Todesmärsche durch Landkreis Tirschenreuth: Augenzeugen erinnern sich

Tirschenreuth. 15. April 1945 – ein Tag wieder jeder andere? Nicht für Heimatforscher Harald Fähnrich. Er recherchiert seit Jahrzehnten zu den Todesmärschen vom KZ Buchenwald nach Flossenbürg. Im April 1945 schleppten sich Häftlinge durch den Landkreis Tirschenreuth, am 15. April kam es zu einer Massenerschießung bei Pechbrunn.

Von den Todesmärschen vom KZ Buchenwald nach Flossenbürg gibt es keine Fotos. Dieses Bild eines US-Kriegsfotografen zeigt befreite Häftlinge im KZ Buchenwald am 15. April 1945. Im Hintergrund zwei Häftlingspfleger. Foto: Walter Chichersky, National Archives Washington

Von Harald Fähnrich

April 1944. „Hitlers Krieg” nähert sich dem Ende. Vom Westen erobern US-Kampftruppen Teile des Altreichs. Sie nähern sich seiner Südost-Grenze mit dem Konzentrationslager Buchenwald. Die SS-Mannschaft beginnt am 7. April seine “Leerung”. Nach dem Plan der SS-Bürokraten sind 31.754 Häftlinge “in Sicherheit” zu bringen. Zu Fuß, per Bahn. Wohin? Wozu?

Der Häftlings-Fußmarsch wird von SS-Schergen begleitet. Alles Schwache wird unterwegs getötet. Leichen säumen den Todesmarsch oder “Blutweg”, wie ihn Franzosen nennen. Um die 150 Tote gibt es im Landkreis Tirschenreuth.

Örtliche Bürgermeister sind informiert

Vor dem “Durchgang” einer Ortschaft wird grundsätzlich vorher die Nazi-Elite eines Ortes (Bürgermeister, NSDAP-Funktionäre etc.) informiert und belehrt, ihre Leute zu bedrohen: „Kein Kontakt!“ Das geben sie oder der Ortspolizist an Einheimische weiter. Daher können Barmherzige, vor allem Frauen, mutig kleine Hilfen organisieren. So ist es zum Beispiel in Groschlattengrün und Pechbrunn. Kinder durchblicken nichts, je jünger sie sind.

So ein Gespenst neben mir streckt plötzlich seine Hand aus der Kutte, entreißt mir das Brot. Augenzeugin Alma Pfletscher, Groschlattengrün

In Groschlattengrün informiert Großgruppenleiter Weig am Sonntagnachmittag, 15. April, über die “Kriegsverbrecher”, die zu erwaten sind. Haben Kinder etwas aufgeschnappt? “Ach, wir Straßenkinder waren wie immer auf der Gass – und neugierig”, erzählt im März 2024 die hiesige Zeitzeugin Alma Pfletscher (geborene Bauer). Die Dorfstraße führte noch durch das kleine Dorf. Alma ist damals fünf Jahre alt. Sie hat beim täglichen Besuch bei Oma ein gutes Butterbrot mit Zucker mitbekommen. “Fir’n Gluust!” Als “was los war auf der Gass” steht sie mit anderen am Straßenrand gegenüber dem Dorfwirshaus.

Von Westen nähert sich ein langer Zug. Dreierreihen. Stumm. “Sie hatten gestreifte Kutten an – wie alte Kartoffelsäcke. Schlimm schauten sie aus, die Männer”, berichtet Alma Pfletscher. Sie steht perplex da, das Zuckerbrot in der Hand. “So ein Gespenst neben mir streckt plötzlich seine Hand aus der Kutte, entreißt mir das Brot.” Sie habe sich gedacht: “Ah, der Arme hat Hunger, soll es haben.”

Doch die Hand mit dem Brot verschwindet sofort wieder unter der Kutte. Das Mädchen ist gekränkt, weil der Fremde ihr Brot nicht gleich isst. “Heute weiß ich, dass es KZ-Häftlinge aus Buchenwald waren – und keine Kriegsverbrecher.” Der Zug geht weiter nach Pechbrunn. “Dort sollen viele Leichen gelegen sein.“

Massaker im Wald “Fuchshölzl”

Das Datum 15. April ist sicher, weiß auch Elise Schübel (Jahrgang 1913) aus Groschlattengrün. Sie ist an diesem Sonntag auf dem Weg zu ihrer Mutter im “Schlößl”, wo sie ihren vierten Sohn gebärt. Über die Häftlinge wissen die damaligen Zeitzeugen nichts Genaues, sagt Elise Schübel. „Sind Juden, munkelten viele.” Heute ist das anders. Die Gemeinde Pechbrunn wird für all diese 36 KZ-Opfer ein ansprechendes Denkmal errichten.

