eine Möglichkeit – Hertz war auch Physiker und das würde zu den übrigen Straßen der Gegend passen, aber er hat keinen Bezug zu Weiden. Aber sicherlich wäre auch Dietrich Bonhoeffer, der im KZ Flossenbürg ermordet wurde, eine passende Wahl. Oder gibt es gar eine ehrenwerte Weidnerin? Frauennamen gibt es nämlich bislang auffällig wenige auf den Weidener Straßen.

OberpfalzECHO: Sie erwähnen in Ihrem Buch aufrechte Widerstandskämpfer der Stadt Weiden, wie etwa SPD-Parteisekretär Fritz Ecker, dem Autor von “Die Hölle von Dachau” von 1934 oder Nikolaus Rott, ebenfalls ein Sozialdemokrat, der eine Weidener Jüdin versteckte. Warum gibt es in Weiden so wenig Straßen mit Namen von NS-Gegnern? 

Rothballer: Das dürfte vor allem mit dem Zeitpunkt ihres Todes zu tun haben. Nach 1945 wurden in Weiden tatsächlich einige Straßen nach Opfern oder Gegnern des NS-Regimes benannt – etwa nach dem Juden Hermann Fuld oder dem SPD-Stadtrat Franz Mörtl, die durch das Regime im KZ Dachau ermordet worden waren. Sie zu ehren, das fiel der Stadtgesellschaft unmittelbar nach Kriegsende vergleichsweise leicht, Bürgermeister Pfleger war hier der treibende Akteur. Fritz Ecker oder Nikolaus Rott hingegen überlebten den Nationalsozialismus um viele Jahre – und das machte sie für viele in ihrer Umgebung unbequem. Sie erinnerten ihre Mitbürger daran, dass es sehr wohl möglich gewesen wäre, Widerstand zu leisten oder moralisch gut zu handeln. In einer Nachkriegsgesellschaft, die primär auf Verdrängung setzte, galten solche Menschen als Störenfriede.

Warum sie selbst nach ihrem Tod in den 1970ern bzw. 1980ern bis heute keinen Straßennamen erhalten haben, kann viele Gründe haben: parteipolitische Dynamiken, schlichtes Vergessen – oder die Tatsache, dass ihre Verdienste erst spät wieder ins kollektive Gedächtnis zurückgefunden haben.

OberpfalzECHO: 216 Straßen in Weiden sind laut Ihrer Studie nach Personen benannt. Wer hat das über die Jahrzehnte eigentlich entschieden? Und wie sollte aus Ihrer Sicht ein Benennungsprozess ablaufen – Sie haben ja auch den Vergleich zu Passau. Was kann man besser machen in künftigen Wohn- und Gewerbegebieten?

Rothballer: Weiden ist da schon ganz gut aufgestellt, Passau taugt hier nur bedingt als Vorbild: Dort haben über Jahrzehnte zwei dominante Stadtheimatpfleger die Straßenbenennung geprägt und lokale Namensgeber vorgeschlagen, die ohne weitere Prüfung von der Verwaltung bzw. vom Stadtrat übernommen wurden. Das rächt sich heute, bei etlichen dieser Passauer Namensgeber kommt bei näherer Betrachtung eine zumeist braune Vergangenheit ans Tageslicht.

In Weiden war in der Nachkriegszeit zudem für lange Zeit das Baudezernat für das Thema Straßen und Straßennamen zuständig, während in Passau für die Benennung das Kulturamt verantwortlich war. Entsprechend finden sich in Weiden verhältnismäßig weniger lokale Persönlichkeiten als in Passau auf den Straßenschildern; das „kulturferne“ Baudezernat griff eher zu nationalen Größen als zu lokalen Heroen. Auch fand in Weiden eine bessere, parteiübergreifende Verständigung über Namensgeber unter den wechselnden politischen Mehrheiten statt als in Passau, wo die CSU sehr lange Zeit politisch dominierte.

Dennoch kann man etwas besser machen: Sofern man nicht gänzlich auf Personen als Namensgeber für Straßen verzichten möchte, sollte man zumindest klare Kriterien definieren, wann jemand als nicht ehrwürdig erachtet wird: Zum Beispiel im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung nach relevanten Tatbeständen des Strafgesetzbuchs. Ebenso müssen politische oder ideologische Haltungen berücksichtigt werden, die einer demokratischen Gesellschaft fundamental widersprechen. Es geht nicht darum, moralisch perfekte Menschen zu ehren – aber um integre Vorbilder. Auch sollten Namensgeber, die in die engere Wahl für die Benennung einer Straße kommen, standardmäßig vom Stadtarchiv überprüft werden. Zumindest sollte für Namensgeber aus der NS-Zeit nachgeforscht werden, ob und in welcher Weise sie in NS-Gruppierungen aktiv waren und welche Schlüsse sich aus ihrem Entnazifzierungsverfahren ziehen lassen.

