Fakten gegen Vorurteile: Tirschenreuther Jüdin erklärt jüdische Feste und Bräuche

Tirschenreuth. „Volk des Buches“ ist eine treffende Zuschreibung für das jüdische Volk. Ein Volk, das es liebt, zu lesen und zu lernen. Ein Volk der Dichter und Denker, das Heinrich Heine, Albert Einstein und Billy Wilder hervorgebracht hat. Dorothea Woiczekowski-Fried gibt einen Einblick in jüdische Feste und Traditionen – unter Polizeischutz.

Dorothea Woiczechowski-Fried deutet auf die alten Familienfotos mit ihrer Mutter, die für einige Tage in der Rosenstraße inhaftiert war. Bild: Jürgen Herda

Dorothea Woiczekowski-Fried ist eine Frau des Buches, was man bei einem Besuch in ihrem Tirschenreuther Haus unschwer erkennt. Überquellende Bücherregale, Bücherstapel auf dem Küchentisch, man fühlt sich sofort zu Hause. Und bei jedem neuen Treffen darf die Frage nicht fehlen: „Jürgen, hast du den Artikel in der SZ gelesen?“, mit der sie mir einige Zeitungsausschnitte in die Hand drückt.

Dorothea, die Kinderärztin, die spät berufene gläubige Jüdin, ist aber nicht nur eine gebildete Frau. Sie ist vor allem ein herzensguter Mensch, der ihr und Alexander Frieds gemeinsames Vermächtnis weitergeben möchte. Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah, das sie vor allem als Auftrag begreift, jeglicher Art von Ausgrenzung entgegenzutreten. Doro, die Gutherzige, die sich für Flüchtende aus Syrien einsetzt, auch wenn manche unter den muslimisch geprägten Einwanderern Berührungsängste haben.

„Tradition und Feiertage – mit kleinen Kostproben“

Doro, die Bescheidene, will ihren kleinen Auftritt am Donnerstag, 9. November, um 19 Uhr in den Gemeinderäumen der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Tirschenreuth (Äußere Regensburger Straße 65) „Über das Judentum: Tradition und Feiertage. Mit kleinen Kostproben“ nicht als Vortrag bezeichnen. „Das ist nur so eine kleine Synopsis“, sagt sie fast verlegen, „eine vergleichende Übersicht, zu der es ein paar Kostproben wie Chalot, aufgeschnittenes gesäuertes Brot, und Sufganijot, in Öl herausgebackene Krapfen, gibt.“

Dorothea, die Kluge, kritisiert auch die Siedlungspolitik Benjamin Netanjahus als kritische Staatsbürgerin, die sie immer war. Das muss sie nicht. Es gibt keine Kollektivverantwortung für deutsche Juden, die Politik Israels zu erklären, zu kritisieren oder zu verteidigen. Aber ein kritischer Geist wie Doro sagt eben, was gesagt werden muss. Sie ist schon deswegen die völlig falsche Adressatin von Menschen, die heute wieder meinen, Juden attackieren zu dürfen, weil sie mit der Politik Israels unzufrieden sind.

Und das am 85. Jahrestag der Pogromnacht …

Es sind die gleichen Menschen, Deutsche und Einwanderer, die mit keinem Wort die fürchterlichen Verbrechen der Hamas kritisieren, deren blutrünstiger Überfall auf Israel diese neuerliche, schreckliche Eskalation ausgelöst hat. Die es für nicht erwähnenswert erachten, dass die Hamas bis heute die Vernichtung des Staates Israel und aller Juden im übelsten faschistoiden Sinn als politisches Ziel verfolgen. Dass die Hamas die Palästinenser im Gaza-Streifen kalkuliert als Geiseln missbrauchen, um ein globales Propaganda-Narrativ zu erzeugen. Dass die Hamas wie die Hisbollah und die Huthi-Miliz vom iranischen Terrorregime finanziert und gegen Israel in Stellung gebracht wird.

Dass deswegen die Evangelische Kirche als Veranstalterin eines Vortrags einer gutherzigen Frau über jüdische Feste und Traditionen um Polizeischutz bitten muss, passt tragischerweise zum Datum der Veranstaltung: dem 9. November, 85. Jahrestag der Pogromnacht. 85 Jahre, nachdem rassistische Horden auf Anweisung des Nazi-Regimes in ganz Deutschland die Scheiben jüdischer Geschäfte eingeschlagen, Synagogen in Brand gesetzt und Menschen verschleppt haben, fühlen sich Juden in diesem Land erneut nicht mehr sicher – während gleichzeitig der Sehnsuchtsort, der letzte Fluchtpunkt, der einzige jüdische Staat der Welt, kein sicherer Ort mehr ist.

