Trotz Le Pens Schlappe: Freunde aus dem Burgund über die Wut der Franzosen
Ormes/Burgund. Hochrechnungen bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich sehen das rechtsnationale Rassemblement National nur auf Platz 3. Frontfrau Marine Le Pen gibt sich gelassen: „Unser Sieg ist nur aufgeschoben!“ Das glauben auch meine französischen Freunde.
Anders als Gerhard Schröders Reißleinen-Taktik 2005 scheint der Coup von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aufzugehen. Nach der Schlappe bei den Europa-Wahlen hatte Macron zum Entsetzen vieler Parteifreunde, aber auch breiter Teile der Gesellschaft, die vor einer möglichen absoluten Mehrheit von Marine Le Pens Rassemblement National warnten, kurzfristig das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen.
Die erste Runde der Parlamentswahl schien die Kritiker zu bestätigen, das Rassemblement National ging als Sieger vor dem linken Nouveau Front populaire hervor. Das Bündnis Ensemble Macrons wurde dahinter nur Dritter. Die Stichwahl am Sonntag ließ also das Schlimmste befürchten.
Zur Überraschung auch der Wahlforscher sollte es anders kommen: Das linke Bündnis Nouveau Front populaire kommt Hochrechnungen zufolge auf 177 bis 198 der 577 Sitze. Macrons Bündnis landet auf Platz 2 mit 152 bis 169 Mandaten. Und das Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und ihren Verbündeten fällt auf den dritten Platz zurück – mit 135 bis 145 Sitzen. Die Wahlbeteiligung liegt mit 67,5 Prozent deutlich über den Werten der vergangenen Jahre.
Auch meine Retter sind sauer auf Paris
Zeit, für einen Chat mit meinen besten französischen Freunden, mit denen ich seit Studenten-Zeiten losen, aber beständigen Kontakt halte. Nicole und René Miguet sowie Carmen und Michel Develey haben mich vor rund 40 Jahren bei einer Fahrradpanne im Burgund samt Rad und Gepäck aufgesammelt, mich eine Nacht mit den deliziösesten – festen wie flüssigen – Delikatessen gemästet. Seitdem besuchen wir uns in großen Abständen gegenseitig.
Die vier Musketiere aus Ormes, ein Städtchen zwischen Chalon-sur-Saône und der weltberühmten Abtei von Cluny, könnten Charaktere aus „Asterix und die Gallier“ sein: großzügig, lustig und manchmal auch ein wenig streitlustig. Sie sind im besten Sinn Durchschnitts-Franzosen mit kleinem Geldbeutel und deshalb bestens geeignet, um zu verstehen, warum so viele Franzosen sauer auf ihr Establishment in Paris sind.
Nur noch ein kleiner Schluck
René sehe ich noch heute vor mir, wie er vor Jahrzehnten meine gerissene Fahrradkette auf ein Fass legt und mit einem Hammer auf sie eindrischt – wie Automatix, der Schmied des gallischen Dorfes, das immer noch Widerstand leistet. Anschließend füllt er wieder und wieder meinen Teller und mein Glas: „Un tout petit peu … – nur noch ein ganz kleines bisschen.“ Man kann René alles nehmen, nur nicht seinen Wein und seinen Humor.
„Ah, un gourmand, pas un gourmet“, lacht Nicole, seine Frau, die beste Edith-Piaf-Interpretin, die ich kenne. „Ein Vielfraß, kein Feinschmecker.“ Und genau dieses kleine Laster ist in Gefahr. Lange konnten sich in Frankreich die kleinen, aber feinen Lebensmittelhändler in den Innenstädten halten. Mit galoppierender Inflation, gestiegenen Ladenmieten und einem zunehmend ärmeren Mittelstand verschwindet auch im Land der gepflegten zwei-Stunden-Mittagessen diese urfranzösische Institution.
Verzweifelte Bäcker, Metzger und Landwirte
Auch die französischen Restaurants führen einen Überlebenskampf. Dazu kommt: Erst verdrängten die französischen Giga-Marchées an den Ortsrändern, die Carrefour, E. Leclerc, Intermarche, SystemU, Hyper U, Géant, Casino und wie sie heißen, die charmanten Boulangerien und Boucherien, die stolzen Bäcker und Metzger. „Was die verkaufen, ist kein Baguette, sondern Füllstoff in Stangenform“, schimpft René. Und inzwischen können sie es sich sogar leisten, ihre Filialen auszudünnen. Die Fahrt zum nächsten Lebensmittelhändler am Land kann dauern.
