Stolpersteine für Weiden: Väter der Familie Hutzler und Kahn nach Australien verschleppt

Weiden. In der Oberen Bachgasse 8 lebten die Familie Hutzler und Kahn. Lange Zeit war unbekannt, was aus den Familienvätern Hugo Hutzler und Julius Kahn wurde, die 1939 nach England ausreisten. Sie ließen ihre Familien zurück, meldeten sich nie wieder.

Stolpersteine Weiden jüdische Gemeinde
Hannelore Kahn, geboren 1929, verschollen in Izbica nach der Deportation 1942. Dieses Bild ist das einzige Bild, das von den vier ermordeten Frauen der Familie Kahn/Hutzler (Stolpersteine Obere Bachgasse 8) existiert. Das Mädchen aus der Oberen Bachgasse 8 sah ihren Vater mit zehn Jahren das letzte Mal, mit 13 war es tot. Foto: Stadtarchiv Weiden

Am 11. November 2023 werden in Weiden an fünf weiteren Standorten Stolpersteine verlegt. Die Steine in der Oberen Bachgasse 8 erinnern an die Familien Hutzler und Kahn.

Annäherend alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Weiden wurden im Nationalsozialismus ermordet oder in alle Welt vertrieben. Das Schicksal einer Familie aus der Oberen Bachgasse 8 war bislang weitgehend unbekannt. Fest stand nur: Selma Hutzler und ihre Schwägerin Theresia Kahn, geborene Hutzler, mit den beiden Töchtern waren von ihren Männern 1939 zurückgelassen worden. Die beiden Metzgermeister flohen nach England. Ihre Familien hörten nie wieder von ihnen.

Was war geschehen? Das Geheimnis lüftet sich dank Historikerin Dr. Sharon Meen. Die Kanadierin erforscht das Schicksal Thüringer Juden (judeninthemar.org) und stieß im Nationalarchiv von Australien auf die Weidener. Tatsächlich widerfuhr Hugo Hutzler und Julius Kahn ein unglaubliches Schicksal: Sie waren in London irrtümlich als “Enemy Aliens” festgenommen worden. Hugo und Julius gehörten zu den 2000 jüdischen Flüchtlingen, die von der britischen Regierung auf dem Truppentransporter “HMT Dunera” nach Australien verschifft und jahrelang in Lagern im Outback interniert wurden.

Auslöser: Reichspogromnacht

Blick zurück. 1938, Reichspogromnacht. In Weiden wütet die “Sturmabteilung”. SA-Angehörige zertrümmern jüdische Geschäfte, zerschlagen Fenster, verwüsten Wohnungen und misshandeln ihre Bewohner. Hugo Hutzler und Julius Kahn werden mit 21 weiteren Männern der jüdischen Gemeinde Weiden verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

Nach der Entlassung steht für die Schwager fest: Wir müssen fort, weg aus unserer Heimatstadt. Seit 1918 betreibt der Franke Hugo Hutzler (1897 geboren in Forth bei Erlangen) die Metzgerei in der Weidener Altstadt. 1928 heiratet seine Schwester Theresia seinen Mitarbeiter, den Metzger Julius Kahn (geboren 1896 in Themar, Thüringen). Die beiden bekommen zwei Töchter: Bella und Hannelore. 1939 sind die Mädchen neun und zehn Jahre alt.

Mithilfe des “Central British Fund for German Jewry” können Hugo Hutzler und Julius Kahn im August 1939 nach England ausreisen. Es handelt sich um ein Programm für 4000 Juden, die im November 1938 in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Möglicherweise war England auch nur als Transitland gedacht: Hugo Hutzler gibt auf einer Kennkarte die Adresse seines Bruders Simon Hutzler in Ontario (Kanada) an. Es ist höchst wahrscheinlich, dass der Plan war, die Frauen und Kinder nachzuholen.

