Hitlergruß und Kriegsdienst verweigert: Ernst Reiter vier Jahre im KZ Flossenbürg
Weiden/Flossenbürg. Kein Hitler-Gruß, kein Wehrdienst – "Bibelforscher" verweigerten sich hartnäckig dem NS-Staat. Sie gehörten deshalb zu den ersten Opfern der Nazis. Im Konzentrationslager Flossenbürg war Ernst Reiter inhaftiert.

Angesichts ihrer missionarischen Tätigkeiten sind “Zeugen Jehovas” nicht an jeder Haustür gern gesehen. Unbenommen davon ist ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus aller Anerkennung wert. Das Schicksal des im KZ Flossenbürg inhaftierten “Bibelforschers” Ernst Reiter stand im Mittelpunkt eines Zeitzeugengesprächs an der Wirtschaftsschule in Weiden.
20.000 Briefe an Adolf Hitler
Die “Zeugen Jehovas” blieben trotz allen Drucks im sogenannten “Dritten Reich” ihren Prinzipien treu: Sie verweigerten konsequent den Wehrdienst und den Hitlergruß. In einer spektakulären Aktion beteiligten sich auch Oberpfälzer Angehörige an einer Blitzaktion an die Reichskanzlei in Berlin. Im Oktober 1934 schickten “Zeugen Jehovas” aus der ganzen Welt etwa 20.000 Telegramme und Briefe an Adolf Hitler. Sie protestierten gegen ihre Unterdrückung in Nazi-Deutschland. Hitler soll daraufhin gesagt haben: “Diese Brut wird in Deutschland ausgerottet.”
Am Montag in der Wirtschaftsschule berichtet Esther Dürnberger aus Graz vom Schicksal eines dieser hartnäckigen “Bibelforscher”, wie sie damals genannt wurden: Ernst Reiter aus Kärtnen. Seit 25 Jahren besucht die Österreicherin mit Reiters Tochter Ingrid Portenschlager Schulen in Deutschland und Österreich. Am Montag muss Ingrid Portenschlager passen, sie liegt nach dem 80. Jahrestag Befreiung KZ Flossenbürg krank im Hotelbett. Esther Dürnberger übernimmt den Vortrag allein. Kein Problem: “Ich kannte Ernst Reiter mein ganzes Leben lang.”
Sofortige Freilassung ausgeschlagen
Seine Story ist so spannend, dass rund 40 Zehntklässler in den letzten beiden Schulstunden dann doch ganz munter zuhören. Ernst Reiters Vater hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat einen Nervengas-Einsatz überlebt. Zurück kam er als schwerstkrankes Wrack. “Er war nicht nur streng zum Bub: Er war brutal.” Als Ernst Reiter elf Jahre alt ist, nehmen sich die Eltern das Leben. Er wächst bei Tante und Oma auf, die in den 1920ern den “Ernsten Bibelforschern” beitreten. Die Grundsätze gefallen dem jungen Mann, der ihnen folgt: “Du sollst nicht töten” und “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.
Er verweigert den Wehrdienst, was ihn geradewegs ins Gefängnis führt. Nach Einzelhaft und Dunkelhaft in Graz kommt er in Haft auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Dann in das markgräfliche Zuchthaus Bayreuth und schließlich 1940 in das Konzentrationslager Flossenbürg. Die “Zeugen Jehovas” bilden eine eigene Häftlingskategorie, zu erkennen am “lila Winkel”. Ihnen wird die sofortige Freilassung bei Unterzeichnung eines Glaubensverzichts angeboten. Kein einziger unterschreibt.
Krematorium in Flossenbürg: “Ein elendiger Gestank”
Für Ernst Reiter folgen Höllenjahre. Reiter ist Häftling Nummer 1935. Esther Dürnberger schildert die komplette Entmenschlichung: rasiert, kahlgeschoren, desinfiziert. “Sie sollten sofort das Selbstwertgefühl verlieren.” Zur “Begrüßung” in Flossenbürg werden die Häftlinge auf Böcke gespannt und mit Stockschlägen malträtiert. Galgenhängen (mit den Armen nach hinten), Beinahe-Ertränken im Trog – nichts bleibt Ernst Reiter erspart.
