Schräges Gedankenspiel: Kafka lebt und arbeitet als Kartenabreißer in einem Kino

Weiden. Der Autor Bernhard Setzwein hat einen wundervollen Kafka-Roman geschrieben und liest am Sonntag bei den Weidener Literaturtagen.

Der Schriftsteller Bernhard Setzwein. Foto: Hannes Reisinger

Vor 100 Jahren ist der Schriftsteller Franz Kafka gestorben und in diesem Jubiläumsjahr gibt es Filme, Ausstellungen und Bücher. Der Oberpfälzer Autor Bernhard Setzwein (63) hat einen wunderschönen Roman dazu geschrieben. In dem Buch „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“ stellt er die Theorie auf, dass Kafka 1924 nicht gestorben ist und jetzt in Meran lebt.

Das Interesse an Kafka ist riesig. Und das sagt doch auch etwas. Wir sind noch lange nicht fertig mit ihm.

OberpfalzECHO: Können Sie sich noch daran erinnern, wie alt Sie waren, als Sie das erste Mal einen Kafka-Text gelesen haben? Und was hat Sie daran besonders fasziniert?

Bernhard Setzwein: Ich war Schüler, 16, 17 wahrscheinlich. Ich muss sagen, ich hatte großartige Deutschlehrer. Fast alle Autoren, die mir viel bedeuten, habe ich durch sie kennengelernt. Von Kafka werden wir entweder „Die Verwandlung“ oder „Das Urteil“ gelesen haben, ich weiß es nicht mehr genau. Ich hab mir dann schnell weiteres von ihm besorgt, „Brief an den Vater“, „Das Schloss“, „Der Process“ und gerade der letztgenannte Roman hat mich umgehauen, weil ich mir dachte: Da ist jemand, der versteht deine Lage genau, der kennt dein Leben, vor allem auch dein inneres Gefühlsleben.

Ich musste in meiner Kindheit und Jugend mehrmals umziehen, die Bundesländer wechseln, wurde immer wieder mit anderen Lehrplänen konfrontiert … Schule war für mich ein alptraumhafter, mich bedrohender „Process“. Auch ich wusste nicht, was ich verbrochen haben sollte und was man überhaupt von mir will. Tja, und dann eben diese „Process“-Lektüre, die übrigens dazu führte, dass ich mit 17 eine Erzählung schrieb, „Die Prüfung“. Natürlich ist eine Schulprüfung gemeint. Das Ganze war die reinste Kafka-Nachahmung.

Nach der dreibändigen Kafka-Mammut-Biografie von Reiner Stach schien es fast unmöglich, noch ein weiteres Buch über den Schriftsteller zu schreiben. Was hat Sie angetrieben, es dennoch zu wagen?

Setzwein: Das sehe ich genauso. Reiner Stach ist in seiner Akribie und Faktenfülle unüberbietbar. Ich hab die Bände jeweils gleich beim Erscheinen gelesen und mir gedacht: In der Art braucht die nächsten 50 Jahre niemand mehr etwas versuchen. Also in einer wissenschaftlich biografischen Art, streng entlang der Archivalien.

Aber mit einem ordentlichen Schuss Chuzpe, Frechheit und Freiheit müsste es doch gehen. Auch wollte ich möglichst keine weitere Deutung, Analyse oder gar ein Hinlegen Kafkas auf die freudsche Psycho-Couch liefern, sondern, ja, einen Roman. Ich erzähle von Kafka wie von einer Romanfigur. Wenig, bis gar keine Psychologie, dafür Action, Handlung, Rasanz, auch traumhafte Szenen, Dialoge, es tut sich halt was in meinem Buch. Gleichwohl ist auch viel eingearbeitet, hinein verwoben aus Kafkas realem Leben, aber wie ich hoffe, eher unaufdringlich. Nichtsdestotrotz sollte man nach der Lektüre idealerweise Kafka besser kennen und verstehen.

Schon allein die Idee, dass Franz Kafka Krankheit und Krieg überlebt, und eine neue „Karriere“ als Kartenabreißer in einem Meraner Kino startet, ist großartig. Wie sind Sie darauf gekommen?

Setzwein: Dass er als Kartenabreißer in einem Kino arbeitet, ist einfach dem Umstand geschuldet, dass Kafka tatsächlich, zumindest in seinen jungen Jahren, ein großer Liebhaber des Kinotopps war, wie man damals sagte. Er war leicht zu rühren, auch von qualitativ nicht so hochstehenden Streifen, und dem Tagebuch hat er anvertraut, dass er im Kino geweint habe. Bei mir nun darf er alle Tage hinten auf dem Notsitz im Kino sitzen und die Schmachtfilme des Jahres 1960 sehen. Zu dem Zeitpunkt nämlich spielt mein Buch.

