Schobers Rock-Kolumne: Von Cabrio-Pop über Free-Jazz zu grantelnden Briten

Parkstein. Er hat sie alle geholt: Konzertveranstalter Hubert Schober brachte Rio Reiser oder Manfred Man nach Weiden. Der gelernte Sozialpädagoge veranstaltete international erfolgreiche Shows wie die Circus-Produktion Mother Africa. Für OberpfalzECHO rezensiert er musikalische Neuerscheinungen und Evergreens.

Sex auf Venyl (oder Plaste, Stick & Co.): Huberts Schobers Auswahl fürs neue Jahr. Cover-Collage: jrh

Ist euch das auch schon mal aufgefallen? Irgendwie klingt portugiesisch und russisch doch ähnlich, oder zumindest so, als würde ein Spanier mit russischem Einschlag sprechen. Das dachten sich wohl auch Soyuz aus Belarus, ein Trio, das sich ganz der Pflege des gepflegt-charmanten Latin-Jazz und -Pop verschrieben hat.

Es flöten die Flöten und eine Gastsängerin namens Kate NV – eine im russischsprachigen Raum sehr bekannte Künstlerin – schmeichelt mit ihrem Organ wie einst die brasilianische Jazz-Sängerin Flora Purim. Sanft perlende Perkussions-Teppiche, ein paar Streicher, Piano, Kontrabass und Gitarre runden diesen musikalischen Piña Colada namens „Force The Wind“ (Bertus) ab und lassen den Konsumenten ohne Kopfschmerzen zurück.

Lust auf Cabrio-Fahrt“-Pop

Auch wenn sich Leon Rudolf sehr viele Gedanken über Vergangenheit und Zukunft macht, schreibt er seine Songs doch getreu dem Motto der Oma, „Wer weiß, für was es gut ist …“. Das Licht am Ende des Tunnels, die zwei Seiten einer Medaille, Rudolf bleibt optimistisch. Für sein Projekt, Lemony Rug holte er sich ein paar Kollegen zum Schreiben und Musizieren in die gute Wohnstube und das Studio. Ganz charmant das Duett mit Claire-Ann Varley von der irischen Indie-Pop Band Varley auf dem verträumtem, mit Streichern und wehmütigen Bläsern unterlegtem „Privat Island“.

Zusammen mit Luke Noa entstand „Hello Sunshine“, das so klingt wie der Titel und Lust auf eine Cabrio-Fahrt selbst im Winter macht. Unbeschwerter Gute-Laune-Pop mit Hit-Potential ist das. „Constantly Questioning”ist eine weitere Kooperation mit dem befreundeten Songwriter Manuel El-Tohamy, der unter dem Namen Elto seine eigene Musik veröffentlicht. Dieser Song ist nicht weniger euphorisch und hat ein paar schöne Gitarreneinlagen von Alex Sprave im Angebot. „Bigger Frame“ ist ebenfalls eine neue Platte, die keine Kopfschmerzen verursacht, eher wie ein Aspirin dagegen wirkt.

Glückloses Soulgenie

Gucken wir mal, wo die Karriere des noch jungen Leon Rudolf hinführt. Die von Lee Fields währt jetzt schon seit gut fünf Jahrzehnten, wobei dem Soulman die ganz große immer versagt blieb. Unermüdlich veröffentlichte er Platte auf Platte, Single auf Single, doch bis auf ein paar Ausnahmen wollte ihm keiner so richtig zuhören. Hört man sich einen Song wie „I Should Have Let You Be“ von seiner neuen Platte, „Sentimental Fool“ (Daptone) an, kann man dazu nur den Kopf schütteln, hat der doch mehr Herzblut & Seele, als so mancher Kollege im ganzen Œuvre.