Nur Bewohner des heutigen Ortsteils Ziegelhütte haben vom Massaker etwas mitbekommen. Vor Groschlattengrün, über der Schemmvilla im Wald Silberrangen (“Fuchshölzl”), füsilieren SS-Schergen 22 Häftlinge dieses Fußtransportes. Die Landjägerei-Station Marktredwitz meldet dies am 6. April 1946 an den Landpolizeiposten Pechbrunn.

Das “Judengro”

1996 erzählte Betti Sölch (geborene Huber, Jahrgang 1923) aus Ziegelhütte im Interview mit dem Autor: “Am nächsten Tag ging Vater hinauf zum ‚Fuchshölzl’ nachschauen. Da lagen sie im Blut. Als er wiederkam, war er entsetzt. Er ging auf die Gemeinde zum Bürgermeister Protschky und meldete es. Sie wurden dann in einem ordentlichen Grab daneben begraben, von uns das Judengro (Judengrab) genannt. Der Hügel war bald mit Lupinen verwachsen. Ich hab’ mich dort gefürchtet und machte einen weiten Bogen herum.”

Ein zweites Judengrab lag östlich von Pechbrunn: An der alten Reichsstraße, bevor sie die Bahngeleise überquerte neben der Teufelsfurt. Hier ließen die SS-Täter 14 Ermordete verscharren. Sie starben gewaltsam zwischen Groschlattengrün auf der (alten) Straße nach Pechbrunn. Ein Kriegsverbrechen der SS-Schergen. Genügend Einheimische mussten es ungewollt erleben.

Wehrmachtssoldat zeichnet Skizze mit Ermordeten

Eine wichtige Quelle ist der Wehrmachtssoldat Heinz Robert Christian Krüger, der die Todesmärsche beobachtet hat und für die Amerikaner in einer Anzeige festhielt. Historikerin Katrin Greiser zitiert in ihrem Buch “Die Todesmärsche von Buchenwald” (2008) seine Beschreibung des Trosses: “…in der Mehrzahl in Sträflingskleidern (gestreifte Hosen). Viele waren nur mit dieser Hose bekleidet und barfuß. Einige hatten zerlumpte Jacken oder einen schmutzigen Pullover oder auch die Reste eines Hemdes an. Nur wenige trugen Schuhe, die man noch als solche bezeichnen kann, die meisten zerrissenen Fußzeug oder Lappen. Einige gingen an Holzkrücken gestützt.

Die Gefangenen machten einen total verhungerten und vollständig erschöpften Eindruck. Viele waren nur noch Haut und Knochen. Mir ist ein Mann geradezu aufgefallen, der noch gut ernährt aussah. Keiner hatte ein Essgeschirr, nur etwa 20 oder 30 Mann hatten leere Konservenbüchsen oder Becher in der Hand.

Sie bettelten die Bevölkerung um Brot und Wasser an. Einige bückten sich (mir gegenüber) vor einem Bauernhof und sammelten einige Getreidekörner auf. Sie wurden jedoch von einem Posten sofort mit Knüppelschlägen weitergetrieben. Dabei brach ein Häftling vollständig zusammen. Weitere Schläge mit einer Lederpeitsche in Nacken und Gesicht halfen nicht. Das Blut rann ihm aus Stirn und Ohren. Er wurde von einem SS-Mann an einem Gehöftzaun im Graben sitzen gelassen.”

Auf rund drei Straßenkilometern fand Wehrmachtssoldat Krüger 13 Ermordete. Er fertigte eine Skizze an, die heute in den National Archives in Washington liegt. Repro: Fähnrich

Anzeige wurde nicht weiter verfolgt

„Ich, Heinz Robert Christian Krüger, erkläre unter Eid“, so beginnt die Anzeige. Er war keiner der einheimischen Augenzeugen (Frauen, alte Männer, stramme PGs). Hatten sie Angst vor den Amis? Es tat ein fremder deutscher Soldat. Krüger war im Mai 1945 Kriegsgefangener. Er sprach vor der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit in Wiesbaden. Er und Kameraden, versteckt im Wald, hatten alles am 15. April 1945 mit angesehen, ja mit Tätern gesprochen. Und die Straße bis zur Teufelsfurt abgegangen. Die Blutstrecke. Acht Mann bezeugen es.

