Kommentar: Morgen kann jeder ein Ukrainer sein

Oberpfalz. Heute trägt fast die ganze Welt Gelb-Blau: Von der Beflaggung vor dem Bundestag bis zur Anzeigetafel im Jahn-Stadion. Kaum jemanden lässt Putins Wahnsinnskrieg kalt. Was im Kalten Krieg mit großer Disziplin verhindert wurde, ist plötzlich Realität. Ein Despot spielt am Atomknopf.

Präsident Wolodymyr Selenskyjs dramatischer Appell an den Westen. Bild: Ukraine Crisis Media Center

Angst, Wut und Verzweiflung in Kiew, Charkiw, Odessa, Luhansk. Die Liste lässt sich beliebig weiterführen. Eine atomare Streitkraft greift eine junge, instabile Demokratie an. Und die wehrt sich mit Händen und Füßen. Und sie hofft auf das Unmögliche: Auf das Eingreifen des Westens, was einen nuklearen Krieg provozieren könnte.

Das unerträgliche Flehen der Opfer

Das Flehen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko ist unerträglich: „Helft uns!“ Wer würde da nicht am liebsten alle Hebel in Gang setzen, um das Blutvergießen unverzüglich zu stoppen? Doch was moralisch richtig scheint, kann in eine Menschheitskatastrophe entgleiten. Denn eines kann man von Putin mit Sicherheit behaupten: Dass der Zocker mit Blut an den Händen jetzt einknickt, ist so gut wie ausgeschlossen.

Szenenwechsel: Die Schwandorfer Bundestagsabgeordnete Marianne Schieder klingt vor der Sondersitzung der SPD-Fraktion am Sonntag angegriffen. Im Telefonat schildert sie die Empörung an der Parteibasis. „Es gibt Parteiaustritte, weil Scholz sich weigerte, Waffen zu liefern.“ Sie versuchte, die vergangenen Tage die Haltung der Regierungspartei zu erklären: „Putin schreckt vor nichts zurück“, warnt sie. „Was werden die Kritiker sagen, wenn wir damit den Dritten Weltkrieg auslösen?“

Scholz‘ Kehrtwende

Man darf sich sicher sein: Auch die Kehrtwende von Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag wird zu Parteiaustritten führen. Die Pazifisten in der SPD werden den Kurswechsel genauso ablehnen wie Grüne Fundis – man denke nur an die Farbbeutelwürfe auf den damaligen Außenminister Joschka Fischer nach dem Bundeswehreinsatz im Kosovo. In einem moralischen Dilemma macht Handeln genauso schuldig wie das Unterlassen. Wichtig ist jetzt: Das politische Handeln braucht eine klare Strategie. Es darf nicht nur auf einer noch so starken Emotion beruhen.

Welche Strategie aber kann der Westen mit einiger Hoffnung verfolgen? Präsident Putin hat sich mit seiner mythischen Geschichtsrevision außerhalb jeglicher Rationalität positioniert. Er ist in einem geradezu esoterischen Wahn von seinem Vermächtnis als Retter des Russischen Reiches gefangen. Er wird sich weder von Sanktionen noch Drohungen beeindrucken lassen.

Verkehrte Welt verdrehter Fakten

Er hat sich eine verkehrte Welt verdrehter Fakten geschaffen, in der ein jüdischer Schauspieler Neonazi und eine Demokratiebewegung faschistisch ist. Was davon reine Propaganda ist, und was er davon selbst glaubt, ist zweitrangig. Die Brisanz der Lage, in die er sich und die Welt manövriert hat, wird deutlich, wenn man sich seine Selbstinszenierung vergegenwärtigt: Kann der Mann, der Tiger und Bären umarmt, auf Druck des Westens einen Rückzug aus der Ukraine verkraften?

Wirtschaftlich versagt, gesellschaftlich repressiv bleibt nur noch sein Mythos als Erneuerer russischer Weltmachtfantasien. Mit der unverhohlenen atomaren Drohung hat er die nächste Poker-Runde eröffnet: Er setzt alles auf die Schwäche des Westens, ihn nicht bis zum Äußersten zu reizen. In dieser Logik ist die Gefahr immens, dass er als nächste Stufe die Bombe in der Ukraine zündet – als Beweis, dass er es ernst meint. Bis hierher und nicht weiter.

Putin zu erweitertem Selbstmord fähig

Der Westen darf es so weit nicht kommen lassen: Wer nichts zu verlieren hat, ist zu einem erweiterten Selbstmord fähig. Oder wie Schopenhauer es formuliert: „Der Egoismus ist, seiner Natur nach, grenzenlos … Denn, wenn jedem Einzelnen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung, so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie bei den Allermeisten ausschlagen würde.“

Was bedeutet das für die Handlungsoptionen der demokratischen Staaten? Wir brauchen Nerven wie Drahtseile, um diesen Tanz auf dem Vulkan zu überstehen. Die existenzielle Gefahr, der wir uns nun ausgesetzt sehen, bietet die Chance zur Besinnung: Welche absurden innenpolitischen Kämpfe tragen wir eigentlich derzeit auf unseren Straßen aus? Einen Kampf um das Menschenrecht, ohne Maske rumzulaufen?

Hoffen auf den Putsch der Milliardäre

Aber es gibt Hoffnung. Es gibt Hoffnung, dass der lupenreine Despot mit seinem Amoklauf das schafft, was Europa seit dem Ende des kalten Krieges nicht mehr hinbekommt: Die Einigung durch den Druck einer äußeren Bedrohung. Und es gibt Hoffnung in der Ukraine: Weil dort Menschen für echte demokratische Freiheiten ihr Leben riskieren. Und es gibt Hoffnung in Russland. Putins Propaganda ist zwar immer noch wirkungsmächtig genug, um einen Volksaufstand zu verhindern.

Aber die Geister, die er rief, die Oligarchen, die sein Regime stützen, können ihm nun zum Verhängnis werden: Keiner der russischen Milliardäre wird gerne Putins Altersstarrsinn zuliebe auf seinen Reichtum, seine Villen und Yachten, auf rauschende Partys und Meisterschaftsfeiern in der Premier-League mit dem eigenen Club verzichten wollen. Ein Putsch der Milliardäre ist möglich. So lange müssen wir alles dafür tun, die Opfer so gering wie möglich zu halten. Denn jede weitere Eskalation könnte die Ukraine vernichten.

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