Jürgen Hubers Einbildungshaus: Was ist denn so ein Atelier eigentlich für ein Raum?
Schönsee. So habt ihr ein Atelier noch nie gesehen: Jürgen Hubers Einbildungshaus in Schönsee ist ein unendlicher Kosmos prall gefühlt mit Erinnerungen, Ideen und Visionen. Aus den Worten des Kolumnisten schöpft die Schöpfung ein Eigenleben, das Schöpfer und Betrachter verschlingen kann.
Das Land-Atelier ist 14 Meter tief und 10 Meter breit. Die Tiefe erschloss sich der Eintretenden sofort. Die ganze nordseitige Giebelfläche ist verglast, zweifach, mit großen Fensterscheiben und einer Tür. An dieser Nordseite geht die Besucherin über eine schmale Südhangterrasse entlang und – hinein.
Drahtglastür und doppelt verglaste große Scheiben. Außen rankt eine Ackerwinde am alten Stadelholz empor und wölkt dunkelgrün herabhängend im obersten Giebeldreieck. An den Seiten ist der Raum zwei Meter, in der Mitte vier Meter und achtzig Zentimeter hoch.
Raumgefühl wie im Museum
Wenn die Besucherin Bilder in diesem hohen Raum betrachtet, wird sie auch ausladende Formate nicht als übergroß erleben, die zu Hause bei ihr im Einfamilienhaus vielleicht viel mächtiger erscheinen, hier herrscht eher ein Raumgefühl ähnlich einem Museum. Zwischen senkrechter Wand und Decke sind Dachschrägen und Gebälk, das unterhalb der Isolierung und Beplankung sichtbar bleibt.
Vom Norden kommt man herein, obwohl man vom Süden, oft aus Regensburg anreist. Bleibt die unangemeldete Blind-Date-Besucherin ausgeschlossen, weil niemand da ist, könnte sie sich die Nase an den Scheiben platt drücken und manches sehen. Steht man am Eingang und schaut in die Tiefe des Raums, glotzt der trotz der großzügigen Verglasung kuhäugig düster zurück.
Alles verschluckender Stauraum
Die Augen der Tages-Besucherin brauchen einige Zeit, sich an das höhlenartige Licht zu gewöhnen. Hinten ganz dunkel. Dann flammen schon links und rechts die LED-Lämpchen auf und schicken weich ihre Licht-Schirmchen an die Galeriewände. Die Breite des Raumes wird an gut der Hälfte der Länge durch die vorgestellten Galeriewände eingeengt.
Dahinter entsteht der wundersam alles verschluckende Stauraum, Stellplatz, Bilderlager, Kistenlager, Kataloge, eine Schultafel, die großen hölzernen Planschränke, Plakatrollen, hunderte bemalte Glasscherben aus der Seerosen-Installation – und Bilder, Bilder, Bilder. An den Vorbauten, den Bildwänden, werden immer neu und immer anders Bilder aufgehängt, den Ateliergästen präsentiert, als Bilderschau, als Ausstellung, oft begleitend zu den häufigen Kunst-Theorie-Veranstaltungen. Ja das gehört für mich auch dazu, ist aber nicht Bedingung.
Krimskrams aus Jahrzehnten
Am oberen Rand stacheln die Wände, wie Igel, vor Nägeln und Stiften. Es lohnt nicht, all den Krims und Kram zu beschreiben, der hinter den Zeigewänden im Lauf der Jahre verschwunden ist. Das „Zeug“, schlummerte mehr als ein Dutzend, manches 20 Jahre ungesehen und ungestört, höchstens von Käfern, Hummeln, Mardern, den Hörnchen, den Wieseln und anderem Getier, zuweilen angeschaut, umgeblättert und berührt.
In den hintersten Ecken gibt es Nussschalenlager des Belotschka, dem Nabokovschen Eichhörnchen. Das Eichhörnchenfell wäre geeignet, die Tanzschuhe des Aschenputtels auszukleiden und dient angeblich dem Teufel immer noch als Zahlungsmittel. Keine NF-Token nennt er sein Eigen. Oder doch? Nicht in meinem Arbeitsraum. Auch die berühmte Felltasse von Meret Oppenheim gibt es hier nicht.
