Märchen vom Baumriesen und den Glasmurmeln
Altenstadt/Waldnaab. Parabel von der Schule des Lebens: Vom Verlernen der Großzügigkeit und dem Verlust der Unschuld. Jürgen Hubers Kolumne aus seiner fantastischen Welt des Oberpfälzer Waldes und der Glasmacher.
Der Vater gab seinem jungen Sohn die kleine Axt und schickte ihn in den Hochwald, um Holz zu sammeln für den Herd in der Küche und manchmal für die Hitze der späteren Holzkohle, die der Glasofen braucht. Er ging aus dem kleinen, aber lustig bemalten Holz-Haus hinaus und hinein in den dunklen grünen Forst.
Hölzerne Riesen
Die Baumriesen in den Bergen sind alt, hoch und noch höher und sehr stark. Wie eigene Charaktere, bald wie Tiere, fast wie Menschen streben die hölzernen Riesen zum Blau des Himmels. Deshalb, weil er schon seit jeher Respekt vor diesen Wald-Riesen hatte und weil er im Gegenzug zu klein war, um solch große schwere Stämme zu tragen, musste der Sohn sich mit dünnerem Holz begnügen, mit jungen Bäumen und mehr noch mit abgefallenen Ästen zufrieden sein.
Die dünnen Bäumchen wären eben nicht so widerständig, nicht so mächtig gegen seine Anliegen gestimmt, riet ihm der Vater mit zweifelhaftem Hintersinn herabsehend auf seinen Sohn. Meist sammelte er also leichtes dürres Holz, Äste von Bäumen, nicht die Bäume selber. Immer wenn er ein wirklich ansehnliches Bündel beisammen hatte, zog er den Gürtel aus den Schlaufen der Hose und schnürte damit das Holz, den Hosenbund hielt er mit der anderen Hand. So ging der kleine Mann nahezu täglich zu Tal.
Der Alte mit dem Mooshaar
Eines Tages traf er auf einen schon alt aussehenden, aber tatsächlich keineswegs alten Mann. Der Kerl mit vielen Gesichtsfurchen war hoch aufgeschossen wie die Bäume um ihn herum und sein Gesicht braun gegerbt, wie Leder. Scheinbar lebte er genau hier oben in den wild wuchernden Wäldern. Tiptop sah er nicht aus. Und: Noch nie hat man von ihm gehört. Niemand hatte je von ihm erzählt. Sein grünes Haar war vielleicht gefärbt mit Moosextrakt, jedenfalls konnte es kaum natürliche Haarfarbe sein, dachte der Junge.
Die Augen glänzten dunkel, wie große, reife schwarze Oliven. Er sah heraus aus diesen Schwarzkirschen, entschieden, nicht freundlich, dennoch auch nicht unfreundlich. Er sah wenigstens nicht feindselig drein, nicht widerwillig oder missmutig. Er schaute eben, wie er aussah und heraussah – aus sich. Es war ihm dies anscheinend einerlei.
Anselm bittet um Hilfe
Anselm, der Junge, war nicht ängstlich. Natürlich überraschte es ihn, in seinem Wald so einen Ungewöhnlichen, einen Ungewohnten, einen hier so weit oben Wohnenden anzutreffen. Niemals vorher sah er ihn auch nur von Ferne, diesen großen Mann oder auch nur einen annähernd so groß wie ihn. Der große Mann wartete, wie es aussah, auf eine Antwort, so wie er dastand, freilich ohne überhaupt eine Frage gestellt zu haben.
Deshalb fragte kurzerhand der unerschrockene Junge ihn und bat ihn um Hilfe: Du bist so groß und stark und ich bin ein kleiner Junge, bitte hilf mir das Holz ins Tal zu tragen. Ja? Ich gebe dir eine meiner wunderschönen Glasmacher-Murmeln dafür. So wurde es getan. Am nächsten Tag dieselbe Prozedur und über die Woche und dann allmählich über mehrere Wochen hin, spazierte der Junge ohne Last leicht neben dem großen Holzträger hinab.
Der Glasmurmelmacher
Aber dann waren alle schönen Glasmurmeln weg und der Junge war traurig, denn sie waren sein einziger Schatz. Anselm fragte seinen Vater, ob er ihm neue Murmeln aus dem flüssigen Glas machen könnte. Der Vater ließ sich nicht lange bitten. Mit diesem neuen Spielzeug konnte der Junge den Riesen erneut bezahlen für dessen Arbeit, das Holz zu tragen und Anselm schlenderte leichtfüßig neben dem Giganten einher, ohne Mühe. Er konnte sogar immer mehr Holz schlagen und dem Riesen aufbürden, der dies klaglos zu Tal schleppte.
Den Vater freute es, so viel Holz daliegen zu sehen. Dann plötzlich, an einem beliebigen Tag, wollte der Vater die Murmeln des Jungen sehen, aber Anselm konnte sie nicht vorzeigen. Wenn du die Murmeln nicht hütest und schätzt, sagte der Vater streng, werde ich dir keine neuen mehr machen. Er war ärgerlich und ging ohne weitere Worte hinweg.
