Weidener Jude rächt seine Familie: Justin Kohner kehrt mit US-Army zurück

Weiden. Am 8. Mai 1945 feiert die US-Army in Weiden das Kriegsende. Mit den Amerikanern kehrt mit Justin Kohner ein Weidener Jude zurück in die Stadt. Seine Geschichte ist ungewöhnlich.

US Army Kriegsende
Der Tag der Kapitulation am 8. Mai 1945. Amerikanische Soldaten bei der Siegesparade durch die Altstadt. Foto: US National Archives

Vom Tag der Befreiung gibt es Film- und Fotomaterial, zu finden in den US National Archives. Die Bilder zeigen, wie die Amerikaner am 8. Mai 1945 mit einer Siegesparade am Schlörplatz das Ende des Zweiten Weltkriegs feiern. Es handelte sich dabei um die 9. Panzerdivision, die im September 1944 in der Normandie gelandet war.

Die Amerikaner richteten nach Kriegsende in der heutigen Sparkasse in der Bahnhofstraße eine US-Militärregierung ein. Direktor war Major George J. Ganer. Unmittelbar nach Kriegsende begann die US-Army auch mit den Ermittlungen gegen Täter des Nazi-Regimes. Dabei half ihnen Justin Kohner.

Kriegsende US-Army
Die amerikanische Siegesfeier am Schlörplatz. Das Foto zeigt die 9. Panzerdivison. Foto: National Archives

Erst Brigade Beimler, dann Resistance

Justin Kohner (Jahrgang 1912) hatte als junger Mann mit Anfang 20 die Stadt verlassen. Seine Eltern Karl und Rosa betrieben ein Schnittwarengeschäft am Unteren Markt. Justin ging 1932 nach Frankreich, schloss sich 1937 den Internationalen Brigaden von Hans Beimler im spanischen Bürgerkrieg an. Als dieser 1939 verloren war, wurde er Widerstandskämpfer der französischen Résistance.

Seine Familie kämpfte in dieser Zeit ums nackte Überleben: Ab 1933 wurde ihre berufliche Existenz ruiniert, 1938 durchlitten sie in der Reichspogromnacht Angst und Schrecken, 1942 folgte die Deportation in ostpolnische Vernichtungslager. Von Justin Kohners nächsten Angehörigen starben die Eltern Karl und Rosa in Theresienstadt bzw. im KZ Auschwitz, sein Bruder Siegfried im Vernichtungslager Majadenek sowie seine Tante Ernestine im Ghetto Theresienstadt.

Exil-Deutsche in Résistance begleiten Alliierte

1945 kam Justin Kohner nach Weiden zurück: mit der US-Army. Aus seiner Familie war niemand mehr da, der älteste Bruder Willy war schon 1940 in die USA ausgewandert. Justin Kohner kam als Leutnant in französischer Uniform, sein Büro hatte er bei der US-Militärregierung in der Bahnhofstraße (heute Sparkasse). Der Résistance gehörten etwa tausend Exil-Deutsche an, darunter viele Juden. Sie begleiteten die Alliierten bei der Befreiung nach Deutschland.

Justin Kohner bezeichnete sich als “Untersuchender der Judenaktion”. Im Oktober 1945 befragte er 36 Tatverdächtige. Er ging dabei nicht zimperlich vor. “Er griff bei seinen Befragungen auch zu härteren Verhörmethoden”, hat Stadtarchivar Sebastian Schott recherchiert. Das ging so weit, dass sich die erlittenen Körperverletzungen bei manchen Angeklagten später strafmildernd auswirken.

Reichspogromnacht: In der Altstadt wütet der braune Mob

Seine Familie hatte in der Reichspogromnacht schwer gelitten. Der braune Mob tobte in der Nacht auf den 10. November 1938 bis zum frühen Morgen in der Altstadt. SA-Männer suchten mindestens acht jüdische Wohnungen auf. Sie zertrümmerten Mobiliar und Fenster. Bewohner wurden geschlagen, Frauen im Nachthemd auf die Straße gezerrt, die Männer verhaftet.

Auch Justins Vater Karl war nachts um 2 Uhr aus seiner Wohnung (Sedanstraße 8) geholt worden. Die Verhaftung des Kaufmanns ist in den staatsanwaltlichen Akten von 1946 dokumentiert. Die Streife hatte Mühe, mit dem 63-Jährigen zur Wache im Alten Rathaus durchzukommen. Am Oberen Tor hielt eine Menschenmenge das Polizeiauto auf. “Plötzlich war das Trittbrett und Auto voll Leute und schon hatten Kohner und ich die Prügel weg, bis ich Gas gab”, gab ein Polizeimeister zu Protokoll.

23 jüdische Männer wurden am Folgetag ins KZ Dachau gebracht. Viele, die nach Hause zurückkehrten, forcierten die Ausreise. Sie taten gut daran. Keiner, der 1939 noch in Weiden gemeldet war, überlebte den Holocaust – darunter die Kohners.

