Die gute Nachricht: Nicole überwindet ihre Depression und findet zu sich selbst

Weiden. Vor 12 Jahren fiel Nicole Lindner in ein tiefes Loch. Die damals 30-Jährige stand am Anfang eines steinigen Weges aus der Depression zu sich selbst. Ein Arzt, eine Psychotherapeutin und ihr Mann haben ihr dabei geholfen. Über ihren Befreiungsakt hat sie ein Buch geschrieben.

Musiker Christian und Autorin Nicole Lindner (von links), Diplom-Sozialpädagogin Tina Abel-Pschierer und Gerontotherapeut Georg Pilhofer. Foto: Jürgen Herda

Georg Pilhofer, freundlichster Sozialpädagoge und Gerontotherapeut der Oberpfalz, beschreibt das Problem bei seinem Vortrag im Maria-Seltmann-Haus treffend: „Wir lesen in den Medien meist nur, was uns selbst betrifft.“ Mit anderen Worten: Solange es einem gut geht, geht uns das Thema Depression nicht nahe. Erst wenn wir selbst oder Angehörige davon betroffen sind, schauen wir genauer hin.

Deshalb sei es so wichtig, über depressive Störungen, unter denen im Laufe des Lebens rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung leidet, in der medialen Berichterstattung immer wieder aufzuklären. „Die Betroffenen leiden weniger, wenn das Thema enttabuisiert wird“, sagt Pilhofer, „und man nimmt den Angehörigen die Hilflosigkeit, wenn sie erfahren, wie sie helfen können.“ Fakten, Hintergrund und Tipps zu der häufig ausgeblendeten Volkskrankheit im Infokasten unten.

Lesung: „Aus der Krankheit ins Licht“

Um das Thema jenseits nüchterner Fakten greifbar zu machen, hat Diplom-Sozialpädagogin Tina Abel-Pschierer, Leiterin der Seniorenfachstelle vom Amt für Soziale Dienste der Stadt Weiden, eine Veranstaltung federführend organisiert, bei der auch eine Betroffene zu Wort kommt. Denn niemand kann das Gefühlsleben unter dem Schleier der Depression besser beschreiben, als eine Frau, die selbst dieses tiefe Tal von Antriebslosigkeit, Selbstzweifeln und Trauer durchschritten hat.

Nicole Lindner beschreibt bei der Lesung aus ihrem Buch „Aus der Krankheit ins Licht: Wie die Depression mich lehrte, den Weg meiner Seele zu gehen“ die wichtigsten Stationen ihres Leidens- und Genesungsweges – untermalt von mal melancholischen, mal heiteren Klarinettentönen ihres Mannes Christian, der ihr beim Prozess der Befreiung eine wichtige Stütze war.

Nicole Lindner liest aus ihrem Buch „Aus der Krankheit ins Licht: Wie die Depression mich lehrte, den Weg meiner Seele zu gehen“. Foto: Jürgen Herda

Jobverlust im Bleimantel

„Alles begann damit, dass ich nach einer durchwachten Nacht morgens geschlagene zwei Stunden brauchte, um aus dem Bett in die Küche zu gelangen.“ Und das nach einem Jobwechsel, wo sie doch neu durchstarten wollte. Nicole Lindner wird krank: Übelkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Kraftlosigkeit. „Nicht drei Tage, sondern länger. … So lang, dass ich meinen neuen tollen Power-Job verlor, noch bevor ich ihn richtig begonnen hatte.“ 

Lindner hat das Gefühl, ständig einen Bleimantel mit sich herumzuschleppen. Der Arzt diagnostiziert eine Depression. „Ich hatte meine Seele vernachlässigt, mein Ich, mein wahres Wesen und das, was mich glücklich machte.“ Sie habe sich so sehr gesellschaftlichen Normen angepasst, dass sie sich dabei verloren habe. „Ich war frustriert, sauer, peinlich berührt und schämte mich unendlich vor meinen Arbeitgebern, diesen vielversprechenden neuen Job so dermaßen in den Sand gesetzt zu haben. Doch ich konnte nicht anders.“

Hat ihre Depression auch schreibend überwunden: Nicole Lindner. Foto: Jürgen Herda

