Wegen Erschießung von Johann Dick: ČSSR-Innenminister (92) angeklagt

Mähring. In Prag könnte es zu einem Prozess gegen einen hochrangigen Ex-Kommunistenführer kommen. Ihm werden Tötungen am Eisernen Vorhang zur Last gelegt, darunter die Erschießung des Spaziergängers Johann Dick aus Amberg 1986.

Der Wanderer Johann Dick (59) war 1986 von tschechoslowakischen Grenzsoldaten auf deutschem Hoheitsgebiet bei Bärnau erschossen und in die ČSSR verschleppt worden. Erst Tage später gab das Regime die Tötung zu. Der Familienvater und pensionierte Bundeswehroffizier aus der Oberpfalz war von Grenzsoldaten mit zwei polnischen Flüchtenden verwechselt worden.

Von den politisch Verantwortlichen hat dafür nie jemand gebüßt. Das könnte sich jetzt ändern. Die Staatsanwaltschaft Prag I hat im Februar 2023 überraschend Anklage gegen Vratislav Vajnar (92) erhoben. Er war von 1983 bis 1988 Innenminister.

Überraschend ist die Anklage deshalb, weil das Verfahren gegen den 92 Jahre alte Vratislav Vajnar eigentlich schon eingestellt war. Ein Arzt (ehemaliger Militärarzt) hatte ihm 2021 schwere Demenz attestiert. Angehörige deutscher Opfer reichten daraufhin Verfassungsbeschwerde ein. Mit Erfolg: Das tschechische Verfassungsgericht hält Vajnar für durchaus in der Lage, einem Gerichtsverfahren zu folgen. Einem Prozess steht damit nichts mehr im Weg. Zuständig ist das Prager Bezirksgericht I mit Richterin Kateřina Rybáková.

Viele hatten den Glauben an späte Gerechtigkeit schon verloren. Bereits 2016 hatte die Prager “Platform of European Memory and Conscience” in mehreren Ländern Strafanzeigen erstattet. In Deutschland ermittelt seither die Staatsanwaltschaft Weiden, die gemeinsam mit den Tschechen ein “Joint Investigation Team” gebildet hat.

Druck aus Deutschland

Historiker Ludek Navara betont die enorme Bedeutung der jetzt erhobenen Anklage: “Vratislav Vajnar ist der erste hochrangige Kommunist, der sich für die Morde am Eisernen Vorhang verantworten wird. Und wahrscheinlich auch der Letzte.”

Vor Gericht kamen jahrzehntelang nur die “kleinen Fische”, sprich: die Grenzsoldaten. Die Befehlsgeber verbrachten indessen einen ruhigen Lebensabend. Historiker Navara sieht einen “schwachen Willen der tschechischen Gesellschaft”, das vergangene Unrecht aufzuarbeiten. Die Anklage gegen den ehemaligen Minister war ein äußerst langer Weg. Ohne den Druck der Plattform, den Druck aus Deutschland und das Engagement eines einzelnen Anwalts wäre bis heute nichts passiert.

Anklage: drei Tote, drei Verletzte

Dieser Anwalt ist der Prager Advokat Lubomir Müller, 1954 geboren und als Angehöriger der Zeugen Jehovas über Jahrzehnte selbst ein Verfolgter des Regimes. Müller vertritt mehrere Dutzend Angehörige von getöteten DDR-Bürgern. Darunter sind auch Mutter und Schwester des Studenten Hartmut Tautz, der 1986 von Grenzhunden zerrissen wurde.

Die aktuelle Anklage umfasst drei Tötungen und vier Körperverletzungen. Aufgerollt wird neben den Todesfällen Tautz und Dick die Erschießung von Frantisek Faktor. Faktor war ein tschechischer Flüchtling, der 1984 von ČSSR-Grenzsoldaten erschossen wurde. Die Körperverletzungen betreffen vier DDR-Bürger. Dazu gehört Jürgen Seifert, der 1983 bei einem Fluchtversuch nahe Cheb (Eger) von Hunden angegriffen wurde.

Die Gegner: Demenz und Tod

Anwalt Müller vergleicht die strafrechtliche Verfolgung gegenüber OberpfalzECHO mit einem “Langstreckenrennen”. Die Gegner: Verfall und Tod. Von den ursprünglichen drei Hauptbeschuldigten ist kaum noch einer übrig. Ex-Generalsekretär Milos Jakes (98) starb 2020; der frühere Ministerpräsidenten Lubomir Strougal starb am 6. Februar 2023 im Alter von fast 99 Jahren.

Bleibt also Ex-Innenminister Vratislav Vajnar (92). Das tschechische Verfassungsgericht hält ihn für verhandlungsfähig. Staatsanwältin Katarína Kandová von der Bezirksstaatsanwaltschaft Prag 1 hat am 9. Februar 2023 die Anklage wegen Amtsmissbrauch erhoben. Anwalt Müller warnt vor zu viel Euphorie. Demenz und Tod seien nach wie vor “am Start”: “Die Gerechtigkeit hat noch lange nicht gewonnen.”

Wichtig für künftige Generationen

Peter Rendek, Direktor der Platform of European Memory and Conscience, sieht gegenüber OberpfalzECHO auch eine aktuelle Bedeutung: Es sei wichtig, dass künftige Generationen die Vergangenheit verstehen und die demokratischen Werte der Europäischen Union mehr wertschätzen. Der Prozess sei wichtiges Symbol: “Wir können den unschuldigen Opfern nicht das Leben zurückgeben. Aber ihre Würde und ihre Bedeutung im Kampf für Demokratie und Menschenrechte.”

“Vergessene Grenze”

Eine ARD-Dokumentation beleuchtet die Rolle der Staatsanwaltschaft Weiden bei den Ermittlungen zu den Toten am Eisernen Vorhang. Interviewpartner sind unter anderem Oberstaatsanwalt Christian Härtl und Reinhold Balk, ehemaliger Sachbearbeiter Sicherheit des Bundesgrenzschutzes.

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