NS-Zeit aus Sicht eines Kindes

Weiden. Als Josef Salomonovic (79) beginnt von seinen ersten Erinnerungen als Dreijähriger zu erzählen, wird es im Klassenzimmer still. Er war der jüngste Gefangene des Lagerkomplexes Flossenbürg. Der 9. Klasse der Wirtschaftschule Weiden schilderte er sehr anschaulich seine Lebensgeschichte aus des Sicht des Kindes, das er seinerzeit war. 

Josef Salomonovic im Zeitzeugengespräch, Nazi-Regime, Grauen nicht vergessen 2
Josef Salomonovic (79) erlebte die NS-Zeit als Kind. Den Schülern der Wirtschaftschule Weiden erzählte er von seinen Erinnerungen.

Seine Familie und er wurden im November 1941 von der Gestapo von Prag nach Litzmannstadt in Polen deportiert. Jeder, auch er, durfte 20 Kilogramm Gepäck mitnehmen. Sein Rucksack war fast so groß wie der selbst und schlug beim Gehen immer gegen seine Fersen. Er freute sich, hatte seine Mutter ihm doch erzählt, sie würden einen Ausflug nach Polen machen. Doch es war alles andere als ein Ausflug.

Vierjähriger in Todesangst

Im Ghetto Litzmannstadt musste seine Familie in einer Metallfabrik und Papierfabrik arbeiten. Als kleiner Junge war er deshalb fast elf Stunden täglich auf sich allein gestellt. Brot, das er morgens von seiner Mutter bekam, musste für den ganzen Tag reichen. Nur wer arbeitet, hatte für die Nationalsozialisten eine Daseinsberechtigung, alle anderen waren nur „unnütze Esser“ und „Parasiten“.

Bei einer Kontrolle 1942 sollten alle Kinder aus dem Ghetto gebracht werden. Josefs Vater hatte eine Leiter besorgt, der Vierjährige konnte so durch eine Klappe auf den Dachboden klettern. Bis ins Detail schildert er den Schülern seine Todesangst auf der Leiter, waren die Sprossen doch für ihn so weit auseinander, dass er drohte herunterzufallen. Er lag dann auf dem engen, niedrigen Dachboden. Geplagt von unerträglichen Schmerzen einer Mittelohrentzündung. Weinen durfte er aber nicht – geschweige denn andere Geräusche machen. Die SS hätte ihn sonst gefunden und abtransportiert. Jedes Mal wenn er den Kopf etwas bewegt, dröhnt das Knistern seines Ohrverbands in seinem Kopf. Nur drei von den zwölf Kindern entgingen damals dem Abtransport.

Die Mutter fremd, Vater ermordet

1944 wird das Ghetto geräumt und die Familie kommt zuerst ins KZ Ausschwitz und dann ins Konzentrationslager Stutthof. „Ein fürchterliches Lager“, erinnert sich Salomonovic. Gleich bei der Ankunft in Ausschwitz werden Männer und Frauen getrennt und er sieht seinen Vater nie mehr wieder. Josef, bleibt bei seiner Mutter und kommt mit der Frauengruppe in die sogenannte „Sauna“-Baracke. Alle müssen sich entkleiden, werden rasiert, nach Schmuggelware durchsucht und schließlich desinfiziert. Sie bekommen Häftlingskleidung. Diese ist für den kleinen Bub viel zu groß, weshalb er seine Schuhe und Kleidung wieder anziehen darf. Die Schuhe selbst binden, kann er noch nicht. Als eine Frau aus der Gruppe der nackten, rasierten und für ihn sehr hässlichen Frauen heraustritt, um ihm dabei zu helfen, erkennt er in ihr seine Mutter. Er war damals der einzige in normaler Kleidung.

Unter dem Vorwand Vitaminspritzen zu erhalten, wurden die Häftlinge im Konzentrationslager Stutthof aufgefordert sich zu melden. Darauf vertrauend meldete sich sein Vater. Bitter erinnert sich Salomonovic daran, dass sein Vater immer sagte, Offiziere und Soldaten würden nicht lügen. Jetzt weiß er es besser: Josefs Vater erhielt statt einer Aufbau- eine Todesspritze. Im Klassenzimmer herrscht betroffene Stille, während Salomonovic von seinem Vater erzählt.

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Von einem norwegischen Häftling bekam der Zeitzeuge einmal eine Karotte und eine Dose Sardinen geschenkt. “Für mich waren das bis heute die besten Sardinen der ganzen Welt”, sagt er, während er einen Löffel hervor holt. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Löffel. Salomonovic sicherte dieser unscheinbare Gegenstand das Überleben. Wegen Mangelernährung war er nicht gewachsen und hatte keine Zähne. Mit dem Löffel schabte seine Mutter für ihn Kartoffeln oder Karotten. Diesen Löffel hütet der 79-Jährige bis heute wie einen Schatz. Zusammen mit einem kleinen Flugzeug, dass er auf der Flucht von einem Amerikaner als Geschenk bekam.