Krügers Anzeige wurde nicht weiter verfolgt. Denn er hielt manche Häftlinge für Slawen. Also gab die US-War-Crimes-Justiz die Anzeige an die alliierte Sowjetunion ab. Seine Anzeige verwahrt heute das riesige NARA in Washington D.C. Dort hat sie die Historikerin Katrin Greiser eingesehen, ein Duplikat befindet sich in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.

Zeuge Krüger darin unter anderem: “Der Zug bestand aus 800 bis 1000 Männern … mit ca. 20 SS-Leuten und einigen Hunden. Nach meinen und anderen Augenzeugen Eindruck waren es teils Ausländer, teils Juden und Deutsche. Einige waren mir als Russen oder als typisch slawisch erkennbar.” Er fertigt auch eine Zeichnung an: “In der beiliegenden Skizze habe ich die Stelle bezeichnet, wo die 12 oder 13 Leichen aus dem Gefangenenzug begraben sind…. Ich schwöre bei Gott, dass dies die reine Wahrheit ist. gez. Heinz Robert Christian Krüger Wiesbaden, 25. Mai 1945”.

Tagelang nur eine Handvoll Kartoffeln

Die Räumung des Konzentrationslager Buchenwald begann am 7. April 1945 mit den einzigen beiden Fußtransporten zum etwa 250 Kilometer entfernten Konzentrationslager Flossenbürg. Historikerin Greiser zitiert einen Fußmarsch-Überlebenden über seine Verpflegung: “Die ersten drei Tage nach dem Abgang für 10 Mann 1 Wecken Brot und 1 Paket Margarine, keine Wurst, kein Fleisch. Die nächsten 3 oder 4 Tage – nichts zum Essen. Sonst am Abend 3 bis 4 Pellkartoffeln. Und während eines Nachtmarsches – nichts.”

Der Abmarsch erfolgte in zwei Kolonnen von 1500 bzw. 1604 Häftlingen. Es handelte sich überwiegend um jüdische Häftlingen aus dem “Kleinen Lager”. Begleitet wurden die Kolonnen von Eskorten mit je 80 Mann mit Bluthunden. Dabei war ein Pferdegespann für das Gepäck der Wachen und von Häftlingen gezogene und geschobene Karren für Tote und Schwache. Etwa bis zur bayerischen Grenze gingen die zwei Kolonnen nebeneinander, hintereinander den gleichen bzw. fast den gleichen Weg. Soweit Katrin Greiser.

Der Weg der Kolonnen

In Oberfranken scheinen sich die einzelnen Kolonnen in Trupps aufgeteilt, vermischt zu haben: schneller und langsamer gehend. Leichen säumten die Wege. Die Verästelung in der Oberpfälzer Region bis nach Flossenbürg ist bisher unerforscht. Am Nachmittag des 11. April 1945 befreite die US-Army das Konzentrationslager Buchenwald bzw. die letzten Häftlinge und entdeckte einen Berg von Leichen. Es herrschte Fassungslosigkeit. Da schleppten sich im Süden die beiden Fußtransporte erst auf die bayerische Grenze zu.

Im Landkreis Tirschenreuth wurden nach dem Todesmarsch aus dem KZ Buchenwald um die 150 Leichen geboren. Augenzeugen berichteten von Fußmärschen in der dritten und vierten April-Woche 1945 in:

