Prinzip EM-Hoffnung: Was die Politik von den Nagelsmännern lernen kann

München/Regensburg/Weiden. Und sie können’s doch noch: Wirtz, Musiala, Havertz, Füllkrug und Can treffen das schottische Tor. Was so ein neuer Geist alles bewirken kann: ein paar Umstellungen, etwas mehr Kompetenz und viel Gier. Und schon kann Deutschland wieder lachen.

So nämlich: Gemeinsam mehr erreichen! Foto: jrh

Unser Land im Sommer 2024: Immer mehr Deutsche blicken missmutig in die Zukunft. Die „German Angst“ ist zum Greifen. Umringt von internationalen Krisen, innenpolitisch blockiert, wirtschaftlich angeschlagen. Nichts mag mehr so recht gelingen: Das Land der Ingenieure bringt nicht einmal mehr einen Bahnhof rechtzeitig auf die Schiene.

Auch in einer weiteren deutschen Kernkompetenz geht nichts mehr: Nach dem Triumph von Brasilien von 2014 liegt der deutsche Fußball am Boden – zumindest, die einst so gefeierte Nationalmannschaft. Es hagelt Vorrunden-Knock-outs.

Sommermärchen oder nur Sommernachtstraum?

Und plötzlich das: die mögliche Ouvertüre zu einem Sommermärchen. Auf den Fanmeilen der Republik, im Regensburger Jahn-Stadion und in den Sportkneipen der Oberpfalz ausgelassene Menschen aller Couleur, die miteinander feiern.

Jetzt nur nicht übertreiben: Bisher ist es nur ein singulärer Sommernachtstraum. Aber was für einer! Julian Nagelsmanns gierige 11 – was schreibe ich, die gesamte Bank gehört auch dazu – strahlt von Beginn an Entschlossenheit, Gier, Konzentration und Mut aus. Mit durchschlagendem Erfolg.

Warming-up für die Zweitliga-Saison: Live-Atmosphäre bei der Übertragung des Eröffnungsspiels im Regensburger Jahn-Stadion. In der ganzen Oberpfalz versammelten sich viele Tausend Fans zum Public Viewing. Grafik: OberpfalzECHO

Eröffnungsspiel im Schnelldurchlauf

  • Joshua Kimmich legt vor dem Strafraum quer auf Florian Wirtz. Der junge Leverkusener zieht ab, Schottlands Keeper Angus Gunn hat noch die Finger dran, vom Innenpfosten prallt die Kugel ins Netz, 1:0 (10.).
  • Kapitän İlkay Gündoğan, der seine Mitspieler stärker machen will, schickt Kai Havertz steil, Rückpass auf Jamal Musiala, der’s zum 2:0 krachen lässt (19.).
  • Im schottischen 16er haut Innenverteidiger Ryan Porteous Gündoğans Knöchel weg – nach Videostudium zeigt der souveräne französische Schiri Clement Turpin Rot und auf den Punkt. Havertz verlädt Gunn, der Ball ab durch die Mitte, 3:0 (46.).

  • Mit dem ersten Ballkontakt legt sich der eingewechselte Niclas Füllkrug die Kugel zurecht, mit dem zweiten drischt er sie mit 110 km/h unters Lattenkreuz, 4:0 (68.).
  • Gastgeschenk für die tapferen Schotten: Real-Verteidiger Antonio Rüdiger wird nach einer Freistoßflanke angeköpft und verlängert unfreiwillig zum 4:1 (87.).
  • Und auch Emre Can braucht nur ein sechsminütiges Warming-up auf dem Platz, um von der Strafraumkante präzise in den rechten Winkel zum 5:1-Endstand (90.+3) einzunetzen.
EM-Feeling mit Live-Atmosphäre im Regensburger Jahn-Stadion. Foto: jrh

Höchster deutscher EM-Sieg ever

Voilà. Fertig ist der höchste deutsche EM-Sieg aller Zeiten – obwohl ein weiteres Füllkrug-Kunstwerk knapp an der Abseitsregel scheitert wie schon zu Beginn Havertz an einer Schulter-Hand-Auslegung! Nicht nur die Höhe des Siegs, vor allem die Art und Weise begeistert.

Auch wenn die überforderten Schotten den Deutschen den roten Teppich ausrollen und alles andere als ein Störfeuerwerk entfachen – die Nagelsmänner legen sich den Gegner zurecht, dribbeln und kombinieren sich durch die Reihen wie Messer durch Butter und lassen phasenweise Erinnerungen an das fabelhafte 7:1 gegen Brasilien wach werden.

