Kinder im Wahn aus Fenster geworfen: Gericht entlässt Mutter in Freiheit

Weiden. Die Wahngedanken einer syrischen Mutter waren 2021 so groß, dass sie ihre Kinder aus dem Fenster warf. Sie sah darin den einzigen Fluchtweg. Das Landgericht Weiden fällte am Donnerstag ein neues, überraschendes Urteil.

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Eine syrische Mutter warf unter dem Eindruck einer paranoiden Schizophrenie ihre Kinder aus dem Fenster. Sie stand deshalb in Weiden vor Gericht. Foto: Christine Ascherl

Die dritte Strafkammer unter Vorsitz von Landgerichtspräsident Josef Weidensteiner verkündete um 13 Uhr die Entscheidung. Eine weitere Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde abgelehnt. Der Unterbringungsbefehl vom April 2021 wurde mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Noch in der gleichen Minute ließ Weidensteiner der Beschuldigten die Fußfesseln abnehmen. Sie sei mit sofortiger Wirkung eine freie Frau.

Der Fall ist tragisch: Die Mutter (32) aus Syrien hatte im April 2021 ihre zwei Töchter aus dem Fenster des Frauenhauses in Weiden geworfen. Nach der Trennung von ihrem Mann fühlte sie sich verfolgt. Sie handelte unter dem Eindruck einer unbehandelten Schizophrenie. Das Landgericht Weiden hatte die Frau im Dezember 2021 in einer geschlossenen Klinik untergebracht. Der Bundesgerichtshof verwies das Urteil zurück. Daher das neue Sicherungsverfahren.

Schizophrenie: Symptome mit Medikamenten besiegt

Landgerichtspräsident Weidensteiner begründete am Donnerstag das neue Urteil, das die Entlassung aus der Psychiatrie bedeutet. Die Frau litt zur Tat unter paranoider Schizophrenie. Sie handelte unter Wahngedanken. “Die entscheidende Frage ist: Besteht noch immer eine Allgemeingefährlichkeit?” Dabei gelte das Datum der jetzigen Verhandlung: Und inzwischen sei die Frau – anders als beim ersten Prozess vor anderthalb Jahren – symptomfrei.

Entscheidend sei auch die Wiederholungsgefahr. Diese besteht nach Ansicht des Gerichts nicht, auch was die Kinder betrifft: Die zwei Töchter und zwei Söhne (inzwischen 2, 3, 10 und 12 Jahre alt) wachsen in Obhut des Jugendamtes auf. Es gibt nur kontrollierten Umgang, bislang ausschließlich per Video.

Das Gericht klärte ab, dass die Beschuldigte noch 48 Stunden in der Forensik bleiben kann, also “nicht um 16 Uhr auf der Straße steht”. “Sie sind mit sofortiger Wirkung eine freie Person.” Weidensteiner riet der Frau aber, noch zwei Tage in der Klinik zu bleiben, bis sie eine Bleibe habe. “Es ist nun Aufgabe des Betreuers, innerhalb dieser Zeit für eine sachgerechte Unterbringung zu sorgen.”

Problem: Kein Platz in geeigneten Einrichtungen

Das könnte zum Problem werden: Die Frau hat in Deutschland kein soziales Umfeld. Bis auf ihren Mann, der nach Körperverletzungsdelikten bis vor wenigen Tagen im Gefängnis saß, gibt es keine Verwandten in Deutschland. Von ihrer Mutter ist bekannt, dass sie in einem Flüchtlingslager in der Türkei lebt. Der Rest der Familie ist irgendwo in Idlib.

Die arabisch sprechende Beschuldigte kennt hier niemanden. Der Sachverständige Dr. Bruno Rieder hatte zwar eine Entlassung auf Bewährung für vertretbar gehalten. Großes “Aber”: Es brauche ein Betreuungssystem, beispielsweise in einer betreuten Wohngruppe. Unbedingt müsse gewährleistet sein, dass die Frau ihre Medikamente weiter einnehme.

Einen Platz in einer passenden Einrichtung zu finden – das erwies sich in den letzten Wochen als schwierig. Anwalt Rouven Colbatz ging bei der Suche nach eigener Auskunft über die übliche Verteidigertätigkeit hinaus. Auch Landgerichtsarzt Dr. Bruno Rieder klapperte telefonisch mögliche Adressen ab. Fazit: Es gibt keinen Platz, es werden überall Wartelisten geführt.

Verteidiger Colbatz war positiv überrascht von der Entscheidung, die seiner Forderung aus dem Plädoyer entsprach: “Das ist mehr, als ich erwartet habe.” Das Urteil entspreche der Rechtslage: Aufgrund fehlender Gefahr für die Allgemeinheit gebe es keine Grundlage für eine Unterbringung.

Lebensgeschichte: Seit Jahren auf der Flucht

Ihre Lebensgeschichte hatte die vierfache Mutter dem psychiatrischen Gutachter erzählt: Demnach stammt die Frau aus Damaskus, wuchs mit drei Geschwistern auf. Aufgrund des Bürgerkriegs zog die Familie zunächst nach Idlib. Nach Abschluss der neunten Klasse wurde die Beschuldigte im Alter von 17 Jahren mit dem ihr vorher nicht bekannten künftigen Mann verlobt. Man habe sich aber gut verstanden und im Haus seiner Eltern gelebt. Die Schwiegermutter habe sie “Mutter” genannt, so gut war das Verhältnis.

2015 ging ihr Mann nach Deutschland und leistete sich im Asylbewerberheim im Allgäu eine schwere Körperverletzung, als er einen Mitbewohner mit dem Messer angriff. Seine Frau versuchte 2017 mit zwei Kindern hinterherzukommen, strandete zunächst eineinhalb Jahre in einem Lager in der Türkei, ehe sie 2019 nach Bayern nachreisen konnte. Weitere zwei Kinder kamen zur Welt.

Die Ehe lief indessen nicht reibungslos. Vier Mal rief die Beschuldigte die Polizei, weil ihr Ehemann sie in der Wohnung angegriffen habe. Einmal wurde dabei auch der Sohn verletzt, der die Tür zuhalten wollte. Man brachte die Mutter schließlich mit den Kindern ins Frauenhaus Weiden. Der Rest ist bekannt: Die Syrerin misstraute in Weiden krankheitsbedingt alles und jedem, auch den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses, und sah durch den Fenstersprung den letzten Fluchtweg.

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