“Dieser Dreck muss weg”

In einem Viehwaggon eingepfercht mit vielen anderen Häftlingen, einem Eimer mit Wasser und einem Eimer für die Toilette, wurde die Familie 1944 nach Dresden, einem Außenlager des KZ Flossenbürg, deportiert. Seine Mutter und sein Bruder arbeiteten dort in einer Munitionsfabrik. Josef war noch zu jung, um zu arbeiten und musste sich deshalb den ganzen Tag über verstecken.  „Ich war wieder der Parasit. Wer nicht arbeitet, war unnützer Esser und hatte für die SS keine Daseinsberechtigung”, wiederholt der Überlebende fast mechanisch. Die Zuhörer können nur erahnen, was so eine Aussage mit dem Selbstwertgefühl eines Menschen macht.

Bei einer Kontrolle wird der kleine Bub in einem Wäschebehälter entdeckt. „Dieser Dreck muss weg!“, brüllte der Offizier. Am nächsten Tag sollte er erschossen werden. In der Nacht wird Dresden von den Alliierten bombardiert. Viele Menschen starben, Salomonovic allerdings rettete dieser Vorfall vor der Erschießung. Kurz vor Kriegsende wurden die Häftlinge auf einen Todesmarsch in Richtung Erzgebirge geschickt. Auf diesem Fußmarsch gelang der Familie bei einem Angriff der Alliierten die Flucht. Sie konnten sich bei einem Bauern in der Scheune verstecken. Dieser versorgte sie mit Brot. “Dieser Heustadl steht bis heute”, sagt Salomonovic. Den Bauern besuchte er nach dem Krieg öfter.

Krieg hinterlässt Spuren

Das Rote Kreuz versorgte die Überlebenden mit Kirschkompott. Das war zwar lecker, aber nach jahrelanger Mangelernährung, bekam Salomonovic dadurch einen furchtbaren Durchfall. Auch an seiner Mutter hatten vier Jahre „deutscher Betreuung“ Spuren hinterlassen: Sie wog nur noch 38 Kilogramm. Selbst ihre Schwester erkannte sie nicht wieder.

1945 wurde Josef das erste Mal von seiner Mutter getrennt. Der Grund: Ein Aufenthalts in einem Erholungsheim in Tschechien. Während er davon erzählt, merkt man ihm noch heute an, wie schwer ihm diese Trennung fiel. Obwohl es in diesem Heim ausreichend Verpflegung gab, musste er sich immer wieder Brot stehlen und im Bett verstecken. Salomonovic erinnert sich an den Ärger, den er bekam: “Ich konnte aber nicht anders”. Lange Zeit noch musste er sich immer etwas Essen aufheben.

Salomonovic über den Glauben an Gott

Rund eine Stunde lang schilderte Salomonovic seine Erinnerungen an die dunkelste Zeit seines Lebens. Danach beantwortete der Zeitzeuge zahlreiche Fragen der Schüler. Zum Beispiel was seine größte Angst zu dieser Zeit war. Nämlich seine Mutter zu verlieren. Die Schüler interessierte auch, ob Salomonovic noch an Gott glaubt. “Vielleicht gibt es Gott, vielleicht gibt es ihn nicht”, war seine Antwort. Sechszig seiner Familienmitglieder seien getötet worden. “Vielleicht hört mich Gott, ich höre ihn leider nicht”, so Salomonovic weiter. Der Schmerz über die Ermordung des Vaters sitzt noch immer tief. Ob man an Gott glaube oder nicht, wolle Salomonovic aber jedem selbst überlassen.

Zehn Jahre mussten vergehen, bis Salomonovic wieder in ein normales Leben zurückfand. Ermutigt durch seine Frau Lissy konnte er erst 1979/1980 zum ersten Mal öffentlich über seine Erlebnisse berichten. Hass für das, was man ihm angetan hat, verspürt er keinen. “Hass frisst einen nur auf”, erklärt er. Aber auch vergessen kann er das Geschehene nie.

Durch die Schilderungen von Josef Salomonovic erhielten die Schüler ein emotionales Geschichtsverständnis außerhalb von Zahlen und Fakten. Sie waren sichtlich beeindruckt von Josef Salomonovic als Person: Trotz des Leides, das ihm bereits als kleiner Jungen in Ghettos und Konzentrationslagern widerfahren ist, ist er ein sehr humorvoller und positiv denkender Mensch. “Dieses fesselnde Zeitzeugengespräch wird den anwesenden Schülern und Lehrern sicherlich in Erinnerung bleiben”, ist sich Sonja Messer sicher. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Ursula Soderer hat sie das Treffen organisiert.

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Bilder: Wirtschaftschule Weiden 

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