Einflüsse des Alten Fritz
Der gedeckte Tisch des Belka in Form der üppig beladenen und weit ausladenden Haselstauden steht tatsächlich vor der Tür und begrünt den der Glasfront gegenüber liegenden Hügel. Begrenzung zum noch darüber aufragenden Acker, der nicht selten von übermannshohen Mais bestanden wird, wie von einer ganzen Garnison Langer Kerls des Alten Fritz. Fritze aus Berlin, Berlin im Oberpfälzer Atelier? Nun. Berlin und Berliner Kunst als Anregerin der eigenen Kunstproduktion spielte immer eine Rolle.
Aber sehr viele Einflüsse gibt es heute nicht mehr, draußen im Landatelier, Ausflüsse der Berliner Einflüsse. Hineinflüsse der vielen kleinen Berliner Ausstellungen am Schlesischen Tor, der selten versäumten Schaufensterbesichtigung von Klaus Theuerkauf, dem unermüdlichen End-Art-Opa, skurriler Laut-Sprecher der Kunst, ein Zufluss in mein inneres Bilder- und Vorstellungsbassin.
Auf den Schultern der Vorgänger
Mein Einbildungshaus-Planschbecken. Meinen Hochbehälter. Einbildungs-Energie-Speicher. Man sitzt immer auf den Schultern der Vorgänger – etwas auch auf denen der Mitstreiter. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Man teilt sich mit. Ich teilte mich den anderen Streitern oft mit. Anlässlich der Messe Köln, Art Cologne. In den seit jeher eingespielten Künstlerkneipen, den Ateliers der billigen Viertel, der liebenswerten und nach Rolf Dieter Brinkmanns Urteil hassenswerten katholischen Großkunststadt.
Nie Düsseldorf, trotz zweier, dreier Versuche. Düsseldorfer Malkasten-Besuch ja, aber Köln, katholisches, bilderfreudiges, frohnatürliches Köln. Man sehe sich nur den Düsseldorfer Landtag an, so hässlich kann man bauen. So wird Berlin nie werden. Hoffentlich. So kann Regensburg nie sein. Köln ist mächtig. Regensburg wäre gern mächtig, ist aber eher zu oft wuselig aus verständlichem Unterschätztwerdenfrust.
Weltall an der Malwand
Die Besucherin folgt dem Meister durch den nun erhellten Raum, neben dem Fenster zum Hof gibt es noch einen wundersamen Lichtschalter für zwei leistungsstarke Halogenstrahler, die jene große Südwand erhellen, wie dereinst das jüngste Gericht die Register der armen Sünder der Domkapitelstadt ausleuchten wird. Diese Südwand ist gut 40 Quadratmeter groß. Knapp 5 mal 10 Meter, von Querbalken begrenzt. Die Malwand! Dort steht jetzt, kurz vor der Abholung ein Querformat, drei mal zwei Meter misst es.
Der Hintergrund des Gemäldes scheint das Welt-All, das Universum zu sein. Jedenfalls sieht die Besucherin hier das Untiefenblau der Romantik, das Ultramarin. Darüber eine Art Gerüst, vielleicht das Heideggersche „Gestell“, ein mit dickeren und dünneren Stegen und Brücken, mit Armen und Körpern verbundener Verbund. Einzelnes, Unterscheidbares aber trotzdem Zusammengehöriges.
Eine Republik. Eine öffentliche Angelegenheit, eine Städtebau-Architektur der Agora, der Sozialität des Gemeinwesens. Grünflächen. Die Rosigkeit des Fleisches, Verführungen, Augen, brennende Augenwirbel, Geometrie, Schatten, weiße Körper, gestische Figuren, gotische Figuren. Auch Malerei als Malerei. Konstruktion. Farbstimmung. Kühle Farbstimmung herrscht vor.
Titel sind Schall und Rauch
Das Bild ist in Noppenfolie verpackt. Es muss seit einer Museumsausstellung verpackt sein, denn es kleben noch die Aufkleber der Kunstspedition Hasenkamp an der transparenten Luftpolsterfolie. Das Bild heißt „Priamos“, doch ist vergessen, wie es dazu kam. Titel sind Schall und Rauch. Und doch bringen Titel Fantasie bei der Betrachterin auf den Weg. Der Ort des Ateliers hat es mit sich gebracht, hat manche Stimmung erzeugt, aus sich heraus angeregt, mitunter auch Titel suggeriert.