Dorothea Woiczechowski-Fried versucht voller Sorge ihre Verwandten in Israel zu erreichen. Foto: Jürgen Herda

Kommentar: Vorurteile, der Menschen liebste Kinder

Vorurteile und Klischees sind Teil der menschlichen DNA. Menschen grenzen sich ab als Familien, als Stämme, als Regionen, später als Nationen oder Mitglieder eines Glaubens, einer Weltanschauung, einer Peer-Group. Menschen wollen dazugehören. So weit, so gut. Für alle, die nicht zur eigenen „Clique“ gehören, kann das schmerzliche Folgen haben: Ausgrenzung, Diskriminierung, im Extremfall Verfolgung und Vernichtung. Es braucht nicht viel, um als anders zu gelten. Haut- oder Haarfarbe, Sitten und Bräuche, andere Sprache oder abweichender Dialekt. Und schon ist man Außenseiter, dem man die irrwitzigsten Eigenschaften andichtet.

Die Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus ist eine Aneinanderreihung grauenvoller Pogrome, die auf bewusst geschürten Ressentiments interessierter Kreise beruht. Erst verbietet man den Juden die meisten Berufe außer dem Geldverleih – und dann behauptet man, sie seien geldgierig. Erst leihen sich Fürsten und Magistrate Geld von ihnen – und weil man es nicht zurückzahlen will, verleugnet, vertreibt und ermordet man sie.

Großes Verbrechen, großes Vergessen

Auf die Spitze trieben die Nazis im 20. Jahrhundert diese mörderische Hetzjagd. Mit der absurden Lüge, die Juden würden das internationale Finanzsystem beherrschen, ermordeten die Rassenwahnsinnigen Millionen von Kindern, Frauen und Männern jüdischer Abstammung, die meisten von ihnen Durchschnittsbürger und arme Schlucker, viele von ihnen areligiös, einige von ihnen wussten nicht einmal, dass sie Juden sind.

Nach dem großen Morden folgte erst einmal das große Vergessen. Erst allmählich wollten die Kinder der Täter wissen, wie sich ihre Eltern und Großeltern zum Mörderregime der Nazis und zur Verfolgung der Juden verhielten. Die nachfolgende Aufarbeitung der Verbrechen scheint zumindest teilweise Klischees und Vorurteile auszuräumen. Doch das kollektive Gedächtnis der Menschen ist kurz.

Und schon wieder die Mär von der Hochfinanz

Heute schwadronieren AfD-Politiker wieder ungeniert von der „Hochfinanz“, vom „Vogelschiss der Geschichte“. Und Menschen aus Ländern, die seit frühester Kindheit mit Lügen und Hass gegen Juden indoktriniert wurden, bedrohen jüdische Bürger, hetzen in Sozialen Medien und malen Judensterne auf Häuser, in denen Juden wohnen.

Dagegen gibt es wie eh und je nur zwei wirksame Gegenmittel: Die konsequente Anwendung von Gesetzen, die Volksverhetzung, Hatespeech, das Verbrennen von Flaggen und natürlich vor allem die Bedrohung von Menschen unter Strafe stellen. Und an zweiter Stelle die ebenso konsequente Widerlegung absurder Vorurteile und Verschwörungstheorien.

Anstand, Respekt und Wissen sind nicht vererbbar

Und nein, das ist keine Beschäftigung mit einer längst vergangenen Geschichte und Schuld. Aufklärung ist die immer wieder neue Aufgabe jeder Generation, weil Wissen genauso wenig vererbbar ist wie Anstand und Respekt. Wir stehen heute vor der Herausforderung, den Rassismus alter und neuer Rechtsextremer genauso zu entlarven, wie den Antisemitismus von Einwanderern und pseudolinker Blasen.

Und wenn es schon an Herzensbildung mangelt, dann sollte zumindest der Selbsterhaltungstrieb auch den größten Egoisten zu denken geben: Die nationalistische Katastrophe des 20. Jahrhunderts hat nicht nur die halbe Welt in Brand gesetzt und rund 60 Millionen Menschen das Leben gekostet. Sie hat auch den Ausgangspunkt dieses kriegerischen Wahnsinns in Schutt und Asche gelegt. Merke: Nazis sind keine Patrioten, sie sind Volksverräter. Wie sagte Hitler bei seinem finalen Rettungsschuss so entlarvend: „Die Deutschen haben den Sieg nicht verdient.“ Also sollten sie mit ihm untergehen.

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1 Kommentare

Karl-Heinz Gleißner - 04.11.2023

Bravo Herr Gerda. Ein äußerst fundierter Kommentar!