Die Krankheit als Weg

In ihrem Kopf ein Hamsterrad des Grübelns. Sie vergisst zu essen, Antidepressiva werden ihre besten Freunde, die ihr zum dringend benötigten Schlaf verhelfen. „Wenn ich nicht auf der Couch lag, lag ich im Bett.“ Ihr Freund – im Buch nennt sie ihn Peter, es handelt sich um ihren jetzigen Mann Christian – muss neben seinem Job jetzt auch den Haushalt schmeißen. „Er hoffte, eines Tages wieder in ein anderes Gesicht zu schauen als in dieses griesgrämige.“ Alles strengt sie an, überfordert sie: „Eine fremde Macht hat das Steuer übernommen.“

Sie hat panische Angst, was die Leute von ihr denken. Ihre Stütze: „Meine Lieben gaben nie auf, mich aus dem Loch zu holen.“ Der Mann an ihrer Seite zaubert unverdrossen Festmahle, auch wenn sie nur darin herumstochert. „Er warf das Essen weg, während ich mich schuldbewusst aus der Küche schlich.“ Als sie schon fast nicht mehr an Besserung glaubt, stellt sie fest, dass die verschriebenen Antidepressiva zu wirken beginnen. „Ich brauchte nur noch eine statt zwei Stunden, um mich aus dem Bett zu quälen.“ Der Appetit kommt zurück, sie macht auch wieder ein paar Schritte draußen. Und sie bemerkt: „Die Depression wollte gesehen werden und wollte Antworten von mir.“ Die Krankheit als Weg. „Sie wollte mir helfen, mich nicht mehr zu verstellen.“

Begleitete seine damalige Freundin und heutige Frau während ihrer Depression als liebevoller Koch und heute bei ihren Lesungen als Musiker. Foto: Jürgen Herda

Der richtige Platz im Leben

Ihr Arzt ist die beständige Insel im Meer der Depression. „Ich hatte Angst, für den Beruf ungeeignet zu sein, weil ich das Belastende meiner Klienten mit nach Hause nahm.“ Der Arzt erklärt: „Versagensangst wird durch die Depression verursacht, ein Therapeut kann helfen, pessimistische Annahmen zu relativieren.“ Sie telefoniert eine Liste ab, hat Glück, bei einer netten Frau Schäfer zu landen, die zeitnah einen Termin anbietet. „Mein Ziel war, mein Leben genauso selbstbestimmt zu führen wie sie.“

Ihr wird klar: Weder in der Partnerschaft noch in ihrem Beruf ist sie glücklich. „Ich hatte mich im tiefsten Inneren nach etwas Besserem gesehnt – aber wie sollte das Bessere aussehen?“ Sie versucht ihre Sehnsucht bildlich als Collage darzustellen. Das Ergebnis: ein verheiratetes Paar, ein Apfelbaum, zwei Katzen, eine Schreibmaschine, ein Bild von Angehörigen. Einen Platz im Leben finden, mit Hingabe in einer Berufung aufgehen, Geborgenheit in der Partnerschaft, eigene vier Wände, um sich nicht mehr fremd zu fühlen.

Die Collage, die Nicole Lindner den Weg aus der Depression weist. Foto: Jürgen Herda

Die Collage wird Wirklichkeit

Sie verändert zusammen mit ihrem Partner ihr Leben: „Wir kauften uns ein Haus am Land, zwei Katzen kamen zu uns, ich begann vorsichtig erste Schritte in meinem Beruf, mit der Betreuung eines behinderten Mannes.“ Sie findet Ruhe in Garten und Wald, beginnt zu schreiben. „Die Collage erfüllte sich immer mehr, ich wagte den Schritt, meine Tabletten abzusetzen.“ Und verabschiedet sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge von Arzt und Therapeutin.

Nach einem Abend mit Freunden in einer Bar findet sie einen Zettel auf dem Tisch: „Komm zur Alten Eiche!“ Es ist der Ort ihrer Zuflucht. Teelichter auf Steinen weisen ihr den Weg, Lampions hängen von den Ästen. „Christian, ganz Musiker, in einer Hand eine Trompete, in der anderen glitzerte es.“ Hier sollte sich ein Lebenstraum erfüllen. „Ohne Angst, mit viel Liebe im Gepäck. Ich fühlte mich plötzlich nur noch eines: frei!“

Der Amberger Sozialpädagoge und Gerontotherapeut Georg Pilhofer. Foto: Jürgen Herda

Deutschland-Barometer Depression

Vor der Lesung stellt der Gerontotherapeut Georg Pilhofer Ergebnisse des Deutschland-Barometers Depression, einer seit 2017 jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung vor. Die Mehrheit der Deutschen ist im Laufe des Lebens von Depression betroffen – entweder direkt aufgrund einer eigenen Erkrankung (23 Prozent) oder indirekt als Angehöriger (37 Prozent). Dennoch gibt es in der Bevölkerung große Irrtümer bezüglich der Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.