  • Röslau, Wunsiedel, Mühlbühl (Gde. Nagel), Ebnath, Riglasreuth, Grötschenreuth, Erbendorf, Burggrub, Windischeschenbach, Neuhaus, (Wurz), Rotzenmühle, Ilsenbach, Ellenbach, Floß
  • Röslau, Wunsiedel, Oberredwitz, Marktredwitz, Dörflas
  • Poppenreuth (Gde. Waldershof) Wiesau. Schönhaid, Falkenberg, Thann, Schönficht, Beidl, Schönkirch, Plößberg
  • Groschlattengrün, Pechbrunn, Oberteich, Leugas, Schönhaid, Falkenberg, Beidl, Schönkirch, Plößberg, Floß
  • Marktredwitz, Leutendorf, Schwarzenreuth, Neusorg
  • Falkenberg, Schnackenhof, Wurmsgefäll, Wildenau, Kalmreuth, Floß
  • Dörflas, Pfaffenreuth (b. Mak), Pullenreuth, Mengersreuth, Trevesen, Grötschenreuth
  • Thiersstein, Thiersheim, Lorenzreuth, Markredwitz
  • Eine Guppe über Plößberg kam erst am 19. April 1945 an – und wurde gleich weitergeschickt, weil die Leerung des Konzentrationslager Flossenbürg schon begonnen hatte.
Walter Chichersky war als
Walter Chichersky war als “Signal Corps-Fotograf” der US-Army zwischen dem 14. und dem 16. April 1945 im befreiten Konzentrationslager Buchenwald. Er nahm eine Serie von 21 Fotos auf. Foto: National Archives Washington
Walter Chichersky war als
Walter Chichersky war als “Signal Corps-Fotograf” der US-Army zwischen dem 14. und dem 16. April 1945 im befreiten Konzentrationslager Buchenwald. Er nahm eine Serie von 21 Fotos auf. Foto: National Archives Washington
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung.  Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung. Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es auch nach Einschätzung von Experte Thomas Muggenthaler keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung.  Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es auch nach Einschätzung von Experte Thomas Muggenthaler keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung. Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es auch nach Einschätzung von Experte Thomas Muggenthaler keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung. Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Von den Todesmärschen Buchenwald-Flossenbürg gibt es auch nach Einschätzung von Experte Thomas Muggenthaler keine Fotos. Überliefert sind nur Bilder einer Dachauerin, die Häftlinge aus dem KZ Dachau am 28. April 1945 in Hebertshausen fotografierte. Maria Seidenberger arbeitete in einem Fotolabor und hatte daher eine Kamera zur Verfügung. Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum
Foto: Maria Seidenberger, United States Holocaust Memorial Museum

Augenzeugenbericht des Wehrmachtsoldaten Krüger

Wehrmachtssoldat Heinz Krüger erlebte den Durchmarsch der Buchenwald-Häftlinge und war im Osten von Pechbrunn am 15. April Zeuge einer Massenerschießung geworden. Vier Wochen später machte er vor den Ermittlern der US-Army in Wiesbaden – unter Eid – detaillierte Angaben auf vier Maschinenschreibseiten plus Planskizze:

„Ich, Heinz Robert Christian Krüger, erkläre unter Eid:

Vom Oktober 1943 bis zu meiner Gefangenennahme am 22. April 1945 war ich Kraftfahrer beim Kraftfahrpark Würzburg. Mit dieser Einheit befand ich mich am 15. April 1945 infolge Rückzug der Dienststelle in dem Orte Pechbrunn, 6 km von Mitterteich entfernt. Wir hatten unsere etwa 70 Fahrzeuge in einem Walde dicht an der Chaussee nach Mittertreich, etwa 2 km von Pechbrunn entfernt, untergestellt. Da wir nur nachts fuhren, hielten wir dort unsere Tagesruhe.

Ich selbst hatte mich zum Kartoffelschälen zur Küche gemeldet. Die sich im Gasthof am nördlichen Ende des Dorfes Pechbrunn befand. Gegen 11 Uhr vormittags kamen von der Straße Soldaten und Dorfeinwohner aufgeregt in das Gasthaus gelaufen und sagten, es würde ein großer Zug Zivilisten unter Begleitung von SS aus Richtung Wunsiedel in Richtung Pechbrunn geführt.

Kurze Zeit später ging ich selbst auf die Straße und sah den Menschenzug etwa 100 Meter vor dem Dorfeingang. Es gingen 2 mit Gewehren und Handgranaten bewaffnete SS-Männer voraus. Dann wurde eine Art Eselkarren von 6 bis 8 Gefangenen gezogen bzw. geschoben. Auf dem Wagen befanden sich Tornister, Rucksäcke, einige Decken und Holzkisten, in denen Lebensmittelpakete sichtbar waren. Diese Gegenstände gehörten zweifellos der Wachmannschaft. Weitere Gepäckstücke oder als Proviant erkennbare Gegenstände habe ich bei den Gefangenen nicht beobachtet.