Lee schwimmt in fetten Hammond-Orgel-Seen, badet in üppigen Gospel-Chören, lässt schwermütige Blechbläser erklingen, zelebriert ein Blues-getränktes Soul’n’Funk-Cocktail ohne jegliche Modernismen. Lee Fields lässt die gute alte Zeit der frühen 70er wieder auferstehen – und wir schwingen dazu beglückt das Tanzbein.

Freie Avantgard-Jazzer

Gegensätzlicher könnte die Musik von Village Of The Sun (übrigens auch ein ganz famoser Song-Titel von Frank Zappa) nicht sein, treffen sich doch hier die Avantgarde-Free-Jazzer Binker Golding (Saxofon) und Moses Boyd (Schlagzeug) mit dem EDM-Utopisten und Basement-Jaxx-Mastermind Simon Ratcliffe. Während sich Binker & Moses nach allen Regeln der Kunst austoben dürfen, hat Ratcliffe eine eher zähmende Wirkung auf die beiden Jungs.

Jedenfalls wird deren Endorphin- und Adrenalin-gesättigter Eskapismus in hörbare Wege kanalisiert. Warum Binker & Moses jedoch als neuer Fix-Stern des Free Jazz gefeiert werden, dürfte Freunde des Genres nach Anhören dieser sechs, vor Kreativität überbordenden Stücke, auf „First Light“ (Bertus) mehr als klar sein.

Ein „Weiß-der-Geier“-Mix

Dass Kollaborationen recht fruchtbar sein können und dabei Neues, manchmal gar völlig Unerwartetes entsteht, zeigen auch Mykki Blanco, die bereits mit ihren vorherigen Alben die Genregrenzen aufgesprengt und Rap mit Punk, Pop, Trap und weiß der Geier was gemischt haben. Auf „Stay Close To Music“ (PIAS) gehen sie noch einen Schritt weiter und vereinnahmen auch gänzlich Genre-Fremde wie Michael Stipe oder Devendra Banhart.

Dass Kollegen wie Anohni, Saul Williams, Kelsey Lu, Slug Christ oder Jonsi mit auf der Paybill stehen würden, war da eher zu erwarten. Die Ergebnisse sind vielleicht nicht immer jedermanns Sache, interessant sind sie allemal. Und wer auf Mainstream steht, hört hier eh vorbei.

Grantige Madonnae

Das machen sicherlich auch Fans von Jemma Freeman & The Cosmic Something, denn deren hemdsärmlig geprügelter Grunge-Glam-Garagen-Punk-Rock muss auch erst einmal verdaut werden. „Led Zeppelin fronted by Madonna“ beschreibt nämlich nicht annähernd, was hier abgeht. Zum einen spielten die Zeppeline ja eher geradlinigen Hard-Rock – gemein ist hier die psychedelische Note.

Mit Frau Madonna Louise Ciccone hat Jemma Freeman lediglich das Geschlecht gemein, denn wo die Eine schnurrt, faucht die Andere. „Miffed“ (Cargo) – angefressen ist Jemma Freeman und ihre Mitstreiter, z.B. vom Brexit, dem Patriarchat, Royalisten und noch einer ganzen Menge mehr. Diese Wut wird in geradlinige Songs kanalisiert und hört sich eher nach extrem grantigen und übellaunigen Breeders an.

Schobers unglaubliches Lexikon hochtrabender
Rock-Pop-Punk-Begriffe

Art-Pop: Hat seine Ursprünge nicht etwa im dritten Studioalbum von Lady Gaga. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grenzen zwischen Kunst und Popmusik verschwimmen, und John Lennon, Syd Barrett, Pete Townshend, Brian Eno und Bryan Ferry beginnen, sich von ihrem früheren Kunstschulstudium inspirieren zu lassen, ist eine Ausprägung des Art-Pop geboren. In den USA wird er von Bob Dylan und der Beat Generation beeinflusst und durch die Singer-Songwriter-Bewegung auch literarisch überformt. Die psychedelische Bewegung der 1960er Jahre bringt Kunst und Kommerz zusammen und stellt die Frage, was es bedeutet, Künstler in einem Massenmedium zu sein. In den frühen 1970er Jahre wird Progressive/Art Rock der kommerziell erfolgreichste Sound Großbritanniens.