Das trifft auch die französischen Bauern hart. Die Konzerne drücken wie überall die Preise, und die sonst so qualitätsbewussten Verbraucher ächzen unter der Teuerung. Verzweifelte Landwirte protestieren auf Autobahnen, fordern bessere Entlohnung für ihre Produkte, weniger Bürokratie und den Schutz vor Billigimporten. „Die Lage ist für viele unserer Nachbarn inzwischen so aussichtslos, dass sich immer mehr das Leben nehmen“, erzählt Nicole von Einschlägen in nächster Nähe.
Adieu, Savoir-vivre!
Mit anderen Worten: Es droht der Verlust des französischen Lebensstils, bei dem das gemeinsame Essen mit Familie und Freunden im Mittelpunkt des sozialen Lebens steht. „Macron tut so, als wären wir faul“, ärgert sich Michel über den elitären Präsidenten im Élysée-Palast. „Dabei arbeiten wir seit Jahren immer mehr für immer weniger Geld, wenn man die Inflation einrechnet“, schimpft der Fußball-Fan. Die Zahlen geben ihm recht.
Die Erwerbstätigen in Frankreich arbeiten laut OECD durchschnittlich 1490 Stunden pro Jahr, in Deutschland nur 1349 Stunden. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. „Ohne Diplom von den Elite-Unis, kommt man bei uns kaum an richtig gute Jobs“, pflichtet ihm seine Frau Carmen bei. Die Pisa-Bildungsstudien zeigen, dass in Frankreich der Bildungsstand der Eltern mit am stärksten über die beruflichen Aussichten der Kinder entscheidet.
Leistung lohnt sich nicht
„Natürlich sind wir frustriert, wenn die Politiker sagen, Leistung muss sich lohnen“, schimpft Michel, „aber in Wirklichkeit wird sie eben nicht honoriert.“ Die Folge: „Nur wenige identifizieren sich mit ihrem Unternehmen“, sagt Carmen, „wir werden von den Bossen nicht ernst genommen, also sehen wir Arbeit als notwendiges Übel.“ Und genau in diese Stimmungslage platzte Macrons Alleingang zur Erhöhung der Lebensarbeitszeit: „Weil wir beschissene Löhne bekommen, sehnen viele die Rente herbei – und dann nimmt uns Paris auch noch die Vorfreude auf einen entspannteren Lebensabend.“
Nicole, René, Carmen und Michel reden nicht gerne darüber, was sie gewählt haben. Einiges spricht dafür, dass sie mit Marine Le Pens sozialen Versprechen liebäugeln. Das hochstilisierte Thema Migration nennt das Quartett dabei nicht einmal als Grund für seine Politikverdrossenheit – obwohl terroristische Anschläge in Frankreich weit häufiger sind als hierzulande. „Ich kann die Wut der jungen Leute in den Banlieues, den trostlosen Vorstädten, verstehen“, sagt Carmen. „Denen geht’s nicht anders als uns.“ Es wurde viel versprochen, wenig gehalten.
Die Versuchung Marine Le Pens
Wenn die Franzosen so wütend sind, warum haben sie bei dieser Wahl dann doch einen Rückzieher gemacht? „Wir wissen doch alle, dass hinter den großen Sprüchen von Le Pen auch nur die eigenen Machtinteressen stehen“, analysiert Michel Develey nüchtern. „Am liebsten hätten wir unser altes Leben zurück, ohne die Schreihälse, die so tun, als würden sie uns helfen“, seufzt Nicole Miguet. Und Gatte René meint: „Es ist vielleicht die letzte Chance der gemäßigten Parteien, die Probleme zu lösen.“
Die aber sind gewaltig und beileibe nicht nur hausgemacht. Auch Frankreich stöhnt unter den Folgen des Ukraine-Kriegs, dem gnadenlosen Wettbewerb auf den Weltmärkten, gestiegener Energiekosten – auch und gerade wegen der maroden Atomkraftanlagen. „Wenn die nächste Regierung die Krise nicht in den Griff bekommt“, halten es die vier Burgunder unisono für sehr wahrscheinlich, dass die Franzosen der Versuchung Le Pens erliegen. „Aber wir wissen auch, dass sie ein Wolf im Schafspelz ist, die sich nur so moderat gibt, um ihre Chancen zu verbessern“, ist sich Carmen Develey sicher.
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