Der Zug bestand aus etwa 800 bis 1000 Männern. Diese wurden von etwa 20 SS-Leuten mit einigen Hunden begleitet.

Die Gefangenen waren in der Mehrzahl in Sträflingskleidung (gestreifte Hosen). Viele waren nur mit dieser Hose bekleidet und barfuß. Einige hatten zerlumpte Jacken oder einen schmutzigen Pullover oder auch Reste eines Hemdes an. Nur wenige trugen Schuhe, die man noch als solche bezeichnen kann, die meisten zerrissenes Fußzeug oder Lappen. Einige gingen an Holzstöcken gestützt.

Die Gefangenen machten einen total verhungerten und vollständig erschöpften Eindruck. Viele waren nur noch Haut und Knochen. Mir ist nur ein Mann aufgefallen, der noch gut ernährt aussah. Keiner der Gefangenen hatte ein Eßgeschirr, nur etwa 20 oder 30 Mann hatten leere Konservenbüchsen oder Becher in der Hand. Sie bettelten die Bevölkerung um Brot und Wasser an. Einige bückten sich; mir gegenüber, vor einem Bauernhof und sammelten einige Getreidekörner auf. Sie wurden jedoch von der Begleitmannschaft sofort mit Knüppelschlägen weitergetrieben. Dabei brach ein Gefangener vollständig zusammen. Weitere Schläge mit einer Lederpeitsche in Nacken und Gesicht halfen nichts. Das Blut rann ihm aus Stirn und Ohren. Er wurde von einem SS-Mann an einem Gehöftzaun sitzen gelassen.

Nach meinen und anderen Augenzeugen Eindruck waren es teils Ausländer, teils Juden und Deutsche. Einige waren mir als Russen oder als typisch slawisch erkennbar. Der physische Zustand der Gefangenen machte eine einwandfreie Erkennung ihrer Volkszugehörigkeit unmöglich. Ich hörte jedoch beim Vorübergehen Worte in fremder Sprache.

Als der Zug vorüber war, ging ich in das Gasthaus zurück. Gleich darauf kamen wieder Einwohner herbeigelaufen mit den Worten, dass am anderen Ende des Dorfes geschossen werde.

Ich ging nun wieder hinaus und hörte bereits von der Dorfstraße vereinzelte Gewehr- und Pistolenschüsse. Ich lief nun selbst zum Dorf hinaus. Das Ende des Gefangenenzuges mag sich 1 bis 1,5 km von mir entfernt befunden haben. Als ich den Bahnübergang am Ende des Dorfes in Richtung Mitterteich überschritt, sah ich dicht dahinter auf den Fahrradweg einen Gefangenen noch frisch blutend erschossen liegen. In diesem Moment war ich noch etwa 300 Meter vom Ende des Zuges entfernt.

10 bis 15 Meter weiter sah ich vom Chausseegraben zwei dicht beieinander liegende Gefangene, die kurz vorher erschossen sein mussten und noch zuckten. Der eine lag mit dem Gesicht im sumpfigen Morast. Zur gleichen Zeit sah ich, wie weiter vorne neben dem sich fortbewegenden Gefangenenzug SS-Männer mit der Pistole hantierten und vereinzelte Schüsse abgaben. Ich war inzwischen in halber Höhe des dahinschleichenden Zuges und sah bereits Kameraden vom Kraftfahrpark Würzburg einige hundert Meter entfernt an der Straße stehen.

Ich sah nun, wie etwa 20 Meter vor mir ein noch kräftig aussehender Gefangener, der auch sehr groß war, zu torkeln begann und aus dem Zuge herauswankte. Ich kam noch etwas näher und sah wie ein SS-Mann ihn mit der Peitsche schlug. Er brüllte ihn an mit dem Zuge weiterzugehen. Darauf stöhnte der Gefangene und sagte: ‚Fünf Minuten bitte! Ich komme ja weiter! Nur ein wenig ausruhen. Zwei Minuten bitte!’ Der SS-Mann schlug ihn wieder und brüllte: ‚Los, eintreten!’ Der Gefangene stöhnte weiter und sagte: ‚Ich hab so vielen Menschen Gutes getan. Ich kann es beweisen. Ich habe über 1.000 Arbeiter beschäftigt.’ Er bekam keine Antwort, sondern wurde vom SS-Mann zur rechten Straßenseite der Marschrichtung in den Graben gestoßen, wo er in halbsitzender Stellung liegen blieb. Der SS-Mann trat an ihn heran und schoss ihn mit der Pistole in Gesicht. Er blieb sofort tot liegen.