Man konnte hier verloren gehen, das ist sein produktivster Überwältigungsschachzug. Man konnte als Gebieter des Pinselballetts durch die unsichtbare Schleuse, die Gitterglastüre beim Hereingehen schon verschwinden, vom großen Wonderland-Spiegel beim Durchgang verschlungen werden und als Priamos oder einer seiner Geistesgegenwärtigen, als Agamemnon oder Hector auf der anderen Spiegelseite wieder heraustreten, wie Alice im Wunderland.
Im Überfluss der Bildwelt ertrinken
Und dann bei Hasen, Hummeln, Pfauenaugen und Mäusen, bei Eichhörnchen, Bremsen und Mardern, bei deren fabelhaften, bunten Kostümen landen, bei den angeberischen und Aufmerksamkeit heischenden Spielkarten des Orte-der-Liebe-Zyklus, oder in den fast rein schwarzweißen, abgeklärt urbanen Civitas-Bildern. Bei den brennenden Wolkenkratzern, den Archen, den Derrive-Stadtplänen. Man könnte in so einem Atelier verloren gehen, in den Bildern, in einer Fantasiewelt.
Im Überfluss der Bildwelt ertrinken. Ertrinken, untergehen, verlorengehen, sich auflösen, am besten sich erlösen – mit dem Chaotischen. Ist das gefährlich? Ja, nein, es gibt hier ja auch schier unzählige „Rettungsversuche“. Daran kann man sich festhalten, wie an einem Schwimmreifen. Die Rettungsversuche, das sind so kleine Rettungsinseln, halbe Meter im Quadrat, oft „leichter“ gemalt, als andere, auf dem Meer der Fantasie … Ahoi! Ihr wisst schon was ich meine.
Stationen eines politischen Künstlerlebens
1954: Das Wunder von Altenstadt/WN ist ein „Weltmeisterjahrgang“.
Kindheit: Das freudig begrüßte Arbeiterkind ist geprägt vom Glashütten-Milieu seines Vaters. Im Kindergarten Premiere als Schauspieler, Begeisterung für Theater und Kunst erwacht.
Schule: Krumme Schullaufbahn über Keplergymnasium Weiden, BOS Regensburg bis zum FOS-Abitur im Bereich Gestaltung.
Sozialer Unternehmer: Der Gründer des legendären Kartenhauskollektivs in Regensburg leitet als Primus inter Pares den Verlag mit Druckerei von 1979 bis 1986.
Ausbruch: Nach halbjährigem London-Aufenthalt 1986 ist er als freiberuflicher Künstler unterwegs.
Über 100 Ausstellungen: Unter anderem in New York, Addis Abeba, Italien, Finnland, Polen und Tschechien.
Galerien: Seine Werke hängen in renommierten Galerien, wie Rudi Pospieszczyk in Regensburg, Axel Holm in Ulm, Otto van de Loo in München, Galerie Räber in Zürich, Galerie Slama in Klagenfurt oder Galerie Deschler in der Berliner Auguststrasse.
Messen: Ausstellungen auf Kunstmessen in Köln, Karlsruhe und Wien.
Museumsausstellungen: Als Solist, mit seinem Künstlerfreund Jan Pruski (Olsztyn, Masuren), als Mitglied der Künstlergruppe „Warum Vögel fliegen“ und dem Kunstverein GRAZ.
Veröffentlichungen: Herausgeber von mehr als einem Dutzend „Bilder-Lese-Büchern“ und Verfasser des fantastischen Debütromans Hiobertus, der in seiner zunehmend surrealen Flucht an Carl Einsteins kubistischen Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ erinnert.
Politik: 12 Jahre Regensburger Stadtrat von 2008 bis 2020, sechs Jahre Umwelt-Bürgermeister in der Ära Wolbergs, den Huber als „schlampiges Genie“ in Schutz nimmt, „der Regensburg von bleierner gesellschaftlicher Lähmung“ befreit habe.
Heimat und Fremde: Nach einem längeren Aufenthalt in Mailand und langjährigem Zweitwohnsitz in Berlin lebt Huber heute in Schönsee (Landkreis Schwandorf) an der tschechischen Grenze. Kunstphilosophie von Karl Valentin inspiriert: „Kunst ist schön, macht aber Arbeit.“ Was er an seinem Genre liebt: „Man erfindet dabei die Welt – im Auge des Betrachters erst ganz und gar.“
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