SPD-Debatte über Migration: Und wie schaffen wir das jetzt wirklich?

Weiden. Sie wissen am besten, wie Integration gelingen kann – und wie eben auch nicht: Die Weidener Frauenärztin und SPD-Integrationsbeauftragte Sema Tasali-Stoll lud SPD-Vize-Generalsekretär Nasser Ahmed zum Erfahrungsbericht in den Ratskeller.

So geht Integration sagen
Weidens SPD-Integrationsbeauftragte Sema Tasali-Stoll (von rechts), Bayern-SPD-Vize-Generalsekretär Nasser Ahmed, Stadtverbandsvorsitzende Sabine Zeidler, Alt-Bezirkschef Franz Schindler und Juristin Beate Büttner. Foto: Jürgen Herda

Eine Beobachtung am Rande bei dieser gut besuchten Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt im SPD-Bezirksverband Oberpfalz: Dass der Weidener Ratskeller die gut 25 durstigen Gäste an diesem heißen Freitagabend im Nebenraum um Selbstbedienung an der Theke bittet, zeigt, wie gravierend der Fachkräfte-Mangel inzwischen ist. 

Und eben auch: Dass wir trotz Zuwanderung nicht in der Lage sind, Menschen, die arbeiten wollen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Kein geschäftstüchtiger Wirt würde sich ansonsten den Zusatz-Umsatz, entgehen lassen, den eine aufmerksame Bedienung bei 30 Grad anzukurbeln wüsste.

Voller Nebenraum im Rathauskeller bei der SPD-Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt. Foto: Jürgen Herda

Als Integration noch ein Fremdwort war

Dass Integration noch ein Fremdwort war, als Nasser Ahmeds Eltern aus Eritrea nach Deutschland flüchteten, schildert der in Nürnberg geborene Vize-Generalsekretär der Bayern-SPD mit fränkischem Humor: „Ich bin waschechter Franke und gerne über die Grenze in die Oberpfalz gekommen.“ 

Und er stellt klar, dass seine Eltern keine Wirtschaftsflüchtlinge waren. Die ehemalige italienische und anschließend britische Kolonie wurde 1952 mit Äthiopien föderiert und 1962 vom äthiopischen Kaiser Haile Selassie annektiert. Die Anfang der 1960er gegründete muslimisch dominierte Eritreische Befreiungsfront (ELF) forcierte einen Unabhängigkeitskrieg. Mitte der 1970er Jahre spaltete sich die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) ab und gewann die Oberhand.

Deutschland als Sehnsuchtsort

„Mein leider schon verstorbener Vater sollte mit 14 Jahren an die Waffen, um für eine dieser Gruppe zu kämpfen.“ Er flieht zusammen mit Nassers Mutter. „Sein Sehnsuchtsort war immer Deutschland, weil er sagte, dass man hier eine Chance bekommt, eine Zukunft aufzubauen, egal, wo man herkommt und egal wie man ausschaut.“ 

Für Nasser und seinem Bruder, der Erzieher ist, sei diese Vision aufgegangen: „Wenn man hart arbeitet, kann man es schaffen.“ Für diese Botschaft, dass jeder Mensch, wie sein Vater, eine Chance verdient hat, engagiert sich der 35-Jährige in der SPD: „Die seit 150 Jahren dafür kämpft, dass jeder Menschen eine Chance bekommt.“

SPD-Bezirksrätin Brigitte Scharf erlebt bei der Rentenberatung, dass immer mehr Kunden die Schuld für alles und jedes bei Ausländern suchen. Foto: Jürgen Herda

Keine Sprachkurse für die Eltern

Trotz dieser Erfolgsgeschichte hätte die Integration seiner hoch motivierten Eltern auch noch besser gelingen können: „Meine Mutter kann ganz gut Deutsch, aber sobald sie ein Amtsformular in der Hand hat, ist es vorbei.“ Damals seien Sprachkurse für Immigranten gar nicht vorgesehen gewesen. „Meine Mutter sagt heute, es war ein Fehler, dass sie sich nicht selbst um einen Kurs bemüht hat, um Teilhabe zu erlangen.“ Viele Einwanderer hätten damals erst Geld verdienen wollen und müssen.