Bossa Nova: Stilrichtung in der brasilianischen Musik und ein Tanzstil. Ursprünglich der Name einer Bewegung, die in den späten 1950er Jahren in Brasilien entstand. Als Geburtsort gilt Beco das Garrafas an der Copacabana. In einem sehr modernen gesellschaftlichen Klima wurde in der gebildeten Mittelschicht mit neuen Formen und Ausdrucksweisen in Musik und Film experimentiert. Als erster Bossa-Nova-Song gilt Chega de Saudade, geschrieben von Antônio Carlos Jobim (Musik) und Vinícius de Moraes (Text) und bekannt geworden in der Interpretation von João Gilberto (Single 1958 und anschließend gleichnamiges Album). Den weltweiten Durchbruch erzielte die Musik mit der Verfilmung Orfeu Negro von Marcel Camus (1958-59). Die Orpheus-Sage findet dort vor dem Hintergrund des brasilianischen Karnevals statt. Im Soundtrack kontrastiert eine Mischung aus schnellen Sambarhythmen neben sparsam arrangierten Gitarrenstücken von Luiz Bonfá und Antônio Carlos Jobim.

Call and Response: Ein musikalisches Muster, das auf dem Ruf (Call) eines Vorsängers und der darauf folgenden Antwort (Response) des Chors basiert. Dieses kurzphasige Responsorium gilt in weiten Teilen der musikwissenschaftlichen Literatur als ein charakteristisches musikalisches Merkmal traditioneller afrikanischer Musik und gehört zudem „als formbildendes Prinzip zu den elementaren Gestaltungsmitteln afroamerikanischer Musik.“ Dieses Prinzip wurde in Nord- und Lateinamerika in verschiedenen afroamerikanischen Musikgenres von der vokalen auf die Instrumentalmusik übertragen, etwa auf Trommeln in der brasilianischen Musik.

DIY-Szene: Do it yourself, abgekürzt DIY, ist eine Phrase aus dem Englischen und bedeutet übersetzt Mach es selbst. Im musischen Sinn versteht man darunter das Konzept eines Sets von ästhetisch-ethischen Grundsätzen alternativer Musik.

Dub-Reggae: Ursprüngliche Reggae-Songs werden als Rohmaterial verwendet und mit Effekten versehen, neu abgemischt. Eine Machart, die bereits in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren auf Jamaika entstand. Erlebt eine Wiedergeburt im Bereich elektronischer Tanzmusik.

Elektro-Boogie: Auch Electric Boogaloo, nicht zu verwechseln mit Onkel Martins Boogie-Woogie auf der Hammond-Orgel, ist eine um 1975 in Fresno (Kalifornien) entwickelte Tanzrichtung, die unabhängig in New York Blüten treibt und ein Element des Funk und des Streetdance ist. Die Old School des Hip-Hop-Tanzes, wird auf Robot reduziert, weil das Imitieren eines Roboters Teil der Performance ist. Eng verwandt ist der Electric Boogie mit Popping, weist aber auch signifikante eigene Bewegungen auf, wie etwa die Illusion von Wellen, die durch den Körper fließen (was häufig mit Popping gemischt wurde, um den „Electric Boogaloo“-Effekt zu verstärken).

Garagen-Psychedelic: Unterabteilung des Garage-Rock, Garage Punk oder Sixties Punk. Mit den letzteren wird ein nachträglicher Bezug zum Punkrock der 1970er Jahre hergestellt. Weitere alternative Bezeichnungen sind Freakbeat für überwiegend britische Bands sowie Acid Rock für die psychedelische Phase.

