Wahl-Kommentar: Es gibt Alternativen zur Alternative für Deutschland

Weiden. Die Rituale sind kaum mehr auszuhalten. Seit Monaten steht die AfD in Thüringen und Sachsen bei um die 30 Prozent. Am Wahlabend dann die große „Überraschung“: Die Prognosen stimmen. Gespielte Bestürzung, Schuldzuweisungen und ein schweigender Scholz.

Honeckers Staatsfeind Nummer 1: Der ausgebürgerte DDR-Liedermacher Wolf Biermann über AfD-Anhänger. Foto/Collage; dpa/jrh

Wolfgang Schäuble hat den Begriff eines Europas der zwei Geschwindigkeiten geprägt. Heute kann man sagen: Es gibt auch ein Deutschland der zwei Geschwindigkeiten. Noch ist nicht klar: Hinkt Ostdeutschland hinterher oder ist es einfach nur ein Stück weit voraus – wie Frankreich, Italien oder Ungarn, wo Rechtspopulisten und Neonazis die stärksten Parteien stellen?

Realität Ost

Es gibt nicht nur zwei Geschwindigkeiten, es gibt auch verschiedene Realitäten. Da ist einmal die Realität Ost, die auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung von den Enttäuschungen nach der Wende gespeist wird. Vom Systemwechsel unterbrochene, zum Teil entwertete Biografien, Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung. Als ich 1989 Dresden besuchte, lernte ich in einem Studentenwohnheim Anne Bohley, Nichte der Dissidentin Bärbel Bohley, kennen.

Einen Kreis von klugen und mutigen Menschen, die mit dazu beitrugen, die DDR-Diktatur zu stürzen. Das genaue Gegenteil derjenigen, die ohne jedes Risiko durch das schöne Elbflorenz laufen, „wir sind das Volk“ grölen, und alle ausschließen, die anders denken. „Die, die zu feige waren in der Diktatur, rebellieren jetzt ohne Risiko gegen die Demokratie“, sagt Wolf Biermann, den Honecker als Staatsfeind Nummer 1 hinterrücks ausbürgern ließ. „Den Bequemlichkeiten der Diktatur jammern sie nach, und die Mühen der Demokratie sind ihnen fremd.“

Stille Heldin des Widerstands: An der Ost-Berliner Großdemonstration am 4. November1989 beteiligte sich auch Bärbel Bohley (links), Mitbegründerin der DDR-Oppositionsgruppe Neues Forum. Foto: jrh

Der Oberstudienrat aus Lünen

Und auch wenn Kohls „blühende Landschaften“ heute in vielen Regionen Sachsens und Thüringens Realität sind: Die Demütigungen der Besserwisser aus dem Westen sind nicht vergessen. Noch heute dominieren Wessis die Führungspositionen in Landesregierungen, Universitäten und Gerichten. Und auch der Rechtsextremismus ist ein lupenreiner Exportartikel aus dem Westen: NPD und Konsorten haben schnell begriffen, dass ihre Ideologie bei den teils orientierungslosen Neubürgern auf fruchtbaren Boden fällt.

Einer davon ist ein Oberstudienrat aus Lünen, der Geschichte und Sport unterrichtete. Ein unscheinbarer Westfale, dessen Vater die antisemitische Zeitschrift „Die Bauernschaft“ des verurteilten Holocaustleugners Thies Christophersen abonniert hatte, die gerne Bilder von Hitler abdruckte. Das Trauma der Flucht aus Ostpreußen seiner Großeltern habe ihn geprägt, erzählt Björn Höcke. Beeindruckt habe ihn die Prophezeiung seines Vaters nach dem Mauerfall, „nun werde der multikulturelle Westen die noch intakte Vertrauensgemeinschaft im Osten zerstören“.

Ausgerechnet ein narzisstischer Wessi

Ausgerechnet einem westfälischen Narzissten, der sich als eine Art germanischer Messias begreift und 2013 seine Stunde gekommen sah, um mit der Gründung der AfD in Thüringen bei den verunsicherten Ostdeutschen zu missionieren, nimmt ein Drittel der Einwohner des Landes der Weimarer Klassik ein abstruses Heilsversprechen ab. Einem Wessi, der mittelständischen deutschen Unternehmen, die sich gegen Fremdenhass engagieren, „schwere, schwere wirtschaftliche Turbulenzen“ wünscht. Na, dann viel Erfolg! Für die real existierenden Probleme unserer Zeit hat das Programm Höckes keine Rezepte.

Weder für die Bedrohungen durch neoimperialistische Mächte wie Russland und China, für deren Expansionsgelüste Höcke Verständnis zeigt: „Heute ist Russland – ob man das hören will oder nicht bei den Mainstream-Medien – ein Land, mit dem sich nicht nur negative Assoziation verbinden, sondern eben auch der eine oder andere eine Hoffnung hat, dass das eventuell ein Vorkämpfer für eine Welt freier und souveräner Staaten ohne hegemonialen Einfluss sein könnte.“

Björn Höcke, Spitzenkandidat der AfD zur Landtagswahl 2024 in Thüringen, kommt zur Stimmabgabe für die Landtagswahl in seinem Lada. Foto: dpa

Verstörende Erotik-Appelle

Auch nicht für den eklatanten Fachkräftemangel, dem die AfD mit einer Art biodeutscher Sexualtherapie begegnen möchte: Eine „desaströse Familienpolitik“ der de facto Ein-Kind-Politik habe zur Überalterung Deutschlands geführt. Dass seit den 1960er Jahren alle Industrieländer einen Geburtenrückgang verzeichnen, der sich nicht durch verstörende Erotik-Appelle stoppen lässt, ignoriert die Partei, um die schlichte ökonomische Notwendigkeit von Zuwanderung leugnen zu können.