Die repräsentative Befragung untersuchte auch Einstellungen und Wissen zur Depression in der Bevölkerung. Befragt wurden 2000 Personen zwischen 18 und 69 Jahren aus einem repräsentativen Panel für die deutsche Bevölkerung in Privathaushalten. Demnach wird die Bedeutung von belastenden Lebensereignissen für die Entstehung von depressiven Erkrankungen überschätzt – Schicksalsschlägen halten 96 Prozent und Belastungen am Arbeitsplatz 94 Prozent für ausschlaggebend – und gleichzeitig die Bedeutung der Veranlagung unterschätzt.

Nur zwei Drittel wissen, dass während der Depression der Stoffwechsel im Gehirn gestört ist. „Während der Depression nehmen Betroffene alles wie durch eine dunkle Brille wahr. Bestehende Probleme wie Partnerschaftskonflikte oder Arbeitsstress erscheinen vergrößert“, erklärt Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Über die Hälfte der Befragten glaubt, dass die Depression durch eine „falsche“ Lebensführung ausgelöst wird; knapp ein Drittel hält Charakterschwäche für eine Depressionsursache. „Es wird deutlich, dass noch ein großer Aufklärungsbedarf besteht.

Auch bei den Behandlungsmöglichkeiten wissen die Deutschen noch nicht ausreichend Bescheid. So glaubt rund jeder fünfte Befragte, dass „Schokolade essen“ (18 Prozent) oder „sich zusammenreißen“ (19 Prozent) geeignete Mittel gegen die schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankung seien. „Depressionen werden gemäß der nationalen Versorgungsleitlinien mit Antidepressiva und Psychotherapie behandelt“, stellt Hegerl richtig.

4 von 5 Deutschen glauben, Antidepressiva würden süchtig machen (78 Prozent) oder den Charakter verändern (72 Prozent). „Antidepressiva machen nicht ‚high‘, sie wirken in erster Linie gestörten Funktionsabläufen im Gehirn entgegen. Auch die Persönlichkeit wird nicht verändert. Die Depression selbst dagegen führt zu schweren Veränderungen im Erleben und Verhalten. Wenn es unter der Behandlung mit Antidepressiva zum Abklingen der Depression kommt, berichtet die große Mehrheit der Patienten, sich wieder wie im gesunden Zustand zu fühlen“, erklärt Hegerl.

 „Bei Senioren wird die Depression noch häufiger als bei jüngeren Menschen übersehen. Depressive Symptome wie Hoffnungs- und Freudlosigkeit, Schlafstörungen oder Erschöpfungsgefühl werden oft nicht als Ausdruck einer eigenständigen schweren Erkrankung gesehen, sondern als nachvollziehbare Reaktion auf die Bitternisse des Alters oder als Folge körperlicher Erkrankungen fehlinterpretiert“, erläutert Hegerl.

Oftmals müssen Patienten lange Wartezeiten überbrücken, bis sie einen Termin beim Facharzt oder Psychotherapeuten erhalten und eine adäquate Behandlung erfahren. Aufgrund dieser angespannten Versorgungslage ist die Stärkung der Selbsthilfe eine wichtige Ergänzung im Versorgungsangebot. Pilhofer verweist auf die Websites des Vereins zur Förderung der seelischen Gesundheit im Alter (Sega) und des Ambulanten Gerontopsychiatrischen Verbunds Bayern.

Um lange Wartezeiten bei Fachärzten und Psychotherapeuten zu überbrücken, rät Pilhofer zur Kontaktaufnahme mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst in Weiden und Tirschenreuth: „Sie bekommen in der Regel innerhalb von zwei Wochen einen Termin.“ In Notfällen kann man den Krisendienst Oberpfalz auch nachts und am Wochenende kostenfrei anrufen: 0800 / 655 3000.

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1 Kommentare

Nicole Lindner - 14.02.2024

Danke für diesen wunderbaren und wertschätzenden Artikel! Viele Grüße Nicole Lindner