Neuer SPD-Bezirksvorsitzender: Ein Europäer für die Oberpfalz

Regensburg/Weiden. Seit Samstag ist es amtlich: Die neue Oberpfälzer SPD-Doppelspitze ist jünger, weiblicher, europäischer. Der Amberger Europaabgeordnete Ismail Ertug (46) und die Regensburger Bundestagsabgeordnete Carolin Wagner (40) folgen dem Urgestein Franz Schindler. Im Interview schildert Ertug seine Pläne.

Der neue Vorsitzende der Oberpfälzer SPD, Europaabgeordneter Ismail Ertug (links), mit dem früheren EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Archivbild: Jürgen Herda

Herr Ertug, Sie wollen die großen Weltthemen in die Oberpfalz bringen: Wie wollen Sie es schaffen, dass die Oberpfälzer sich von Europa stärker angesprochen fühlen?

Ertug: Die Oberpfalz ist keine Insel. Politische Entscheidungen in Brüssel haben auch hier Auswirkungen. Das Problem: Viele Themen, die wir diskutieren, verbinden die Wenigsten mit Europa. Ein konkretes Beispiel: Entgegen der Kritik zu Beginn der Pandemie war die gemeinsame Impfmittelbeschaffung ein europäisches Erfolgsmodell. Und wer hätte gedacht, dass es Europa ist, das als erstes ein Impfzertifikat auf die Reihe bekommt, das grenzenloses Reisen wieder deutlich erleichtert?

Wie wollen Sie den Wählern diese Bezüge besser erklären?

Ich werde deutlich machen, welche Themen uns betreffen. In den Medien liest man meist nur das Endergebnis, die Hintergründe fehlen. Ich versuche auch den Weg zur Entscheidung zu erklären. Dazu braucht man auch mehr Veranstaltungen. Intern würde ich gerne rausgehen aus dem Organisationsmodus. Organisatorische Fragen können wir auch digital erledigen. Wir müssen stärker über Positionsbestimmungen diskutieren, dann hat man auch eine ganz andere Aufmerksamkeit und Teilhabe. Dadurch verschaffe ich uns Zeit für politische und strategische Fragen, wie wir uns als Regierungspartei in Berlin positionieren wollen.

Europa-Abgeordneter Ismail Ertug im Straßburger Parlament. Bild: Jürgen Herda

Die Ampel ist mit einiger Hoffnung gestartet, inzwischen ist das Zwischenhoch bei den Umfragen wieder verflogen, die Merz-CDU liegt in Führung. Läuft da was schief?

Wir haben zum ersten Mal in Deutschland ein Dreierbündnis, da müssen sich alle Partner erst einmal finden – noch dazu so ungleiche Akteure wie Grüne und Liberale. Deshalb muss man nach gerade einmal drei Monaten die Kirche im Dorf lassen. Dass wir keinen Raketenstart hingelegt haben, ist uns auch klar. Bedingt durch die fehlende Kommunikation des RKI bei der Reduzierung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate. Und dass die Zuschüsse für Häuslebauer Knall auf Fall beendet wurden, war auch keine Meisterleistung von Habecks Ministerium.

Man fühlt sich bei Olaf Scholz an das Theaterstück „Warten auf Godot“ erinnert: Wann äußert sich die Sphinx aus Hamburg zu den drängenden Themen? Beim Russland-Ukraine-Konflikt wiederholt der neue Parteichef Klingbeil nur gebetsmühlenartig, alle Optionen lägen auf dem Tisch. Und die angekündigte Impfpflicht lässt auf sich warten wie der Kanzler selbst …

Ich bin bekannt dafür, auch eigene Leute hart zu kritisieren, wenn es notwendig ist. An dieser Stelle bin ich aber positiv überrascht von der Kommunikation von Olaf Scholz. Dass er nicht zu allem was sagt, finde ich wohltuend. Auch Merkel war nicht ständig in allen Gazetten unterwegs. Dass Annalena Baerbock ihren Job als Außenministerin macht, ist als gemeinsames Regierungshandeln wohl durchdacht. Das Außenministerium war die vergangenen Jahre durch Merkels überragende internationale Position faktisch entmachtet. Das findet sich gerade wieder. Frau Baerbock ist in den Medien präsent und sie spricht dort Klartext. In einem Unternehmen äußert sich der CEO auch nur, wenn es sein muss.

Kann man von einem Bundeskanzler nicht erwarten, dass er deutlich Position bezieht, wenn Russland eine Armee vor der ukrainischen Grenze aufmarschieren lässt?