Und dass ausgerechnet ein verbeamteter Lehrer, der bisher vor allem durch die Forderung nach Verboten aufgefallen ist, die Fesseln des erstickenden Bürokratismus lösen könnte, darf erst recht bezweifelt werden. Höckes geistiger Spiritus Rector ist Götz Kubitschek, der auf seinem Rittergut im sächsisch-anhaltinischen Dorf Schnellroda mit dem Institut für Staatspolitik für Höcke die ideologische Schulung der Jungen Alternative und die rechtsextreme Vernetzung vorantreibt.

„Zurüstung zum Bürgerkrieg“

Das Ziel von Höckes Vordenker: die Abschaffung des Parlamentarismus und der Staatsumbau hin zu einem völkisch-nationalistischen Land. Mit der Veröffentlichung des Autors Thorsten Hinz in seinem Antaios-Verlag zeigt Kubitschek, wie das zu schaffen sei: In seinem Buch „Zurüstung zum Bürgerkrieg“ schreibt Hinz, die Rechten müssten sich darauf vorbereiten, dass aus dem „geistigen Bürgerkrieg“, dem Kulturkampf zwischen links und rechts, eine ethnische Auseinandersetzung um den Zugang zu sozialen Ressourcen werde.

Während sich die Kämpfer der rechten Parallelwelt auf den Tag X vorbereiten, „den Umschwung, von dem sie träumen“, und der aus Sicht der Rechtsextremen „zum Greifen nah“ sei, wie Axel Reitz, Aussteiger aus der Neonazi-Szene sagt, verstrickt sich die bürgerliche Mitte in ihrem eigenen Kulturkampf: Union gegen Ampel, echte und virtuelle Stammtische gegen Klimaaktivisten, Söder gegen das Gendern und alle zusammen gegen Flüchtlinge und Grüne.

Die Philosophen des Vogelschisses: Alexander Gauland (links), der rechtsextreme Publizist Götz Kubitschek (Mitte) und Björn Höcke bei einer Mahnwache rechter Gruppen vor dem Bundeskanzleramt in Berlin. Archivbild: dpa

Der Kanzler der Stille

Mittendrin ein Kanzler der Stille. Man könnte ja meinen, in dem unaufhörlichen hysterischen Kreischen der Sozialen Medien wäre eine Politik der ruhigen Hand ein wohltuender Ort der Besinnung. In Wirklichkeit hat Olaf Scholz schlicht nicht viel zu sagen. Im eigentlichen Sinn, weil kaum eine Linie zu erkennen ist, der er folgen würde: Zeitenwende, aber ohne Mittel. Unterstützung der Ukraine, aber zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben.

Im übertragenen Sinn hat der Regierungschef auch in der Ampel wenig zu melden: Zugegeben, es bräuchte schon einen Rhetoriker der Güte Ciceros, einen Charismatiker der Qualität Willy Brandts und einen Macher der Konsequenz Helmut Schmidts, um einen Laden zusammenzuhalten, in dem Grüne mit Lastenrad und FDP mit Porsche in entgegensetzte Richtungen manövrieren – und mittendrin die SPD mit Zügeln aus Gummi, die vor allem weiß, was sie nicht will.

Die drei Olafs. Cartoon: Eulenspiegel

Eine utopische neue Regierung

Wer immer nach der stillgelegten Ampel regiert, sollte sich nicht zu früh freuen. Die Herausforderungen sind gewaltig. Und sie gleichen der Quadratur des Kreises. Die nächste Regierung muss unter Beweis stellen, dass sie Probleme nicht nur benennt, sondern auch unter schwierigen Rahmenbedingungen lösen kann. Wie den Bau von Wohnungen bei gleichzeitiger Krise der Bauwirtschaft. Die Sanierung von Schulen und Infrastruktur bei knappen Kassen. Ein ökologisch vertretbares Wirtschaftswachstum. Digitalisierung und KI-Anwendung, ohne die kritische Infrastruktur noch anfälliger zu machen.

Und würde eine mutige Regierung tatsächlich weniger Bürokratie wagen, würde das Zumutungen im Bereich Umwelt-, Daten- und Verbraucherschutz mit sich bringen. An der Spitze einer solchen Regierung, deren Schlüsselstellen anstatt mit verdienten Parteisoldaten mit praxiserprobten Experten besetzt sein sollte, müsste ein Staatsmann, eine Staatsfrau stehen, der oder die sich nicht um die nächste Wahl schert. Und er oder sie müsste außerdem ein begnadeter Rhetoriker sein, um notwendige Entscheidungen gegen Widerstände zu verteidigen. Eine solche Utopie könnte den grassierenden Populismus stoppen, der Deutschland und Europa zum Schaden der Mehrheit der Menschen in die Isolation führen wird. Oder Schlimmeres.

Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Höcke auch zu dir.

Welche Regierung wünschen sich die Deutschen? Grafik: Friedrich-Ebert-Stiftung

* Diese Felder sind erforderlich.