Das Zeitzeugengespräch zeigt, wie Erinnerungsarbeit nach dem Tod der Überlebenden aussehen kann: Esther Dürnberger spielt Videos ein, in denen Reiter erzählt. Aufgenommen wurden sie bei einem Interview mit dem Holocaust Museum in den 1990ern. Ernst Reiter erzählt vom Krematorium in Flossenbürg. “Es hat in der ganzen Gegend furchtbar gestunken. Ein elendiger Gestank.” Was im Krematorium nicht verbrennt, wird außerhalb zu Scheiterhaufen aufgebaut: “Unten Holz, dann Leichen, wieder Holz darauf, wieder Leichen.”
Die Arbeit im Steinbruch bringt ihn beinahe um. Von 6 bis 19 Uhr bearbeitet er Granit. Dazwischen gibt es “Essen”: Wasser mit verfaultem Gemüse, allenfalls Fleisch von verendeten Tieren und Brot, das zur Hälfte aus Sägemehl besteht. Seine Hände werden offen und fleischig; er wird immer schwächer. Als er kurz vor dem Zusammenbruch steht, wird er unerwartet in die Schreibstube versetzt.
Die 23 Bibelforscher, die im KZ Flossenbürg inhaftiert sind, helfen sich schon im Lager gegenseitig. Als Ernst Reiter fiebert, überlassen ihm seine Glaubensbrüder ihre Decken. Als die Solidarität bei den “Kapos” und der SS auffällt, werden die “Bibelforscher” auf verschiedene Blocks verlegt. Sie grüßen sich, in dem sie bei Begegnungen ihre Glaubenslieder pfeifen.
“Todesmarsch” für viele das Todesurteil in letzter Minute
1.600 Tage überlebt der Kärntner das Konzentrationslager. Als am 20. April 1945 das Lager vor den vorrückenden Alliierten geräumt wird, muss er mit auf den Todesmarsch in Richtung Süden. In 2000er-Gruppen brechen die Häftlinge, getrieben von der SS, in Richtung Süden auf. Noch immer glauben Nationalsozialisten an die “Alpenfestung” und den Endsieg.
Den Todesmarsch empfindet Ernst Reiter, gerade 30 Jahre alt geworden, als beinahe noch schlimmer als die Zeit im Konzentrationslager. “Das war noch schwerer als die jahrelange Lagerzeit.” Von seiner Gruppe von 2000 überleben nach seiner Schätzung etwa 200 Häftlinge. Wer aus der Reihe wankt, wird erschossen und verscharrt. Leichen säumen den Weg. Drei Nächte marschieren die Männer durch, ohne richtige Kleidung, ohne Schuhe, ohne Nahrung.
Als nach der Befreiung in Cham US-Soldaten Kekse und Konserven verteilen, sterben etliche Häftlinge an Durchfall. “Das war für viele der Todesstoß. Es war furchtbar, man kann es gar nicht richtig schildern.”
Wirtschaftsschule seit Jahren engagiert
Auf einem Fahrrad kehrt Ernst Reiter im September 1945 nach Graz zurück – nach sieben Jahren. Er gründet eine Familie und zieht drei Töchter groß, die jetzt dafür sorgen, dass sein Schicksal nicht vergessen wird.
Für Schulleiter Eduard Bauer ist dieses “Nie wieder” ein Auftrag: “Wir tragen die Verantwortung.” Für ihn persönlich sei der Nationalsozialismus nicht allzu weit entfernt: “Mein Vater hat es erlebt, meine Mutter auch. Ihr Schüler seid davon weit entfernt.” Organisatorin Ursula Soderer, die seit Jahren auch den zweiten Vortragenden Josef Salomonovic betreut (“Eine Kindheit im Konzentrationslager”), konnte mit der Aufmerksamkeit der Zehntklässler zufrieden sein.
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