Ohne Anspruch auf letzte Wahrheiten ist meine Einschätzung als Europa-Abgeordneter, dass es dazu in der EU mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Lager gibt. Osteuropa mit den baltischen Staaten würde am liebsten rustikal reagieren. Die Länder an der Westküste wie Spanien orientieren sich traditionell an der US-Position. Und dann Mitteleuropa mit Deutschland, wo man mit seinen historischen Erfahrungen versucht, Zeit zu gewinnen. Je länger es dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu keinen kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Länder wie Russland sind nicht so pragmatisch wie wir, die Wahrnehmung ist dort komplett anders. In so einer Gemengelage ist es wichtig, die Gesprächskanäle offenzuhalten beziehungsweise wieder zu etablieren. Es war meines Erachtens richtig von der Biden-Administration, Putin für seine Forderung, eine NATO-Aufnahme der Ukraine auszuschließen, keinen Freifahrtschein zu geben. Das entscheidet jedes Land selbst. Aber die USA haben Gespräche angeboten, andere Lösungen für das Sicherheitsgefühl der Russen zu finden. Wie es ausgeht, weiß niemand.

Mit gemischten Gefühlen blickt man gerade zu den seltsamen Omikron-Spielen nach China, wo ein immer selbstbewusster auftretendes Regime nur noch nach den eigenen Regeln zu spielen scheint. Wie soll sich die Bundesregierung zwischen wirtschaftlichen Interessen und moralischen Ansprüchen positionieren?

Ich bin mit dem Thema vertraut, ich sitze im betreffenden Ausschuss. Der größte strategische Fehler der westlichen Staaten war, dass man in den vergangenen Jahrzehnten alle Produktionen nach Fernost und besonders China ausgelagert hat, die sich nicht mehr zu rentieren schienen. Dadurch hat man sich in eine ungesunde Abhängigkeit manövriert. Man hat die Chinesen lange Zeit belächelt als eine Nation, die eben alles etwas schlechter und billiger kopiert. Aber die KP hat das geschickt gemacht, sich vom Kleinen zum Großen, vom Groben zum Feinen vorgearbeitet und am Ende des Tages aus dem wirtschaftlichen Erfolg eine neue Stärke gewonnen. Das Regime zeigt jetzt sein wahres Gesicht.

Speed Dating Europawahl
Ismail Ertug (3.v. re) beim politischen Speed Dating vor der Europa-Wahl.

Haben die Industriechancen denn überhaupt noch eine reelle Chance, auf den chinesischen Markt zu verzichten?

Das darf nicht so weit gehen, dass man beim Systemwettbewerb die Waffen ins Korn wirft und den Chinesen alles durchgehen lässt. Da sehe ich auch eine Klammer zur Ukraine: Putin behauptet immer, dass er nur deshalb so reagiert, weil sich die NATO entgegen aller Abmachungen bis an Russlands Grenze ausgedehnt hat. In Wahrheit aber will er kein demokratisches Modell vor seiner Haustür, das die Russen auf dumme Gedanken bringen könnte. In China schafft es das Regime sehr überzeugend, westliche Errungenschaften und Freiheiten wie Demos als Chaos darzustellen. Diesen Systemwettbewerb muss die demokratische Welt gewinnen. Wozu Peking imstande ist, sieht man in Hongkong, wo die Demokratiebewegung mit aller Härte verfolgt wird und Studenten ermordet wurden. In den Internierungslagern ist dem Regime von Folter über Sterilisation bis zu Mord jedes Mittel recht, um den Widerstand von Minderheiten und Regimegegnern zu brechen. Wenn man das abwägt, muss man entscheiden, wie man mit China umgeht. Das ist die derzeit größte Herausforderung für die westliche Welt.

Demnächst soll in Brüssel die Regulierung des Einsatzes Künstlicher Intelligenz (KI) beschlossen werden. Der Deggendorfer KI-Experte Professor Glauner warnt davor, dass dadurch die marktbeherrschende Stellung der USA und Chinas gefestigt würde. Oberpfälzer Unternehmen wie BHS, deren neues Logistikzentrum KI-gesteuert ist, befürchten Wettbewerbsnachteile. Ist Europa zu Angst-getrieben?

Ich war in meiner Fraktion zuständig für Digitalpolitik. Auch da wirft man der EU vor, durch Überregulierung Europa zu übervorteilen. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Man muss mit Augenmaß rangehen, die Positionen abwägen. Wie beim Lieferketten-Gesetz: Da sagen uns die Unternehmen, wir können nicht bis ins letzte Glied bei unseren Zulieferern kontrollieren, ob sie alles einhalten. Ich bin für ein moderates Abwägen, damit wir den Anschluss nicht verlieren. Das beste Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung. Was wurde die verteufelt! Und jetzt dient sie als Modell für viele westliche Staaten, die es uns nachmachen.

