Vater war ein Despot: Angehörige schildern traurige Kindheit der Degen-Angreiferin

Weiden. Am zweiten Verhandlungstag sagen Verwandte der 65 Jahre alten Beschuldigten aus. Sie hat im August 2022 Passanten mit einem Degen verletzt. Die Angehörigen schildern die traurige Kindheit der Frau.

Dr. Christiane Bardenheuer vertritt die Frau, die unter dem Eindruck einer psychischen Erkrankung in der Fußgängerzone Passanten angriff. Im Hintergrund Staatsanwalt Matthias Biehler. Foto: Christine Ascherl

“Sie hat viel mitmachen müssen”, erinnert sich ein Cousin (53) als Zeuge vor Gericht. Ihr Vater war mehrere Jahre bei der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Im Familienkreis erzählte er immer wieder, wie es an der Front “direkt neben ihm einen Kameraden zerrissen hat”. Sein Trauma ließ er an Ehefrau und Tochter aus.

Vater war ein Despot

An den Wochenenden betrank sich der Vater regelmäßig im Wirtshaus, dann zog er durch den kleinen Ort im Altlandkreis Vohenstrauß nach Hause. Dabei schimpfte er immer drei Worte vor sich hin: “Die Hur’, die Matz, die Pritschen.” Im Dorf hieß er “der Wanderprediger”, sagt der Cousin. “Im Wirtshaus hat man ihn noch angestachelt. Ihm einen Schnaps rein, wenn er aufs Klo ging.”

Dann brach er auf – und jeder im Dorf wusste, was folgte. Daheim schlug der Vater alles kurz und klein. Möbelteile und Geschirr flogen aus dem Fenster. Regelmäßig flohen Mutter und Tochter nachts aus dem Haus. Die beiden liefen zu Verwandten und blieben dort, bis sich der Rasende nach einigen Tagen beruhigt hatte. Das Ganze wiederholte sich alle zwei, drei Wochen.

Mehrere Suizidversuche

Der Cousin (53) – zwölf Jahre jünger als die Beschuldigte – erinnert sich auch an einen Suizidversuch der Beschuldigten. Er brach damals auf Bitten der Mutter deren Zimmertür auf. Die Cousine lag auf ihrem Bett, das sie mit Heizöl übergossen hatte. Im Mund hatte sie eine Zigarette, noch nicht angezündet. “Sie kam dann längere Zeit weg.” Der Cousin meint: in die Psychiatrie.

Als der Vater starb, lebten Mutter und Tochter harmonisch zusammen. Als die Mutter 2010 starb, brachte dies die Beschuldigte aus dem Tritt. Finanziell wurde es für die alleinstehende Frührentnerin immer enger. Von der eigenen kleinen Rente konnte sie das alte Haus kaum halten. Sie verkaufte Inventar, spielte im Casino in Tschechien. Im Sommer 2022 – kurz vor der Degen-Attacke – musste sie ihr Elternhaus verkaufen.

Eskalation zeichnete sich ab

Die Eskalation am 23. August zeichnete sich in den fünf Tagen vor der Tat ab. Die Beschuldigte fuhr ruhelos von Ort zu Ort, klapperte alle möglichen Verwandten und Freunde ab. Alle wussten von ihrer psychischen Vorbelastung und waren ihre Schrulligkeiten gewohnt. Aber in diesen Tagen bemerkten alle: Hier bahnt sich etwas Außergewöhnliches an.

Am Vorabend taucht die 65-Jährige urplötzlich im Feuerwehrhaus auf, in dem ein Cousin bei einer Übung mitmachte. “Ich habe sie noch nie so erlebt. Ihr dämonischer Blick.” Sie beschimpft die Feuerwehrleute samt Cousin als “Mörderbande”. Der Cousin ist so beunruhigt, dass er es am Telefon einem bekannten Polizisten erzählt. Als man am nächsten Tag wieder telefoniert, ist es zu spät.

Wirre Zitate: “Die Zeit ist gekommen”

In Zwiesel besucht sie eine frühere Kollegin und redet von den Prophezeiungen des Mühlhiasl. Sie benimmt sich so seltsam, dass auch diese Kollegin Kontakt mit der Polizei in Zwiesel aufnimmt. In den Zeugenstand tritt auch die frühere Realschullehrerin der Beschuldigten. Ihr gegenüber redet sie von der “Offenbarung des Johannes” und der Bestrafung all derer, die sie verfolgen.

Der Tag der Tat, Dienstag, 23. August 2022: Um 4 Uhr klingelt sie bei Bekannten in Altenstadt/WN Sturm und ruft zum Fenster hinauf: “Ihr müsst euch keine Sorgen machen, die Kripo ist unterwegs. Ich beschütze euch.” Um 6.30 Uhr steht sie im Hof eines Cousins im Altlandkreis Vohenstrauß und sagt: “Die Zeit ist gekommen. Die Nacht ist vorbei, der Tag ist jetzt da.”

Cousine brachte sie zum Arzt: kein Termin mehr frei

Die Verwandten telefonieren sich zusammen. “Uns war klar: Wir müssen etwas unternehmen, notfalls gegen ihren Willen”, sagt eine Cousine, die der Beschuldigten sehr nahesteht. Sie holt die verwirrte Angehörige am Morgen der Tat von zu Hause ab und begleitet sie zum Arzt nach Vohenstrauß. In getrennten Autos fährt man zur Praxis. Drinnen sagt die Arzthelferin: “Wir nehmen heute niemanden mehr.” Und aus war’s. Die Beschuldigte läuft weg, fährt auf und davon. Keine Stunde später geht in Weiden der Degen auf einen Passanten nieder.

Aus den Nachrichten erfahren die Familienmitglieder schließlich von dem Degen-Attentat in der Weidener Fußgängerzone mit zwei Verletzten. “Nie, nie, nie”, sagt der 53-jährige Cousin, hätte er sich vorstellen können, dass seine Verwandte zu so einer Tat fähig sei. Gleiches sagt die Cousine, die sie zum Arzt bringen wollte: “Sie war nie aggressiv. Diese Seite kenne ich überhaupt nicht an ihr. Ich hätte das nie geglaubt, wenn es mir jemand erzählt hätte.”

Die Opfer der Degenattacke und Helfer sagten am ersten Verhandlungstag im Sicherungsverfahren gegen die 65 Jahre alte Beschuldigte aus.

Am ersten Tag schilderte zudem der Staatsanwalt in seiner Antragschrift die Tat. Zudem entschuldigte sich die Beschuldigte über ihre Anwältin.

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