Verhörprotokolle in Amberg noch erhalten: Dünnes Papier, roter Holzer

Und Justin? Er nahm Rache. Die staatsanwaltlichen Akten von 1946 werden im Staatsarchiv Amberg sorgsam aufbewahrt. Die alten Kladden enthalten die Verhörprotokolle, die Justin Kohner im Oktober 1945 angefertigt hat. Sie sehen alle ähnlich aus: Auf dünnes DIN-A-4-Papier ist mit mechanischer Schreibmaschine als Überschrift “Judenpokrom” (mit k) getippt, am Ende des Blattes ließ Kohner die Vernommenen mit rotem Holzstift unterzeichnen.

Wie kam Kohner an die Namen der Tatverdächtigen? Ihm war mit Ludwig Engstler ein Mitarbeiter des RAW (Reichsbahn-Ausbesserungswerkes) an die Seite gestellt worden. Justin Kohner und Engstler kannten sich von früher aus der sozialistischen Arbeiterjugend. Wie Engstler später berichtete, habe Kohner “vom Werk” eine Liste mit SA-Männern bekommen, die am Novemberpogrom beteiligt waren. Davon gab es im RAW einige, allen voran der Werksdirektor.

Liste mit Namen kam aus dem RAW

Diese Liste arbeitete Justin Kohner ab. Ein SA-Mann aus der Harbauer-Siedlung schilderte 1946 den Besuch Kohners in seinem Haus. “Meine Frau und mein 18-jähriger Sohn mussten sich in die Küche begeben, während ich in meinem Schlafzimmer verprügelt wurde.”

Ein anderer Verdächtiger musste bei Kohner im Büro antreten. Er beklagte später, dass er so schwer zusammengeschlagen wurde, dass er nicht mehr aufstehen konnte. “Erst Captain Ganer von der Militärregierung machte der Aktion ein Ende.” Major George J. Ganer war Direktor der US-Militärregierung.

20 Freisprüche, ansonsten Bewährung

Viele der Geständnisse sind 1946/1947 abgeschwächt worden, als die US-Militärregierung die Ermittlungen in die Hände der deutschen Kripo und Staatsanwaltschaft übergab. Ein Metzger gab zu Protokoll: “Ich wurde von Kohner geschlagen und bekam nach den ersten Schlägen noch einige Minuten Bedenkzeit.” Der Metzger hatte in der Reichspogromnacht in der Wohnung des Rechtsanwalts Dr. Pfleger gehaust.

Vielleicht hatte Justin Kohner geahnt, dass die deutsche Justiz geradezu lächerliche Urteile fällen würde. Am Landgericht Weiden wurden in zehn Gerichtsprozessen insgesamt 46 Männer wegen ihrer Beteiligung an der Reichspogromnacht in Weiden angeklagt. Die Strafen: 20 Freisprüche. Für alle anderen gab es Bewährung.

Nach 1946 verliert sich jede Spur

Justin Kohner verschwand so schnell, wie er gekommen war. Im Staatsarchiv Amberg liegt ein letztes Schriftstück vom 3. Dezember 1945, das er eigenhändig unterschrieben hat. Bei dem Schreiben handelt sich um die einzige Rehabilitation, die er ausgestellt hat. Ein Schneidermeister schien in der Reichspogromnacht tatsächlich nur zufällig an einem jüdischen Haus gestanden zu haben, ehe er entsetzt nach Hause ging.

Im Januar/Februar 1946 hielt sich der französische Staatsangehörige Justin Kohner noch einmal für einige Wochen in Weiden auf, wie ein Eintrag beim Einwohnermeldeamt belegt. Danach verliert sich seine Spur.

Schriftstück vom 3. Dezember 1945, unterzeichnet von
Schriftstück vom 3. Dezember 1945, unterzeichnet von “Leutnant Kohner”, dem 1912 in Weiden geborenen Juden Justin Kohner, der 1945 mit der US-Army in die Stadt zurückkehrte. Foto: Staatsarchiv Amberg
Willy Kohner, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, Jahrgang 1907, 1940 in die USA emigriert. Foto: Stadtarchiv Weiden
Willy Kohner, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, Jahrgang 1907, 1940 in die USA emigriert. Foto: Stadtarchiv Weiden
George J. Ganer, Major Cav. , Director of Military Govt. Weiden.  Er leitete ab 1945 die Militärregierung in Weiden, untergebracht im Sparkassengebäude in der Bahnhofstraße.
George J. Ganer, Major Cav. , Director of Military Govt. Weiden. Er leitete ab 1945 die Militärregierung in Weiden, untergebracht im Sparkassengebäude in der Bahnhofstraße.
Siegfried Kohner, einer der Söhne des Kaufmanns Karl Kohner. Er wurde, wie seine Eltern, Opfer der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. Foto: Stadtarchiv Weiden
Siegfried Kohner, einer der Söhne des Kaufmanns Karl Kohner. Er wurde, wie seine Eltern, Opfer der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. Foto: Stadtarchiv Weiden

Quellen: Sebastian Schott „Weiden a mechtige kehille“; Yad Vashem/Internationale Holocaust-Gedenkstätte; Staatsarchiv Amberg, Akten Staatsanwaltschaft Weiden 1946; Johannes Laschinger „Judenpogrome in Weiden und Amberg“; Arolsen Archives; Musée de la Résistance en ligne; Universität Barcelona (Mitglieder Brigade Thällmann/Beimler); Gerhard Leo “Deutsche in der Resistance”.

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