Die “Affäre Dunera”

Dazu gibt es keine Gelegenheit mehr. Der Krieg bricht aus, die Ereignisse überschlagen sich. Der Eroberungsfeldzug der Deutschen macht Großbritannien nervös. Die englische Regierung vermutet Spione unter den Flüchtlingen, fürchtet eine fünfte Kolonne Hitlers im eigenen Land. Im Mai/Juni 1940 werden tausende jüdische Flüchtlinge in Razzien inhaftiert. Darunter: Hugo Hutzler und Julius Kahn. Sie kommen in das Durchgangslager “Camp Kitchener” in Kent. Von dort bringt man sie im Juli 1940 mit 2000 weiteren jüdischen Flüchtlingen auf die “HMT Dunera”.

Die Bedingungen der 57-tägigen Überfahrt werden als unmenschlich beschrieben. Das Schiff ist überfüllt. Es gibt kaum Schlafplätze. Die Wärter sind brutal. Es ist nicht genug Nahrung an Bord. Krankheiten brechen aus. Im September 1940 kommt das Schiff in Sydney an. Julius Kahn und Hugo Hutzler werden mit 1000 deutschen und österreichischen Juden in Zügen ins Internierungslager “Camp Hay” gebracht. Sie sitzen im Staub der australischen Wüste von New South Wales fest. In Baracken zu je 28 Mann.

Bei Freilassung: Familien tot

Als die englische Regierung ihren Fehler erkennt, entschuldigt sich Churchill. Der Rückführungsprozess wird eingeleitet, aber die Schwager werden zunächst nicht berücksichtigt. Oben auf der Liste stehen verheiratete Männer, deren Familien schon in England leben. Erst im Februar 1942 wird Hugo Hutzler entlassen. Seine Frau ist zu dieser Zeit nicht mehr zu retten. Wer 1942 noch in Deutschland lebt, ist verloren. Selma Hutzler ist nach seiner Abreise zu ihrer Familie (Landecker) nach Neumarkt zurückgekehrt. Am 3. April 1942 wird sie über Regensburg in das Ghetto Piaski nach Ostpolen deportiert. Hier verliert sich ihre Spur.

Julius Kahn wird noch später entlassen. Er befindet sich bis Juni 1942 im Camp Tatura, dem Nachfolge-Lager des Camp Hay, Erst nachdem er sich für die australische Armee verpflichtet, ist er 1943 ein freier Mann. Seine Frau und die Töchter sind zu diesem Zeitpunkt tot. Therese Kahn und ihre Töchter sind im März 1942 ab Nürnberg in das polnische Transit-Ghetto Izbica deportiert worden, “Drehkreuz des Todes”. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt, sie gelten als verschollen.

Und die Männer wissen davon nichts. Jahrelang. 1947 schreibt Julius Kahn in seinen Einbürgerungsantrag: “verheiratet, zweifelhaft ob Frau überlebt hat”. 1949 weiß er dann offenbar Bescheid: In einem amtlichen Schreiben kreuzt er “verwitwet” an.

Schwager bleiben in Sydney

Beide Männer bleiben in Australien, und sie bleiben zusammen. Hugo Hutzlers erste Adresse befindet sich in Edgecliffe, einem Vorort von Sydney. Dorthin meldet sich auch Julius Kahn nach seinem Jahr in der Armee ab.

Hugo Hutzler findet noch einmal sein Glück. Er heiratet ein zweites Mal. Therese Kallai, geborene Klein, ist 1949 mit ihrer kleinen Tochter aus Ungarn nach Australien ausgewandert. Auch Therese – “Terry” genannt – ist verwitwet, und auch ihr Mann ist Opfer des Holocausts. Er starb als Zwangsarbeiter in einem jüdischen Arbeitsbataillon in Ungarn.

Das Ehepaar Hutzler lebt in einem hübschen Vororthaus in Double Bay. “Terrys” Tochter sorgt für Enkel, und diese für Urenkel. Enkel Andrew Silvers hat aus dem Haushalt seiner Mutter ein Foto von Hugo Hutzler mit seiner zweiten Frau aufbewahrt: zwei kleine Leute, untergehakt und strahlend. Der Enkel ist auch vertraut mit der Geschichte von Julius Kahn, der freitags immer zum Shabbat-Dinner von seiner Großmutter eingeladen wurde. “Julius kam nie über den Verlust seiner Frau und der Kinder hinweg”, schreibt Andrew. “Er war ein gebrochener Mann bis er 1965 starb.”