Ich bog nun zum Walde ab. Als ich auf den Zug zurückschaute, sah ich noch wie ein weiterer bereits niedergeschossener Gefangener sich krümmte und überschlug, worauf ein Hund auf ihn zusprang.

Ich ging an mein Fahrzeug, hatte aber keine Ruhe und kehrte zu der Straße zurück. Dabei sah ich, dass eine Gruppe Gefangener, die einen Eselskarren zogen und von einem SS-Mann (ohne jedes Abzeichen) begleitet waren. Sie kamen aus Pechbrunn und hielten an der linken Straßenseite dicht neben dem Wald an. Während ich näher kam, sah ich wie tote Gefangene von diesem Karren in eine Erdmulde geworfen wurden. Es waren etwa 12 oder 13 Leichen. Der eine Gefangene, der im Dorfe blutend und erschöpft sitzen gelassen worden war, wurde lebend auf die Leichen geworfen und von dem SS-Mann durch einen Schläfenschuß getötet. Unter den Leichen erkannte ich auch den einen großen Gefangenen, dessen Erschießung ich mit angesehen hatte.

Ich traf nun Reg. Baurat [Richard] Schäfer [geb. 1900], Beamter des Kraftfuhrparkes Würzburg. Wir gingen zusammen in Richtung Pechbrunn zurück. An der Stellle, wo der große Mann erschossen worden war, zeigte er mir das dort noch liegende Gehirn des Toten und sagte mir dabei, er schäme sich, ein Deutscher zu sein. Es kam noch der Unteroffizier [Carl] Drexler zu uns. Uns begegneten jetzt aus Richtung Pechbrunn zwei etwa 25 Jahre alte SS-Offiziere, begleitet von zwei Schäferhunden. Sie waren mit Pistolen und Handgranaten am Koppel bewaffnet. Ein Stückchen weiter saß ein SS-Mann am Wegesrand und aß. Ich bat Reg. Baurat Schäfer ihn als Offizier etwas auszufragen.

Auf die Frage Schäfers antwortete der SS-Mann, dass die Gefangenen aus Richtung Weimar kämen. Auf die Frage, wieviel Gefangene man mitgenommen hatte, sagte er zögernd: ‚Etwa 3000, die meisten seien zu schlapp.’ Schäfer fragte naiv: ‚Wer nicht weiter kann, wird also erschossen?’ Worauf der SS-Mann sagte: ‚Was sollen wir denn sonst noch mit ihnen tun. Die kommen alle noch ran.’

Schäfer fragte, wohin der Zug der Gefangenen noch weitergeführt werde? ‚ Auf die Frage Schäfers, In Richtung Weiden!’ Dort würde man sie noch gebrauchen. Auf die Frage Schäfers, ob die Gefangenen nichts zu essen und zu trinken bekämen, antwortet der SS-Mann grinsend: ‚Die bekommen mehr wie wir selbst!’ Schäfer meinte: ‚So sehen die Gefangenen gerade nicht aus.’ Der SS-Mann wurde nun ungehalten und sagte: ‚Das geht niemand was an.’ Wir gingen weiter.”

Über den Autor Harald Fähnrich.

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2 Kommentare

Anwohner - 14.04.2024

Das wird Björn Höcke ärgern, dass er damals nicht mitmachen durfte.

Karl-Heinz Gleißner - 13.04.2024

Ich (Jahrgang 1957) las schon viel über die Todesmärsche. Meine bereits verstorbene Schwiegermutter (geb. 1933) hatte mir vom Marsch durch Schönficht erzählt. Meine schulische Facharbeit trug die Überschrift: “Antisemitismus – Ursache eines Hasses.” Was für eine menschenverachtende, fassungslos bestürzende Einstellung der für die diese Taten Verantwortlichen. Nie, nie wieder darf es so weit kommen. Dem Autor Harald Fähnrich und anderen gebührt hohe Anerkennung für die immerwährende Erinnerung an die Massaker im sogenannten “III. Reich”. Viele haben damals weggeschaut. Und deswegen: Wehret den Anfängen!