Dass „mein“ Kafka übrigens nicht mehr schreibt, hat mehrere Gründe. Ein wesentlicher: Kafka konnte nie einen Weg finden, Leben und Schreiben in Einklang zu bringen. Deshalb auch immer wieder sein Davonlaufen vor Frauen, der Ehe, Familie. So schließt er in meinem Buch quasi einen Pakt mit sich selbst: Wenn er noch mal davon kommt, von dieser furchtbaren Krankheit, und überlebt, hört er das Schreiben auf. Der reale Kafka hat ja mal notiert: „Ich muss schreiben, Gott aber will es nicht.“ Er unterwirft sich also Gottes Willen, aus Dank dafür, davongekommen zu sein.

Letztendlich ist Ihr Buch dennoch eine kleine, aber feine Biografie geworden, da Sie viele Details aus seinem Leben und Werk, seine Skurrilitäten als Mensch oder seine Frauengeschichten mit einweben. War das von Anfang an so geplant, oder hat sich das erst beim Schreiben entwickelt?

Setzwein: Das war schon mehr oder minder so geplant. Und in diesem Zusammenhang spielt die zweite Hauptfigur, die man ja auch schon auf dem Buchcover sieht, eine entscheidende Rolle: Marek Hlasko, ein polnischer Schriftsteller, den es tatsächlich gegeben hat, den aber bei uns niemand kennt, obwohl es ein paar Bücher in deutscher Übersetzung gab. Als ich eines davon vor nicht langer Zeit las, „Der Nächste ins Paradies“ heißt es, dachte ich: Das ist wie Kafka, vielleicht noch etwas härter, etwas proletarischer, aber ähnlich düster, existentiell, und von der Art eines bösen Alptraums.

Und dann kam der Gedanke: Was wäre, wenn ich die beiden zusammenbrächte, den alten Kafka und den jungen Hlasko, er ist zu dem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Und was, wenn Kafka sich in diesem jungen, ungestümen Autor wiedererkennen würde, dem Motto nach: So wie der war ich auch mal. Und so konnte ich die ganzen Rückblenden und Erinnerungen einbauen, die das reale Leben Kafkas noch einmal aufblättern.

Wie sehr muss man Kafka lieben, um mit ihm zu leiden – wie zum Beispiel in der Traumszene im Wald, in der er seine Lieblingsschwester Ottla trifft, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde?

Setzwein: Lieben … vor so einem Wort würde ich dann doch zurückschrecken. Aber doch irgendwie eine Vertrautheit. Vielleicht ein wenig so wie zu einem sehr, sehr viel größeren Bruder, den man real natürlich nie erlebt hat, aber von dem einem sehr viel erzählt wurde und von dem man viele Geschichten kennt. Und natürlich das, was er hinterlassen hat, diese unglaublich reiche, großartige, nur schwer ausdeutbare Literatur. Mit der wird man ja nie fertig. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal ich gerade den „Process“ lese, von dem es jetzt die neu durch Reiner Stach kommentierte Ausgabe gibt. Und das Verrückte ist: Ich entdecke wieder so viel Neues. Das geht mir bei kaum einem zweiten Autor so.

Ihr Roman geht bereits in die zweite Auflage, hat Sie der Erfolg überrascht?

Setzwein: Ich habe schon darauf spekuliert, dass dieser anstehende 100. Todestag die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf Kafka lenken würde. Als ich anfing zu schreiben, wusste ich allerdings nicht, dass es ein solcher Hype werden würde. Von der TV-Spielfilmserie habe ich erst später erfahren. Jetzt aber zeigt sich, zum Beispiel bei meinen Lesungen auf der Leipziger Buchmesse: Das Interesse an Kafka ist riesig. Und das sagt doch auch etwas. Wir sind noch lange nicht fertig mit ihm.

Mit Setzwein und Kafka auf der Reise durch die bucklige Welt

Bernhard Setzwein liest im Rahmen der Weidener Literaturtage aus seinem Buch „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“ (Edition Lichtung) am Sonntag, in der Regionalbibliothek Weiden. Karten gibt es hier und an der Abendkasse.

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1 Kommentare

Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg - 10.04.2024

… und wer den Termin in Weiden verpasst: Am Donnerstag, 25. April, ist Bernhard Setzwein im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg zu Gast. Danke für das schöne Interview!