Manisch-depressiv: Täter keine Gefahr für Allgemeinheit

Weiden. Der Angeklagte beging die gefährliche Körperverletzung im Zustand der Schuldunfähigkeit. Die erste große Strafkammer verhandelte darüber, ob die Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorliegen. Das Opfer leidet noch heute unter den psychischen Folgen der Tat. Wie aber kam es soweit, dass ein intelligenter Student einen Pfleger im Bezirkskrankenhaus Wöllershof angriff?

Von Benedikt Grimm

Unter einem Vorwand lockten L. und der Angeklagte W. den Pfleger im Bezirkskrankenhaus auf ihr Zimmer. W. hätte Schmerzen an der Zehe. Es war ein Uhr morgens am 17. Juni 2014. Die Fußballweltmeisterschaft war am Laufen und die Stimmung der Patienten L. und W. – so die Erinnerung des Opfers – unauffällig. Am Abend hatten sie noch gemeinsam mit dem Pfleger auf der Terrasse geraucht. Beide Patienten leiden an manischen Depressionen. Phasen von Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit wechseln mit Phasen von übersteigerter Motivation und überdrehter Stimmung. Mitten in der Nacht weckte L. seinen Zimmernachbarn. L. will raus aus dem Bezirkskrankenhaus. Wenn der Pfleger erst auf dem Zimmer ist, soll er gefesselt werden, um ihm seine Schlüssel abzunehmen.

“Du weißt, dass ich dich töten kann”

Als sich der 25-jährige Pfleger im Bad des Patientenzimmers zur Zehe des W. beugt, legt ihm L. einen Strick um den Hals. Es handelt sich um die Notrufleine, die in jedem Sanitärraum installiert ist. „Du weißt, dass ich dich töten kann“, droht L. dem Pfleger. „Und diese Worte werde ich nicht vergessen“, sagte das Opfer bei seiner Zeugenvernehmung. Gerade noch rechtzeitig kann er den Strick mit seiner Hand fassen und den direkten Kontakt zu seinem Hals verhindern. Widerstandslos gibt er seine Magnetkarte her. Doch L. will auch den Schlüsselbund, an dem der Pfleger seine privaten Schlüssel aufbewahrt. „Ich habe hundert Mal probiert zu erklären, dass die Magnetkarte ausreicht“, erinnerte sich der Geschädigte.

Gefährliche Körperverletzung Wöllershof
Die erste große Strafkammer mit den Richtern Markus Fillinger, Langerichtspräsident Walter Leupold und Dr. Marco Heß entschied, dass der Unterbringungsbefehl für W. (vorne, Mitte) abzulehnen ist. Bild: Grimm

Mit heißem Wasser abgebraust

L. lässt sich nicht überzeugen. „Du weißt, dass ich stärker bin als du“, soll er weiter gedroht haben. Dann tritt er dem Pfleger in den Rücken. Der kippt nach vorne in die Dusche. Dabei kann er die Notrufleine an seinem Handy ziehen.

Ich hab mich nicht mehr rausgesehen aus dieser Situation. Ich dachte ich komm nie mehr raus

sagte der 25-Jährige noch immer sichtlich unter dem Eindruck der über ein Jahr zurückliegenden Tat. Der Notruf erreicht alle Stationen. Aber auch das Handy selbst gibt Alarm. L. schlägt daraufhin auf das Opfer ein, versetzt ihm Fußtritte und fordert W. auf, den Alarm abzustellen. Der schlägt das Gerät gegen das Waschbecken – erfolglos. W. soll das Handy unter Wasser setzen. Das versteht er aber offenbar falsch. Er greift zum Duschhahn und braust den im Duschbecken kauernden Pfleger mit heißem Wasser ab.

„Ich hatte den Eindruck, dass er einfach hingelangt hat“, sagte das Opfer auf Nachfrage von Landgerichtspräsident Walter Leupold. Bewusst verbrühen wollte W. den Pfleger offenbar nicht. Zwei Pflegerinnen erreichen zuerst den Tatort. L. flieht, nachdem er auch die beiden Frauen bedroht hat. W. holt sich Tee und legt sich wieder schlafen. „Ich war absolut perplex. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte“, sagte W. in der Verhandlung. Als L. ihn bat den Pfleger ins Zimmer zu locken, sei er davon ausgegangen, dass der Mitpatient nur Spaß machen wolle.