Der Tausch
Anselm konnte nun den Riesen nicht mehr bezahlen und musste das Holz wieder alleine schleppen, wie früher. Doch der Riese erschien erneut, begleitete ihn mehrmals bis fast zum Dorf und sprang wie nichts zurück, hinauf in seinen hohen Bergwald. Am nächsten Tag dann aber, welche Überraschung, sprach der Riese zum ersten Mal mit warmer und starker Stimme: Darf ich dir eine Murmel geben, wenn du mir erlaubst, dein Holzbündel zu Tal, zu deinem Haus, zu tragen?
Anselm war erstaunt, erstaunt, dass der Riese reden konnte, dass er sich anerbot, das Holz weiterhin zu tragen und schließlich auch noch mit einer der wunderbaren Glasmurmeln seines Vaters bezahlen wollte dafür. Anselm überlegte nicht lange und gab dem großen Mann das bereits gelesene Holz und nahm die göttliche Glasperle entgegen. Am nächsten Tag erneut und wieder und noch oft. Die Taschen des Jungen füllten sich allmählich wieder mit den Glaskügelchen und später änderten die beiden die Regel erneut und nach längerer Zeit wieder zurück. So ging es fort.
Schule des Lebens
Dann wurde Anselm in die Schule geschickt und hatte keine Zeit mehr, um Holz zu sammeln. Deshalb fand die Familie notgedrungen eine andere Heiz-Lösung für den Ofen und die Glasschmelze. – Und der Riese? Fand er denn auch eine neue Lösung? Er saß oft und lange auf der Felsnadel über dem Dorf und wartete auf eine Gelegenheit seine Dienste anzubieten. Doch der Junge kam nicht mehr und vergaß über all das Neue in seiner Schule allmählich das seltsame Tauschspiel mit dem Riesen.
In der Schule, in der Kirche und im Sportverein auch, lernte er gewissenhaft, den Erfolg im Leben zu erstreben. Er lernte allmählich und wie seine Lehrer stolz sagten, immer besser, mehr zu nehmen, als zu geben. Das war er geworden, einer der Erfolg hat beim Mehrnehmenalsgeben. Nunmehr gab es keinen Weg zurück, zu diesem freundlichen Riesen.
Stationen eines politischen Künstlerlebens
1954: Das Wunder von Altenstadt/Waldnaab ist ein „Weltmeisterjahrgang“.
Kindheit: Das freudig begrüßte Arbeiterkind ist geprägt vom Glashütten-Milieu seines Vaters. Im Kindergarten Premiere als Schauspieler, Begeisterung für Theater und Kunst erwacht.
Schule: Krumme Schullaufbahn über Keplergymnasium Weiden, BOS Regensburg bis zum FOS-Abitur im Bereich Gestaltung.
Sozialer Unternehmer: Der Gründer des legendären Kartenhauskollektivs in Regensburg leitet als Primus inter Pares den Verlag mit Druckerei von 1979 bis 1986.
Ausbruch: Nach halbjährigem London-Aufenthalt 1986 ist er als freiberuflicher Künstler unterwegs.
Über 100 Ausstellungen: Unter anderem in New York, Addis Abeba, Italien, Finnland, Polen und Tschechien.
Galerien: Seine Werke hängen in renommierten Galerien, wie Rudi Pospieszczyk in Regensburg, Axel Holm in Ulm, Otto van de Loo in München, Galerie Räber in Zürich, Galerie Slama in Klagenfurt oder Galerie Deschler in der Berliner Auguststrasse.
Messen: Ausstellungen auf Kunstmessen in Köln, Karlsruhe und Wien.
Museumsausstellungen: Als Solist, mit seinem Künstlerfreund Jan Pruski (Olsztyn, Masuren), als Mitglied der Künstlergruppe „Warum Vögel fliegen“ und dem Kunstverein GRAZ.
Veröffentlichungen: Herausgeber von mehr als einem Dutzend „Bilder-Lese-Büchern“ und Verfasser des fantastischen Debütromans Hiobertus, der in seiner zunehmend surrealen Flucht an Carl Einsteins kubistischen Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ erinnert.
Politik: 12 Jahre Regensburger Stadtrat von 2008 bis 2020, sechs Jahre Umwelt-Bürgermeister in der Ära Wolbergs, den Huber als „schlampiges Genie“ in Schutz nimmt, „der Regensburg von bleierner gesellschaftlicher Lähmung“ befreit habe.
Heimat und Fremde: Nach einem längeren Aufenthalt in Mailand und langjährigem Zweitwohnsitz in Berlin lebt Huber heute in Schönsee (Landkreis Schwandorf) an der tschechischen Grenze. Kunstphilosophie von Karl Valentin inspiriert: „Kunst ist schön, macht aber Arbeit.“ Was er an seinem Genre liebt: „Man erfindet dabei die Welt – im Auge des Betrachters erst ganz und gar.“
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