Wie es besser gehe, zeige heute der Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen, die alle einen Sprachkurs und eine Arbeitsgenehmigung bekommen. „Lasst uns das Beispiel der Ukrainer für alle umsetzen, als Chance für die Integrationspolitik – auch dafür kämpfen wir am 8. Oktober bei der Landtagswahl“, sagt Wahlkämpfer Nasser Ahmed.

„Arbeit und Leben“-Geschäftsführer Herbert Schmid will mit dem Holi-Festival eben gerade nicht ausgrenzen. Foto: Jürgen Herda

„Dann hätten wir heute mehr Fachkräfte”

Diese Erfahrungen kann Sema Tasali-Stoll bestätigen: „Meine Eltern sind Ende der 1960er Jahre in Deutschland am Bahnhof angekommen und wurden gleich in die Schokoladenfabriken, erst Sarotti dann Stollwerck, gebracht.“ Von Deutschkursen, keine Rede. „Sie wurden in Frauen- und Männerwohnheime untergebracht, wo sie die Sprache nicht lernen konnten.“ Man war der Meinung, das sei für die Gastarbeiter nicht nötig. „Sie konnten ja, nein, wie viel kosten?“ Das musste reichen. 

„Wenn man damals schon Kurse angeboten hätte, hätten wir heute in vielen Bereichen mehr Fachkräfte.“ Wenn man die Zahlen der Flüchtlinge, die an Integrationskursen allein in Weiden teilnähmen, betrachte, werde klar: „Das sind über 700, die Menschen wollen sich integrieren, wenn man sie lässt.“ Ihre Eltern seien aus familiären Gründen zurück nach Istanbul gegangen: „Ich bin erst als Ärztin nach Deutschland gekommen.“

Christina Schmid, Oberpfälzer Juso-Bezirksvorsitzende, erwartet sich von der bayerischen SPD-Spitze Orientierung gegen rechts. Foto: Jürgen Herda

Was brauchen die Bürgermeister?

Beate Büttner, die 27 Jahre als Juristin für die SPD-Landtagsfraktion gearbeitet hatte und sich mit dem Thema Migration beschäftigte – „Franz Schindler war mein Chef“ – beschreibt die Lage so: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Jetzt gehe es darum, die vielen Flüchtlinge, die bei uns bleiben werden, zu integrieren. Die Frage sei: „Wird da genug getan? Die CSU hat immer gesagt, das ist Sache des Bundes. Muss nicht aber auch der Freistaat Bayern viel stärker in die Pflicht genommen werden?“

Und was müsse dazu bei den Kommunen bereitgestellt werden: „Die Menschen kommen ja bei euch an“, richtet sie sich an die anwesenden Bürgermeister Robert Lindner und seinen Vorgänger Günter Stich (Floß) sowie Sebastian Dippold (Neustadt/WN): „Was braucht ihr, wer finanziert den neuen Kindergarten?“

SPD-Stadtverbandsvorsitzende Sabine Zeidler entschuldigt die erkrankte Landtagskandidatin Nicole Bäumler, die immerhin als Plakat präsent ist. Foto: Jürgen Herda

Kämpfen, um Verständnis füreinander

Stadträtin und SPD-Stadtverbandvorsitzende Sabine Zeidler nimmt den Ball als Weidener Kommunalpolitikerin auf: „Je näher der Wahltermin rückt, desto enger rückt man zusammen.“ Die Rechte der Migranten gehörten zur Identität der SPD. „Aber wir müssen mehr denn je kämpfen, um Verständnis füreinander, das war noch nie so herausfordernd wie jetzt – aber wenn’s einfach ginge, wären wir bei den Schwarzen.“