Garagen-Trash: Sind keineswegs die alten, verrosteten Benzinkanister, die im Zeitalter der E-Mobilität überflüssig sind, und die vergessenen Reste von Entfroster fürs Kühlwasser, also das Sammelsurium, das so in der Garage rumliegt, sondern ein Musikstil abgefuckter Punks, die keinen besseren Übungsraum als die Garage des Redneck-Dads am Stadtrand von Sydney finden, wo sich beispielsweise die Hard-Ons gründeten. The Trashwomen aus San Francisco beweisen, dass auch Frauen zu infernalischen Punk-Kakophonien in der Lage sind.

Glam-Rock: Ein weiteres Subgenre der Rockmusik, bei der sowohl die Musik als auch der Bühnenauftritt sehr opulent ausfallen. Glam Rock ist Anfang der 1970er Jahre besonders in Great Britain sehr populär – als Kontrapunkt zum Artrock von Pink Floyd, King Crimson, Yes oder Genesis. Erlebt in den 1980ern als Glam Metal eine Renaissance.

Grunge: Rockmusik-Genre und Subkultur, die klingt, wie sie heißt – zu deutsch „Schmuddel“, „Dreck“. Hervorgebracht durch die US-Undergroundbewegung in den 1990er-Jahren. Grunge, auch als Seattle-Sound, wird als Vermischung von Punkrock, Underground-Garagenrock und Hardrock beschrieben. Die frühe Grunge-Bewegung drehte sich um Seattles unabhängiges Plattenlabel Sub Pop und die Underground-Musikszene der Region.

Post-Punk: Taucht erstmals 1977 in dem britischen Musikmagazin Sounds auf, um die schrägen Töne von Siouxsie and the Banshees zu beschreiben. 1980 beschreibt der Kritiker Greil Marcus in einem Rolling-Stone-Artikel Bands wie Gang of FourThe Raincoats oder Essential Logic als „britische Postpunk Pop-Avantgarde“. Post-Punk gilt als experimentierfreudig und bunte Mischung aus Krautrock, des Dub, Disco und elektronischer Musik.

Proto-Punk: Adelstitel für die Wegbereiter des Punk und Erfinder minimalistischer Gitarren-Riffs wie The Velvet UndergroundMC5The DictatorsThe Stooges, die New York DollsThe MonksMott the Hoople oder The Sonics – bereits in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre.

Sleaze-Rock: „Sleazy“ heißt so viel wie „schäbig“ assoziiert auch mit Abschaum. Sleaze Rock leitet sich vom Image der Sleaze-Rock-Bands ab, die eine rebellische Underdog-Mentalität pflegen und sich mit Tätowierungen, abgerissenen Lederjacken, zerrissenen Jeans und Netzhemden vom Glam Metal abgrenzen. Dem Sleazerock wird vorgeworfen, altes Bier in neuen Fässern zu sein. Bands wie Guns N’ Roses, L.A. Guns oder Faster Pussycat vermischen Hardrock mit Elementen des Bluesrock, Metal, Garage Rock und Punkrock.

Wave: Kurzwort für New Wave, eine Dachbezeichnung für mehrere, mit der New Wave zusammenhängende Teilgebiete der Musik, die bspw. als Cold Wave, Dark Wave, Doom Wave, Electro Wave, Ethereal Wave und Gothic Wave bezeichnet werden. Seit der zweiten Hälfte der 1980er wird von der Musikpresse der Ausdruck „Post-Wave“ genutzt. Dieser bezeichnet das musikalische Output und die kulturellen Neuerungen nach dem Ausklingen der Wave-Ära. Da sich die Wave-Bewegung allerdings in verschiedene Strömungen und chronologisch voneinander abweichende Etappen gliedert (z. B. New Wave, Electro Wave, Cold Wave und Neue Deutsche Welle), erweist es sich häufig als schwierig, Post-Wave zeitlich zu erfassen. Grob umrissen wird dabei jedoch die Zeit ab den späten 1980ern mit dem Aufleben von Musikrichtungen wie Madchester, Shoegazing, Acid House, Techno, Grunge oder Britpop in Europa.

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