Zwei schwere Krankheiten

W. litt an manischen Depressionen. Bislang überwogen die depressiven Phasen. Im Juni 2014 kehrte sich die Stimmungslage um. „Ich hatte tolle Ideen, war sehr verschwenderisch mit Geld und war allgemein sehr überdreht“, erinnerte sich der Angeklagte. Seine Mutter und seine Schwester brachten ihn daraufhin ins Bezirkskrankenhaus. Gerichtsarzt Dr. Bruno Rieder bestätigte eine schizoaffektive Psychose und eine bipolare affektive Krankheit. „Beide Krankheiten sind schwere, ernsthafte Krankheiten“, betonte Dr. Rieder. Das Steuerungsvermögen könne erheblich vermindert oder gar aufgehoben sein. Dr. Rieder hatte den Angeklagten psychologisch untersucht. „All das was geschildert wurde, ist nicht das gewöhnliche Verhalten von Herrn W., sondern Ausdruck seiner Erkrankung. Ich gehe davon aus, dass das Steuerungsvermögen aufgehoben war.“

Suizidversuch mit 21 Jahren

W. ist ein stattlicher junger Mann. Zur Verhandlung kommt er mit dunklem Hemd und Hornbrille. Er hatte einige Jahre ein Gymnasium besucht, später die Fachhochschulreife erlangt und in Weiden studiert. Nach neun Semestern musste er sein Studium wegen seiner Erkrankung abbrechen. Als er 21 Jahre alt war, scheiterte ein Suizidversuch wegen einer nicht erwiderten Liebe. Er hat eine Qualifikation als technischer Assistent für Informatik erlangt, bezieht jetzt aber Arbeitslosengeld II und sucht nach einer Anstellung. Über eine Kreditkarte hat er rund 5.000 Euro Schulden angehäuft. In gleicher Höhe muss er noch BAföG-Mittel zurückbezahlen.

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Der Pfleger war nach der Tat drei Wochen krankgeschrieben, litt monatelang an Kopfschmerzen. „Duschen war lange ein Problem“, sagte das Opfer. Auch mit Dunkelheit und allgemein mit Alleinsein kam er nicht mehr zurecht. Nach zwei weiteren Wochen Urlaub nahm er seine Arbeit wieder auf. „Zwar nicht mehr so souverän wie vorher, aber es macht trotzdem noch Spaß.“ „War er mehr die Marionette, der Befehlsempfänger?“, wollte der Verteidiger von W., Rechtsanwalt Tobias Konze, vom Opfer wissen. „Die treibende Kraft war der L., aber der W. hätte mir auch helfen können“, antwortete der Pfleger.

Es tut mir schrecklich leid was damals passiert ist. Ich war damals mental nicht gesund. Das ist natürlich keine Entschuldigung, aber ich möchte mich aufs förmlichste nochmals entschuldigen

erklärte der heute 28-jährige W., bevor der Pfleger den Zeugenstand verließ.

Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus notwendig?

Dass W. die gefährliche Körperverletzung im Zustand der Schuldunfähigkeit ausübte, bezweifelte auch Staatsanwalt Hans-Jürgen Schnappauf nicht. Die entscheidende Frage sei, ob eine Unterbringung anzuordnen ist oder nicht. Man könne nicht ausschließen, dass die manische Phase wieder eintrete. „Das kann kein Mensch mit der nötigen Sicherheit ausschließen“, erklärte Dr. Rieder. W. mache aber den Eindruck, dass die Behandlung gut anschlage. „Er steht betroffen vor diesen Ereignissen. Er ist motiviert sich weiter behandeln zu lassen.“

Offensichtlich sei es die erste manische Phase des W. gewesen, erklärte Gruppenleiter Schnappauf im Schlussvortrag. Es stelle sich die Frage, ob überhaupt wieder eine solche auftrete. Auf Grund der durchgeführten Hauptverhandlung habe er den Eindruck gewonnen, dass die Unterbringung nicht notwendig ist. „Wir haben wohl eher das Problem einer Selbstgefährdung, denn einer Fremdgefährdung“, sagte Verteidiger Konze. „Beim besten Willen“ erkannte auch Leupold keine gesteigerte Gefährdung, „nicht mehr wie bei jedem anderen.“

Seitenhieb Richtung Bezirkskrankenhaus

Mit Unverständnis reagierte Landgerichtspräsident Walter Leupold auf die Frage des Opfers, ob er von seiner Schweigepflicht entbunden sei. Der Pfleger gab an, dass seine Chefs ihn mehrfach darauf hingewiesen hätten, diese Frage zu stellen. Es ginge doch nicht um die Patienten, sondern um seine Erinnerungen von der Tat, erwiderte Leupold. „Ein Justitiar im eigenen Hause sollte sich das schon mal überlegen“, so der Landgerichtspräsident, der solche Fragen schon öfter hatte. „Da würde ich die Reihenfolge schon mal umdrehen: Erst fragen, ob man etwas sagen darf und dann Anzeige erstatten.“

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