Buchtipp: Konstantin Ferstls große Familiensage zwischen Amberg und Bayerischem Wald

Regensburg. Konstantin Ferstl hat mit „Die blaue Grenze“ einen großen, ein gutes Jahrhundert umspannenden Roman geschrieben, dessen Ausgangspunkte allesamt in Ostbayern liegen. Lesung in der Regensburger Buchhandlung Dombrowsky.

Konstantin Ferstl liest in der Regensburger Buchhandlung Dombrowsky aus seinem Roman „Die blaue Grenze“. Foto: Peter Geiger

Es kommt nicht alle Tage vor, dass in einem großen Publikumsverlag ein Roman erscheint, in dem Ostbayern den Ausgangspunkt bildet, für all das, was darin erzählt wird. Konstantin Ferstl, 1983 geborener und in Abensberg lebender Filmemacher und Schriftsteller, hat in der Regensburger Buchhandlung Dombrowsky seinen Roman „Die blaue Grenze“ vorgestellt.

Das 400 Seiten starke Werk erschien in diesem Sommer bei Rowohlt im Hardcover-Programm. Ein großes Epos, ein langes Poem, ein richtig gutes Stück Literatur, das mehr als ein Jahrhundert Geschichte und Geschichten erzählt, aus dem Blickwinkel unserer Region. Und doch so kugelrund, dass Okzident wie Orient, dass das große Ganze und das Globale ins Blickfeld geraten.

Rausch der Erinnerung

Darin lässt er sein Alter Ego, den Fernsehfilmkomponisten Fidelis Lorentz, fliehen vor dem Resultat einer gescheiterten Liebe, das sein Leben in den Grundfesten erschüttert. „J.“ heißt die auf ein bloßes Kürzel reduzierte Frau, die mit dem Bruch einer auf Lebenslänge geplanten Beziehung den Protagonisten aus der Umlaufbahn schleudert.

Und ihn anrennen lässt, gegen die Vergeblichkeit seines Daseins und nach Nordkorea aufbrechen lässt, in die Hauptstadt Pjöngjang, an den kältesten Ort der Welt. Und während er diese Bahnreise antritt, über die gesamte eurasische Landmasse hinweg, rückwärts zur Fahrtrichtung sitzend, gerät er wie Prousts „Marcel“ auf Speed in einen Rausch der Erinnerung.

Zwischen Amberg und Bayerischem Wald

Ferstl konfrontiert seinen liebeskranken Protagonisten mit all den Gespenstern und Ungeheuern, die das 19. und das 20. Jahrhundert hervorgebracht haben. All jenen, die sich mühten, dieser Welt noch mal ein letztes ideologisches Gewand anzupassen.

Und einen Mythos zu schneidern, auf den verwachsenen Leib, der sie verstehbar und verständlich macht. Und damit auch seiner höchst persönlichen Familiensaga, die ihn zurückführt, an die Ursprünge, in den Bayerischen Wald. Und nach Amberg, in die festeste aller Fürstenstädte des alten Reichs.

Amberg nach dem Krieg: auch das Kaufhaus Storg in der Bahnhofstraße nach dem-Umbau um 1953 ist längst Geschichte. Foto: Stadtmuseum-Amberg

Dombrowsky als Sehnsuchtsort

Konstantin Ferstl sitzt ganz allein am Tischchen auf der kleinen Lesebühne der Buchhandlung Dombrowsky. Und lobt den Laden erst einmal über den Schellenkönig als Sehnsuchtsort seiner Filmstudent-Jahre. Hier hielt er die bei Wagenbach verlegte, zweibändige „Stadt im 20. Jahrhundert“ des Italieners Lampugnani in Händen und betrachtete sie sehnsüchtig.

Dabei sieht er mit seiner Baskenmütze aus, wie ein nicaraguanischer Herz-Jesu-Marxist der 1980er Jahre. Oder ein Bohemien, der im Paris der Existenzialisten mit einem Stangenweißbrot in der einen und einem Gläschen Rotwein in der anderen Hand die Weltgeschichte innerhalb weniger Minuten zu referieren weiß, mit all ihren Bruchkanten und Abbrüchen, ihren Grausamkeiten und Temperaturstürzen.

Requiem aus rasch gealterter Zukunft

Ferstls Erzählfluss kennt kein Ende, allenfalls wird er orchestriert von Katarakten und Stromschnellen, die ihn, wenn’s schwierig oder recht emotional wird, die Augen kurz schließen lassen. Aber nie verliert er Kontrolle über seine Sprache, nie verirrt er sich im großen Labyrinth, stets findet er eine Lösung für die Darstellung des Erlebten und die daraus resultierende stoffliche Formung, die das Publikum mit der Zunge schnalzen lässt.