Julius Kahn stirbt als Erster der beiden Schwager. Auf seinem Grabstein im Macquarie Park in Sydney steht gemeißelt: “In Erinnerung an seine geliebte Ehefrau Therese, die Töchter Bella und Hannelore, die 1942 in Europa umkamen.” Auf dem gleichen riesigen Friedhof wird 1968 auch Hugo Hutzler (71) beigesetzt – und zwar ganz nah bei Julius. Nur eine Grabreihe trennt die beiden. Sie ruhen in Sichtweite.

Die so genannten “Dunera Boys” wurden indessen in Australien zur Legende. Ihre Geschichte wird 1985 verfilmt. Etwa 900 Männer waren in Australien geblieben. Sie schlossen sich zu einer Dunera-Association zusammen, die sich regelmäßig traf. Bern Brent, der Einzige noch lebende “Dunera-Boy” in Australien, gab noch im August 2022 ein Interview in “The Sydney Morning Herald”. Im September 2023 ist er im Alter von 100 Jahren verstorben.

Weitere Schicksale jüdischer Familien in Weiden:

Wörthstraße 8: Familie des ermordeten Kaufmanns Hermann Fuld flieht nach Kuba

Vom Flüchtling zum Feind. Julius Kahn ist die Verwirrung anzusehen. Im Juli 1940 wird der jüdische Metzgermeister aus Weiden von Liverpool nach Sydney deportiert. Foto: National Archives of Australia
Vom Flüchtling zum Feind. Julius Kahn ist die Verwirrung anzusehen. Im Juli 1940 wird der jüdische Metzgermeister aus Weiden von Liverpool nach Sydney deportiert. Foto: National Archives of Australia
Vater Julius Kahn vor seiner Flucht nach England. Auch er war 1938 nach der Reichspogromnacht im KZ Dachau inhaftiert. Foto: Stadtarchiv Weiden
Vater Julius Kahn vor seiner Flucht nach England. Auch er war 1938 nach der Reichspogromnacht im KZ Dachau inhaftiert. Foto: Stadtarchiv Weiden
Die
Die “Dunera”, ein zum Truppentransporter umgebautes Frachtschiff, erlangte durch die irrtümliche Deportation 2000 jüdischer Flüchtlinge nach Australien traurige Berühmtheit. Foto: National Museum of Australia/gemeinfrei
Hugo Hutzler im Gefangenenlager. Foto:
Hugo Hutzler im Gefangenenlager. Foto:
Hugo Hutzler mit seiner zweiten Frau Therese. Dieses Foto hat ein Enkel aus Sydney zur Verfügung gestellt. Therese hatte eine Tochter aus erster Ehe. Foto: Andrew Silvers
Hugo Hutzler mit seiner zweiten Frau Therese. Dieses Foto hat ein Enkel aus Sydney zur Verfügung gestellt. Therese hatte eine Tochter aus erster Ehe. Foto: Andrew Silvers
Hugo Hutzlers Grab. Links neben ihm ist seine zweite Frau Therese begraben, auch sie verwitwet durch den Holocaust. Foto: Macquarie Park
Hugo Hutzlers Grab. Links neben ihm ist seine zweite Frau Therese begraben, auch sie verwitwet durch den Holocaust. Foto: Macquarie Park
Das Grab von Julius Kahn auf dem Friedhof Macquarie Park in Sydney. Rechts im Hintergrund ist die Ecke von Hugo Hutzlers Grabplatte zu sehen. Foto: Macquarie Park
Das Grab von Julius Kahn auf dem Friedhof Macquarie Park in Sydney. Rechts im Hintergrund ist die Ecke von Hugo Hutzlers Grabplatte zu sehen. Foto: Macquarie Park
 Auf seiner Kennkarte ist Hugo Hutzler zunächst
Auf seiner Kennkarte ist Hugo Hutzler zunächst “Jüdischer Flüchtling von Nazi-Unterdrückung”. Darüber steht: “Enemy Alien”. Als “feindlicher Ausländer” wird der Weidener Metzgermeister 1940 in England in Haft genommen. Foto: National Archives of Australia

* Diese Felder sind erforderlich.