Was das konkret bedeutet, macht die Weidener Integrationslotsin Stefanie Wildenrother deutlich, die in der Stadtverwaltung die Bedarfe der Immigranten ermittelt und sie dann weiter lotst zu den zuständigen Stellen wie das Jobcenter und oft auch nur zu Ehrenamtlichen. Das Problem: „Viele, die sich seit 2015 engagiert haben, sind ausgepowert, die sagen, ,7 Jahre reichen, jetzt ist mal der Staat mal dran’.“

Weidens Integrationslotsin Stefanie Wildenrother warnt vor der Überforderung der Ehrenamtlichen. Foto: Jürgen Herda

Die Ehrenamtlichen sind überfordert

Ein bedenklicher Trend, befürchtet Wildenrother, denn „viele Einwanderer hätten den Schulabschluss ohne die Unterstützung von und den Gesprächen mit den Ehrenamtlichen nicht geschafft”. Und dass immer wieder Menschen durchs Raster fallen, zeige dieses Beispiel: „Im Landkreis kamen 20 Ungarn teilweise mit Familien an”, erzählt sie. „Die Arbeiter waren versorgt, die Familien nicht – es gibt keine Kindergartenplätze, keine Sprachkurse für die Frauen, die Chance wurde verpasst, sie in die Gesellschaft zu integrieren.” 

Um konkrete Hilfestellung zu leisten, habe man ein Sprach-Café aufgemacht. Oft sei die Situation so, dass die Kinder, wenn sie  5 Jahre alt sind, für ihre Eltern dolmetschten. Und die Ehrenamtlichen würden immer älter. „Sie versorgen ihre Familien weiter, aber können nicht noch mehr leisten.“ Deshalb versuchten Migranten, die schon länger hier sind, ihre Landsleute zu betreuen. „Es gibt Menschen, die haben gehört, man könne sich in Deutschland integrieren, wenn man Müll sammelt.“

Zusammen mit „Arbeit und Leben“ sei man dabei, ein Ehrenamtsportal aufzubauen: „Das ist eine Win-win-Situation, weil viele sagen, wir wollen kein fremdes Geld, wir wollen unser eigenes Geld verdienen oder zumindest einen Beitrag leisten.“

Karl-Heinz Roth, Vorsitzender AG 60 plus (im Ringel-Shirt), verwahrt sich dagegen, alles schönzureden: „Ich will wissen, was wir konkret tun können, ich bin ein Mensch der Arbeit, nicht der schönen Worte.“ Foto: Jürgen Herda

Viele Monate warten auf Sprachkurse

Herbert Schmid, Geschäftsführer der gewerkschaftlichen Bildungsinstitution Arbeit und Leben, betont, dass er mit vielen Anwesenden bereits Projekte umsetzt. Das ändere nichts daran, dass vieles im Bereich Integration nicht rund laufe: „Die Wartezeiten auf Sprachkurse sind eine Katastrophe, das dauert oft ein halbes Jahr bis zu 9 Monaten, Lehrkräfte sind vielerorts nicht vorhanden.“ Man versuche über Serviceklubs Geld für Kurse aufzutreiben. Von wegen, wir schaffen das: „Das ist eine staatliche Aufgabe.“

Das kann Nasser Ahmed nur unterstreichen: „Die SPD-Bezirkstagsfraktion Oberbayern hat neulich einen Preis an eine beeindruckende mittsiebzigjährige ehemalige Gymnasiallehrerin verliehen, die mit ehrenamtlichen Lehrkräften Deutsch als Zweitsprache gibt“, erzählt er. Aus den Nachbarlandkreisen habe man die Migranten zu ihr geschickt. 

Er habe ihr bei der Preisverleihung gesagt: „Ihnen sollte ein Orden verliehen werden, aber das ist staatliche Aufgabe, das muss der Freistaat Bayern gewährleisten.“ Die Betreuung von Flüchtlingen würde ohne Ehrenamtliche nicht funktionieren. „Die AWO betreut oft mit nur einer Kraft Hunderte Flüchtlinge, das kann nur unterstützend sein, aber staatliche Leistungen nicht ersetzen.“

Petra Thoma, Tirschenreuther ASF-Kreisvorsitzende, ärgert sich darüber, dass Hubert Aiwanger als zweiter Mann im Freistaat gegen Flüchtlinge Stimmung macht. Foto: Jürgen Herda

Diskussion: Wie soll Integration gelingen?