Zusatzschilder sind kein Kompromiss, sie sind ein Feigenblatt. Eine Scheindebatte. Dr. Marc Rothballer

OberpfalzECHO: Ihnen ist zu verdanken, dass auch die Namensgebung mit Anton Wurzer inzwischen kritisch hinterfragt wird. Sie haben die NS-Aktivitäten des Heimatdichters recherchiert. Sind noch mehr solcher “Ausreißer” zu befürchten? 

Rothballer: Gerade bei lokalen Persönlichkeiten wie Wurzer ist die Forschungslage oft dünn. Anton Wurzer ist ein Paradebeispiel für selektive Erinnerung. Er war Lehrer und Autor und wurde lange Zeit als unpolitischer Heimatdichter gefeiert – nicht zuletzt auch deshalb, weil er nach 1945 selbst aktiv daran mitwirkte, seine Rolle im Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Nachkriegsgesellschaft war nur allzu bereit, das Vergangene zu vergessen, und sie war dankbar, dass es jemanden wie Wurzer gab: Die verbindende Idee von „Blut und Boden“ und „Nation” war 1945 krachend gescheitert, jetzt konnte man Erfüllung und Muse im unbefleckten Begriff der „Heimat“ finden. Und Wurzer konnte mit seinen Werken nach 1945 wunderbar daran anknüpfen und wurde folglich als Heimatdichter erinnert und geehrt. Dass er bereits in den 1920er Jahren im völkischen Milieu aktiv war, später auch Scharführer in der Hitlerjugend und sogar Mitarbeiter des Sicherheitsdienst der SS war, spielte keine Rolle mehr. Genau deshalb ist es so wichtig, dass man diese Biografien genau prüft – bevor man sie (weiterhin) öffentlich ehrt.

Und freilich gibt es noch mehr Namensgeber, die fragwürdig sind: Ludwig Thoma etwa, ohne Zweifel ein begnadeter Heimatschriftsteller, ist aufgrund seines unerträglichen Antisemitismus in den letzten Lebensjahren in dieser Hinsicht ebenfalls problematisch und kann heute kaum zum Vorbild dienen.

Nur mit guter Sehkraft zu entziffern: Seit 2010 ist die Dr.-Johann-Stark-Straße mit einem Zusatzschild versehen. Foto: Christine Ascherl

OberpfalzECHO: Noch ein Letztes: Was halten Sie vom Kompromiss, die Straßenschilder mit einem Erklärschild zu versehen, um auf den Konflikt hinzuweisen?

Rothballer: Ganz offen: Gar nichts. Zusatzschilder sind kein Kompromiss, sie sind ein Feigenblatt. Eine Scheindebatte. Straßenbenennungen sind immer und ausnahmslos Ehrenakte – keine pädagogischen Mittel. Straßennamen werden nie vorausschauend mit Zusatzschildern versehen – sie kommen immer erst nachträglich, wenn ein Namensgeber problematisch geworden ist. Zwar wird dann immer von „gelebter Erinnerungskultur“ gesprochen, aber in den allermeisten Fällen sind solche Zusatztafeln nur die kostengünstigere Lösung anstelle einer Umbenennung. Sie haben auch kaum den Platz, um sich kritisch dem Namensgeber zu widmen, sie sind nur vor Ort am Straßenschild sichtbar – mit so einem Erklärschild ist nichts gewonnen. Zumal es, wie man aktuell am Beispiel der Stark-Straße sieht, die Diskussion auch nicht beenden kann. Zusatzschilder schieben eine endgültige Entscheidung der Umbenennung nur auf.

Wenn man jemanden nicht mehr für ehrwürdig hält, dann sollte man auch entsprechend handeln – und die Benennung aufheben. Alles andere ist ein Ablasshandel: „Wir wissen, dass das eigentlich nicht mehr passt, aber wir lassen’s trotzdem hängen.“ Das ist weder aufklärerisch noch aktive Erinnerungskultur – das ist bequem.

Buchtipp: “Ehrenmänner und Straßenfänger”, Dr. Marc Rothballer

Zum Inhalt: Straßennamen sind weit mehr als bloße Orientierungshilfen – sie spiegeln gesellschaftliche Machtkämpfe, Identitätsfragen und politische Diskurse wider. In dieser Studie werden die Straßenbenennungen in Passau und Weiden erstmals vergleichend unter die Lupe genommen und die dahinterliegenden Ehrregime, Benennungsmotive und Kontroversen beleuchtet. Im Fokus stehen insbesondere Personen der NS-Zeit, über deren Ehrwürdigkeit bis heute diskutiert wird. Dieser Band eröffnet dabei neue Perspektiven auf die symbolische Bedeutung von Straßennamen, die Verhandlungen um Erinnerungskultur im Verlauf der letzten zweihundert Jahre und die daran beteiligten Akteure.

Der Autor: Marc Rothballer, Dr. phil, geb. 1986, studierte Soziale Arbeit, Europäische Kulturwissenschaft und Geschichte in Nürnberg und Passau. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der freien Wohlfahrtspflege.

Der Titel: “Ehrenmänner und Straßenfeger – Eine vergleichende Studie von Straßennamen, Diskursen und Ehrregimen in Passau und Weiden”, ISBN 9783791735610, 608 Seiten, Verlag Friedrich Pustet, 56 Euro.

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