Gesellschaft im „Dauerpandemiealarm“: Was passiert da mit uns?

Wöllershof. Die Corona-Pandemie hat uns im Moment fest im Griff. Auch wenn viele Regelungen gelockert wurden, ist noch nicht wieder alles so, wie es vorher war. Ein Gastbeitrag von Dr. Markus Wittmann – ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Wöllershof.

Dr. Markus Wittmann erklärt, was die Corona-Pandemie, die Beschränkungen und die Angst vor Ansteckung mit unserer Psyche macht:

Dr. Markus Wittmann
Dr. Markus Wittmann, ärztlicher Direktor am Bezirkskrankenhaus Wöllershof, über die Folgen der Corona-Pandemie. Foto: privat

“Seit März diesen Jahres hat uns die Pandemie im Griff. Und obwohl es in unserem Land viel geordneter zuzugehen scheint als in vielen anderen Ländern mit teilweise deutlich höheren Infektionszahlen und leider auch Todesfällen, ist in den letzten Monaten viel in Unordnung geraten. Läden mussten schließen, Kurzarbeit wurde flächendeckend eingeführt, das öffentliche Leben kam zunächst fast komplett zum Erliegen.

Jetzt, da man sich an Vieles gewöhnt hat spricht man gerne von einem „Regelbetrieb in Pandemiezeiten“ – was inhaltlich eigentlich ein Paradoxon ist und damit den gelebten Widerspruch in der Realität bereits markiert. Die Bedrohungslage ist komplex. Aus der Angst gegenüber der Viruserkrankung an sich kommen indirekte Ängste hinzu – vor Arbeitsplatzverlust, Verlust des kulturellen Lebens oder der sozialen Bindungen.

Ängste vor Folgen realer als vor Corona

Die Ängste vor den Folgen der Pandemie sind teilweise für viele Menschen greifbarer und realer als das Virus selbst. Umso verständlicher ist es, dass man die Gefahr des Virus an sich relativiert und infrage stellt – mitsamt den Infektionsvorschriften und der Maskenpflicht – es ist eine nur allzu menschliche Form des „Ungeschehenmachens“, auch aus einer Ohnmacht heraus: „Wie kann es sein, dass etwas, das man mit bloßem Auge nicht mal sehen kann und das vor ein paar Monaten noch keine Rolle in unserem Leben gespielt hat, plötzlich meine Existenz gefährdet?“

Durch die Heterogenität der Angst teilen sich die Lager schnell in verschiedene Interessensgruppen und Anhängerschaften unterschiedlicher Theorien. Aufgrund auch einer teilweise unscharfen Faktenlage – was in der medizinischen Forschung bei neuen Erkrankungen und einer Vielzahl von unterschiedlichen Studien der Regelfall ist und im sachlichen Diskurs unvermeidbar – unterscheiden sich Schutzvorschriften teilweise regional erheblich. Im ausgehenden Sommer 2020 beherrscht somit die Pandemie, aber in gleichem Maße auch der gesellschaftliche Umgang damit den öffentlichen Diskurs.

Was passiert da mit uns?

Psychische Folgeerscheinungen von Pandemien sind vielfältig, neben den individuellen Einflüssen gibt es gesellschaftsdynamische Veränderungen, die lange unbeachtet und unterschätzt wurden. Steven Taylor, ein bekannter kanadischer Psychologe, forscht schon viele Jahre über gesellschaftliche Ängste. Schon vor Beginn dieser Pandemie begann er mit einem Buch über Pandemien als psychosoziale Herausforderung („Die Pandemie als gesellschaftliche Herausforderung“, Psychosozial-Verlag). Es erschien in der ersten, englischen Fassung einige Wochen bevor die Pandemie in China ausgebrochen war – natürlich ein Zufall.

Taylor leitet aus der Erfahrung früherer Pandemien Schlussfolgerungen ab für gesellschaftliche Veränderungen, die mit einer Pandemie eintreten, die sich mit den Erfahrungen der letzten Monate erstaunlich gut decken. Dies zeigt, welchen zumindest gesellschaftlichen Regeln eine Krise in Form einer Pandemie folgt. Neu ist allerdings, dass die Menschen trotz der Isolation über neue soziale Medien in Kontakt bleiben können. Das „Wir“-Gefühl vieler sozialer Interaktionsformen wie bei Großveranstaltungen können jedoch soziale Medien nicht ersetzen.

“Coronamüdigkeit” und sinkende Reaktionsbereitschaft

Von früheren Pandemien bekannte gesellschaftliche Folgen sind Verschwörungsdenken, das sich durch soziale Medien – wie alle Informationen – leicht verbreiten lässt, Stigmatisierung von (vermuteten) Erkrankten, zunehmende Diskriminierung v.a. sich in der Minderheit befindlicher ethnischer oder religiöser Gruppen.

Auf Ebene des einzelnen Individuums kann es zu sinkender Reaktionsbereitschaft bei oft wiederholten Warnungen kommen (sog. „Overalerting“), was in der Folge zur sogenannten „Coronamüdigkeit“ führen kann, weil man die Gefährlichkeit des Problems und die dazugehörigen Meldungen nicht mehr wahrnehmen kann oder möchte (sog. „Overriding“). Dass Overalerting zur „Abstumpfung“ führt, wurde bereits in verschiedenen Bereichen (z.B. Software zur Anzeige möglicher Wechselwirkungen von Medikamenten) nachgewiesen.

Die Dauer der Pandemie spielt somit sowohl für die gesellschaftliche als auch individuelle Reaktion eine bedeutsame Rolle. Essentiell ist das Berücksichtigen von Fragen der psychischen Gesundheit und ein auf individuelle Risiken abgestimmtes Krisenmanagement.

“Porträt der nächsten Pandemie”

Zuletzt noch ein Zitat aus Taylors Buch: in dem mit „Ein Porträt der nächsten Pandemie“ betitelten Kapitel äußert er sich weitsichtig: „Haltlose Gerüchte und Fake News werden sich rasch im Internet ausbreiten und Gesundheitsbehörden werden in besonderer Weise damit zu kämpfen haben, diese einzudämmen und Verschwörungstheorien zu widerlegen.“

Sowohl „Entscheidern“ als auch Übermittlern von Informationen kann im Verlauf einer Krise eine ungünstige Rolle zufallen als „Überbringer der schlechten Botschaft“. Da die erhoffte Nachricht vom Ende der Bedrohung ausbleibt, werden andere Informationen in einen emotional negativen Überbau verschoben.

Vor allem sich widersprechende Informationen oder im Nachhinein als unter Umständen sich herausstellende überzogene Reaktionen können dann, obwohl gut gemeint und gut begründet, zu Ablehnung und Widerstand führen und im Extremfall im Kollektiv zu Unruhen und Ausschreitungen.

All dies ist derzeit festzustellen – in einem in Deutschland zum Glück noch nicht bedrohlichen Ausmaß, die Gesellschaft stabilisierende Strukturen betreffend. Dennoch sollten die Vorgänge auch weiterhin Anlass genug sein, die Ängste und Sorgen in der Bevölkerung genauso ernst zu nehmen wie das Virus selbst.

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