  • SPD-Bezirksrätin Brigitte Scharf ärgert sich über den zunehmend respektlosen Ton: „Kürzlich kam bei der Rentenberatung einer rein, der gleich an der Tür zu schimpfen begann, ,was ist das für eine Sauerei, ich bekomme ich kein Rentengeld, wenn ich Syrer war, hätte ich es schon’. Es hat sich dann herausgestellt, dass er einfach die vergangenen 12 Monate nicht genug gearbeitet hat. Ich beobachte in den letzten Monaten, dass immer mehr Leute jeden Unmut auf die Ausländer schieben. Das ist für mich erschreckend. Und der glaubt dann auch noch, dass er 1800 Euro Rente bekommt, wenn die AfD drankommt.”
  • Karl-Heinz Roth, Vorsitzender der AG 60 plus, findet es nicht zielführend, die real existierenden Probleme schönzureden. „Ich will wissen, was wir konkret tun können, ich bin ein Mensch der Arbeit, nicht der schönen Worte.“ 
  • Petra Thoma, Tirschenreuther ASF-Kreisvorsitzende, ärgert sich über den zunehmend aggressiven Ton bei CSU und Freien Wählern: „Wenn Hubert Aiwanger als zweiter Mann im Freistaat bei der Veranstaltung in Erding und danach bei Lanz Stimmung gegen Flüchtlinge macht, was sollen wir dagegen noch tun?“
  • Christina Schmid, Oberpfälzer Juso-Bezirksvorsitzende, macht Angst, „wenn ich auf die Entwicklung in Thüringen schaue, und auch wir haben einen Patrick Schröder, der auf YouTube rumschreit. Ich sehe da einen gesellschaftlichen Kipppunkt und keinen rhetorischen Gegenentwurf von links – gibt’s da was?“ 
  • Juristin Beate Büttner greift die Frage auf: „Ich glaube, dass man Rassisten nicht mit rationalen Argumenten beikommen kann und wünsche mir, dass sich Florian von Brunn und Ronja Endres hinstellen und denen mal die Leviten lesen gegen Rassismus und Hetze.“
  • Karin Fichtner vom Oberpfälzer Bündnis für Toleranz und Menschenrechte gibt zu bedenken: „Auch ich sehe einen Kipppunkt erreicht und frage, wie kann eine Partei, die für Menschenrechte steht, so ein Abkommen wie die Reform des EU-Asylsystems unterschreiben? Das bestätigt, was CSU und AfD fordern. Und auch das Chancenaufenthaltsgesetz greift nicht für alle, wenn schon Schwarzfahrer aus dem Raster fallen. Das passiert schnell – ich mach’ auch manchmal Dummheiten.“
  • Nasser Ahmed resümiert: „Das größte Hemmnis ist der Rassismus und Menschen, die Integration verhindern wollen.“ Das seien leider nicht nur Rechtsextreme, sondern auch konservative Parteien. „Wenn eine Claudia Pechstein in Polizei-Uniform auf einer CDU-Veranstaltung bejubelt wird, wenn sie sagt, ,wir fühlen uns wieder sicherer, wenn wir 300.000 Ausländer abschieben’, dann haben wir ein Problem.“ Man müsse sich gegen die Lügen von Rechtspopulisten und der BILD-Zeitung wehren, die so tun, als seien Syrer, Habeck und der angebliche der Genderzwang an allem Schuld. „Wo kommt die Krise her? Viele sorgen sich, dass sie sich die Mieten und den Strom nicht mehr leisten können. Wir sorgen dafür, dass keiner unter die Räder kommt, wir müssen die Tarifquote erhöhen, an die Vermögensfragen und die Besteuerung denken.“ Und wer soll aufkommen für die Kosten der Klimakrise? „Die sich die Taschen voll gemacht haben.“

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