Wird aber die KI-Debatte nicht durch emotionale Fragestellungen verzerrt, die in der Realität kaum vorkommen – wie die ethische Frage beim autonomen Fahren, welche Entscheidung das Fahrzeug treffen soll, wenn es doch zum Unfall kommt? In der Praxis geht es aber um so triviale KI-Lösungen wie Roboter, die Pakete transportieren …

Im Idealfall kommt es gar nicht zu solchen Grenzsituationen, in denen die KI entscheiden muss, ob das Auto auf den Bürgersteig oder in den Gegenverkehr fährt. Studien beweisen, dass das Fahren viel sicherer ist, weil die KI vorausschauender agiert als menschliche Lenker und auch mit anderen Verkehrsteilnehmern kommuniziert. Auch im Konflikt zwischen Datenschutz und KI muss man abwägen, wie groß der Nutzen und der mögliche Schaden ist: Geofencing etwa ermöglicht es zum Schutz von Mensch und Umwelt, PlugIn-Hybride in Innenstädten auf Elektroantrieb umzuschalten. Warum also das nicht nutzen?

Auch zur Lösung des Fachkräfte-Mangels kann KI eine Komponente sein?

Ich finde, man muss beides tun: Den weniger gewordenen Fachkräften interessante, gut bezahlte, mit der Familie vereinbare Arbeitsplätze anbieten und mit Technologisierung die Produktivität erhöhen. Corona hat gezeigt, dass man im Home-Office zum einen so manche Tätigkeit effektiver erledigen und gleichzeitig jede Menge CO2 eingespart werden kann. Ich stelle angesichts des Fachkräftemangels die ketzerische Frage, ob wir in der westlichen Welt noch 40 Stunden arbeiten müssen. Die Entscheidung, ob eine Volkswirtschaft erfolgreich ist, entscheidet sich nicht an der Zahl der Arbeitsstunden. Ansonsten hätte die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts produktiver sein müssen als unsere High-Tech-Wirtschaft heute.

Was sind aus Ihrer Sicht die Oberpfälzer Graswurzelthemen der nächsten Monate und Jahre? Wie bekommen wir zum Beispiel für die nächste Pandemie die Digitalisierung so hin, dass Gesundheitsämter nicht mehr faxen und Lehrer in den Schulen auch remote unterrichten können?

Was im Koalitionsvertrag zum Thema Digitalisierung steht, ist ein großer Wurf. Dass man schneller vorangehen muss als bisher, dass die Verwaltungen schleunigst digitalisiert werden müssen, das hat die Bundesregierung erkannt. Man muss der FDP zugestehen, dass sie sich dafür besonders stark gemacht hat.

Ihre Co-Vorsitzende sitzt im Berliner Bundestag, Sie im Straßburger Europa-Parlament. Es fehlt die Repräsentanz in München, um Franz Schindlers Trauma der ewigen Opposition in Bayern aufzuarbeiten. Wie haben Sie sich die Aufgabenverteilung vorgestellt?

Diesen Mangel sehe ich nicht. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man das digital lösen kann. Im Übrigen bin ich nur von Montag bis Donnerstag in Straßburg oder Brüssel, den Rest der Woche in der Oberpfalz. Die meisten Sitzungen hier finden ohnehin am Freitag und an Wochenenden statt. Außerdem haben wir vier Stellvertreter, sind also auch so vor Ort präsent. Zudem sind Carolin Wagner, Sebastian Koch und ich Mitglieder im Landesvorstand. Und es war auch schon unter den Vorgängern Florian von Brunns als Landesvorsitzende nie so, dass man Oberpfälzer Aktivitäten unterbunden hätte. Dazu kommt noch unsere SPD-Landesgruppenchefin Marianne Schieder aus Schwandorf – da sind wir insgesamt sehr gut aufgestellt.

Neue Oberpfälzer SPD-Doppelspitze

  • Der Amberger Ismail Ertug (46), seit 2009 Mitglied des Europaparlaments, und die Regensburger Sprachwissenschaftlerin Carolin Wagner (40), seit Herbst vergangenen Jahres im Bundestag, sind am Samstag beim digitalen SPD-Bezirksparteitag als Nachfolger Franz Schindlers gewählt worden.
  • Die Wahl der Doppelspitze von rund 7000 Oberpfälzer SPD-Mitgliedern muss noch per Briefwahl bestätigt werden.
  • Nach mehr als 20 Jahren trat der frühere Landtagsabgeordnete Franz Schindler nicht mehr als Bezirksvorsitzender an.
  • Gebilligt hat der Bezirksparteitag einen Antrag der Jusos, Schwangerschaftsabbrüche jenseits des Strafgesetzbuches neu zu regeln, ebenso die Resolutionen der Arbeitsgemeinschaft 60 plus (dezentrale Energieversorgung) und des Bezirksvorstands („Solidarität statt Hass und Hetze“).

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