Emre Can netzt zum 5:1-Endstand ein. Foto: dpa

Die Mischung macht’s!

Ja, und woran hat’s nun gelegen? Julian Nagelsmann hat das Rad nicht neu erfunden. Ein paar Umstellungen, ein paar Stinkstiefel weniger, einige mutige Entscheidungen, etwas mehr Kompetenz und viel Gier – und plötzlich funktioniert dieses labile Gebilde namens Nationalmannschaft wieder. Es muss nicht immer Tabula rasa sein. Manchmal fehlt einfach nur der Feinschliff.

Schließlich wundern wir uns seit zehn Jahren, warum die Cracks von Real Madrid, Manchester City, Bayern München oder Bayer Leverkusen plötzlich Knoten in den Füßen haben, sobald sie das Nationaltrikot überstreifen. Gepusht von der erfrischend positiven Ausstrahlung des jungen Trainers entdeckt die bunte Truppe ihre alten Stärken wieder neu – den Willen zum Gang über die Schmerzgrenzen gepaart mit technischen Kabinettstückchen. Die Mischung macht’s!

Renaissance des Public Viewing: Gemeinsam fiebert sich’s am schönsten. Foto: OberpfalzECHO

Was kann die Politik von Nagelsmann lernen?

Wir müssen Deutschland nicht neu erfinden. Das Land der Weltmarktführer und Hidden Champions kann nicht über Nacht alles verlernt haben. Aber wir müssen zurück zu unseren Grundtugenden. Wer Führung verspricht, muss zumindest Orientierung liefern, statt zaudernd zu schweigen. Statt das Blaue vom Himmel zu versprechen, muss die Politik Tacheles statt schönreden – statt 400.000 Wohnungen im Jahr zu versprechen, erst einmal die Baugesetze vereinfachen.

Statt nach jeder Pisa-Studie eine Bildungsrevolution auszurufen, bitte erst einmal die Schulen ordentlich ausstatten. Statt politischen Hochwasser-Tourismus‘ lieber ein paar Polder und Auen für die sich häufenden Extremwetterlagen bereitstellen. Und vor allem: Wann kapiert der letzte Parteisoldat, dass die kleinkarierte Rechthaberei im Sinne der eigenen Klientel lediglich zur Maximierung der Politikverdrossenheit führt – wenn die letzte Volkspartei an der 5-Prozent-Hürde scheitert?

Bilder rund um das Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland: Public Viewing im Jahn-Stadion und vielen Kneipen in Regensburg, Amberg und Weiden, begeisterte Fans und ein Auftakt nach Maß. Collage: jrh

Kommentar: Gemeinsam mehr erreichen!

Im Fußball wie in der Politik gibt es 80 Millionen Bundestrainer und Bundeskanzler. Jeder meint, es besser zu wissen. Für alle Besserwisser gibt es eine gute Nachricht: In der Demokratie hat jeder die Möglichkeit mitzumachen. Mischt euch ein, geht in eine politische Partei und bringt eure Vorstellungen ein. Jeder, der sich in einem Verein engagiert, weiß: Ohne Kompromisse geht es nicht. Ja, nicht einmal in der Familie klappt das Prinzip Alleinherrscher.

Um so mehr sollte man allen misstrauen, die mit Milchmädchenrechnungen um die Ecke kommen und den Missmutigen und Mutlosen glauben machen wollen, dass ihre einfachen Rezepte die real existierenden Probleme einer komplexen Welt in Luft auflösen. Was sie aber tatsächlich bewirken könnten, birgt Sprengstoff: Die Grundtugenden unserer Demokratie in die Luft zu jagen.

Kollektiv alle Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht zu stellen, ist ähnlich schlau, wie Musiala, Sané oder Rüdiger aus der blütenweißen Nationalmannschaft zu werfen, wie 20 Prozent der Befragten einer ARD-Umfrage kurz vor der EM es befürworten – bestimmt lässt es sich Julian Reichelt nicht nehmen, Antonio Rüdigers Kopfball-Eigentor als islamistischen Anschlag auf den deutschen Fußball zu enttarnen.

Ein Fußballfan hat es sich für uns alle auf die Fahnen geschrieben: „Gemeinsam mehr erreichen!“ Wir, das sind alle, die für unser Land brennen, die es besser machen, nicht nur besser reden wollen. Die bereit sind, dazuzulernen und nicht so tun, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Die nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere denken. Die andere begeistern, statt auszugrenzen.

* Diese Felder sind erforderlich.