Der Satz, der ganz am Anfang des Romans gestanden habe, noch lange, bevor auch nur ein Wort fixiert war, hätte gelautet: „Ein Requiem aus einer rasch gealterten Zukunft.“ Um diesen Kernsatz herum hat er begonnen, einen kristallinen Solitär wachsen, Erinnerungen und plausibel Erfundenes wuchern zu lassen.

Auch im Bayerischen Wald gab es Seefahrer. Grafik: OberpfalzECHO

Seefahrer aus dem Bayerischen Wald

Die schönsten Kapitel sind seiner Oma gewidmet. Diese Frau, Tochter des „Bahnhofsfranzls“ – eines Seefahrers aus dem Bayerischen Wald, der mit der Kaiserlichen Flotte nach Südostasien und im Juni 1919 bei Scapa Flow die verzweifelte Selbstversenkung dieser Marine erlebt – hatte sieben Kinder zur Welt gebracht. Sie lebte als Witwe in Amberg.

Ferstl porträtiert das Milieu der Großmutter keineswegs als Idyll. Aber in der Schilderung des Gegenteils pulsieren Wärme und Sehnsucht. Auf das Beziehungsende von „J.“ hatte seine gesamte Familie ohne Emotion und Sentimentalität reagiert. Als hätte sie alle nach dem Grauen der Kriege und der Nazi-Diktatur um ihre Herzen herum eine Fortifikation erbaut.

Als der Bayerische Wald noch einen Bahnhofsfranzl hatte. Bild: Joerg Seidel/historischer Rheingold-Waggon der Reichsbahn in Zwiésel

Das kalte Herz

Wie bei Wilhelm Hauffs Märchen vom kalten Herz, in dem Peter Munk, der Schwarzwaldköhler, seine Sehnsucht nach Reichtum und Wohlstand nur ergattert, weil er sein Innerstes drangibt. Der Aufbruch in die Zukunft des kapitalistischen Industriezeitalters, ins große Catch-as-catch-can, er ist in den Augen der Romantik nur möglich, bei Aufgabe jeglicher Sentimentalität.

Auch die Familie Lorentz hat eine solche Organverpflanzung, eine solche Amputation hinter sich. Und Fidelis, der jüngste, aus der Ich-Perspektive erzählende Spross, ist der Dokumentarist, der ins Nichts dieser Eishöhlen hinabblickt. Nicht mehr und nicht weniger erzählt uns Konstantin Ferstl, der Romantiker unserer Gegenwart, in seinem grandiosen Debüt „Die blaue Grenze“.

Konstantin Ferstls „Die blaue Grenze“. Foto:/Collage: Rowohlt/jrh

Die blaue Grenze

Fidelis Lorentz ist Komponist und verdient sein Brot mit Titelmelodien für Fernsehfilme. Als er einen Anruf von seiner großen Liebe J. erhält, ahnt er, dass sie sich trennen will, und steigt kurzerhand in den Zug. Sein Ziel: Pjöngjang, denn wenn man gegen die Zeit anrennen will, dann nur gen Osten.

Während die verschneiten Weiten Sibiriens an ihm vorbeiziehen, reist er gedanklich in die Vergangenheit: zu seinem Urgroßvater, in dessen Fernweh Fidelis sich wiederfindet – ein Träumer aus dem Bayerischen Wald, der als Matrose zur See fuhr und später im Dorfteich ertrank. Zur Großmutter, selbst beim Beten pragmatisch, die nichts von Heiligen hielt und sich immer direkt an die höchste Instanz wandte. Zu ihrem Mann, Berufssoldat in der Wehrmacht, der den Anblick von Waffen nicht ertrug. Sie alle waren tief von der Härte des 20. Jahrhunderts geprägt, und doch rebellierten sie auf ihre Weise gegen die provinzielle Enge und die Erwartungen an sie, behaupteten ihr eigenes Leben.

Nach und nach enthüllt sich auch die Gegenwart – und Fidelis’ verlorene Liebe zur mysteriösen J. Angekommen in Nordkorea, einem Land wie eine Filmkulisse, das in einer verherrlichten Vergangenheit feststeckt, muss sich Fidelis endlich der Gegenwart und der Zukunft stellen.

Konstantin Ferstl erzählt sprachgewaltig, dabei voller Zärtlichkeit und Witz über die Liebe, das Scheitern und das widerspenstige Leben der Menschen auf dem Land. Ein virtuoses Familienepos, eine deutsche Mythologie des 20. Jahrhunderts. Rowohlt · Berlin Verlag, September 2023.

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