Albtraum für die Nordoberpfalz: In zehn Jahren fehlen über 10.000 Arbeitskräfte

Weiden/Tirschenreuth. Betriebe in der Nordoberpfalz jammern schon jetzt, dass sie keine Leute mehr bekommen. Laut Statistik ist das erst der Anfang von einem richtigen Wirtschaftsdrama, wenn man nichts dagegen unternimmt.

Der Arbeitskräftemangel wird sich in den kommenden Jahren in der Nordoberpfalz dramatisch zuspitzen. Symbolbild: OberpfalzECHO

Die Zahlen? Alarmierend. Angaben der Bundesagentur für Arbeit zufolge gab es im Juni des vergangenen Jahres bei den Handwerksbetrieben in Niederbayern und der Oberpfalz 7.000 offene Stellen. Die Zahl liegt wahrscheinlich noch höher, vermutet man bei der Handwerkskammer Niederbayern/Oberpfalz. Denn nicht jeder freie Arbeitsplatz wird auch tatsächlich gemeldet. Dramatisch auch die Lage bei den Mitgliedsbetrieben der Industrie- und Handelskammer für die Oberpfalz und den Landkreis Kelheim. Bei 60 Prozent aller Unternehmen bremst der Personalmangel das Geschäft schon jetzt entweder zum Teil oder sogar erheblich aus.

10.500 Beschäftigte fehlen

Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang. Thomas Würdinger, Vorsitzender der Geschäftsführung der Weidener Agentur für Arbeit, wirft einen Blick in die Zukunft. Und die sieht düster aus. Laut Statistik werden in zehn Jahren alleine in der geografisch überschaubaren nördlichen Oberpfalz mehr als 10.500 Beschäftigte fehlen. Ein Minus von 11,7 Prozent. Die Folge: Auch das Bruttoinlandsprodukt in der Region wird um fast eine Milliarde Euro jährlich in den Keller rauschen.

Agenturchef Thomas Würdinger. Foto: Agentur für Arbeit

Zu blauäugig unterwegs

Das drohende Fiasko auf dem Arbeitsmarkt erinnert Würdinger irgendwie an den Klimawandel. Man weiß, dass es das Problem gibt und es alle betreffen wird. Trotzdem unternimmt man nach wie vor viel zu wenig. „Auch das Thema Arbeitskräftemangel wird zu blauäugig angegangen“, findet er. Dabei ist es längst fünf Minuten vor zwölf. „Will die Wirtschaft in der Region zukünftig weiter so wachsen wie bisher, werden bis 2033 jährlich 2.433 zusätzliche Beschäftigte benötigt.“ Doch woher nehmen?

Keine Busfahrer mehr?

Das Dilemma: In dem gleichen Zeitraum wird die Zahl der Auszubildenden tendenziell zurückgehen. Ein Horrorszenario kündigt sich an: Busse müssen in den Depots bleiben, weil es keine Fahrer mehr gibt, Stationen in Heimen und Hospitälern werden dicht gemacht, weil Pflegekräfte eine absolute Rarität sind. In der öffentlichen Verwaltung könnten in vielen Büros die Lichter ausgehen. Fast jeder vierte Schreibtischstuhl, so die Prognose, wird ab 2033 dort leer bleiben. Laufen wir also sehenden Auges ins Verderben?

Unternehmen sind gefordert

„Wir müssen unbedingt unser Arbeitskräftepotenzial heben“, zeigt Würdinger einen Rettungsweg auf. Frauen könnten von Teilzeit- in Vollzeitjobs wechseln. „Das muss sich aber zum einen für sie finanziell lohnen und zum anderen müssen sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen können.“ Hier sieht der Agenturchef die Betriebe gefordert, entsprechende Angebote zu machen. Und die müssen auch aufgeschlossen dafür sein, ältere Beschäftigte zu halten, sie gegebenenfalls für neue Produktionsprozesse weiterzuqualifizieren oder umzuschulen.

Einsatz von moderner Technologie

Potenzial sieht der Agenturchef zudem bei den Berufsanfängern. „Es gibt immer noch Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz haben, oder ihre Ausbildung abgebrochen haben.“ Er würde sich einen noch intensiveren Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft wünschen. Würdinger plädiert für einen stärkeren Einsatz innovativer Technologien in den Unternehmen, wie etwa die Künstliche Intelligenz. Und schlussendlich würde natürlich der Zuzug von ausländischen Arbeitskräften der Wirtschaft weiterhelfen. „Aber es muss eine faire Migration sein“, unterstreicht der Agenturchef. Mittlerweile würden Geschäftemacher in den Herkunftsländern der Jobsuchenden versuchen, mit dem Vermitteln von Arbeitskräften Kasse zu machen.

Drei Fragen an Professor Michael Berlemann

Professor Michael Berlemann. Foto: HWWI

Welche (alternativen) Lösungsansätze sehen Sie, um der Arbeitskräfteknappheit zu begegnen? 

Michael Berlemann: Grundsätzlich löst der Arbeitsmarkt eine Überschussnachfrage durch Lohnerhöhungen aus. Mit steigenden Löhnen steigt das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage nimmt ab, sodass sich ein Gleichgewicht einstellt. Genau dies wird auch geschehen. Allerdings ändert dies nichts daran, dass wir Wachstumseinbußen haben werden, wenn die Zahl der beschäftigten Arbeitskräfte zurückgeht. Der Sachverständigenrat hat in seinem letzten Gutachten argumentiert, dass die Knappheit an Arbeitskräften in Deutschland das größte strukturelle Wachstumsdefizit der Zukunft darstellen wird. Um das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen, gibt es folgende Ansätze: (a) Erhöhung des Renteneintrittsalters, (b) Erhöhung der Erwerbsbeteiligungsquoten von Frauen und älteren Personen und (c) Zuwanderung.

Empirische Studien zeigen, dass alle drei Ansätze helfen, das Problem aber nur lindern anstatt lösen können. Erhöhte Geburtenquoten können politisch kaum erzeugt werden und helfen auch erst sehr langfristig. Das größte Potenzial bietet die Digitalisierung und die Automatisierung. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass in vielen Branchen bereits heute ein großes Automatisierungspotenzial besteht, dieses müsste konsequent genutzt werden. AI („Artificial Intelligence“, Anmerkung der Redaktion) wird dieses Potenzial zudem noch weiter steigern.

Gibt es dabei Hemmnisse, wie zum Beispiel die Bürokratie oder die aktuelle Gesetzeslage, die es erst noch zu überwinden gilt?

Berlemann: Bürokratie ist immer ein Hindernis, weil sie Kosten erzeugt und Zeit kostet, sie spielt hier jetzt aber in diesem Kontext keine besondere Rolle. Es wäre aber hilfreich, wenn die Gesetzeslage so verändert würde, dass moderne AI bei uns möglichst effektiv eingesetzt werden kann – Stichwort sinnvolle Regulierung des Datenschutzes.

Wohin würde die wirtschaftliche Reise gehen, wenn man das Problem tatsächlich nicht in den Griff bekommen sollte? 

Berlemann: Dann wird das in Deutschland erzielbare Wachstum in der Zukunft sehr überschaubar sein. Schon derzeit liegt das Potenzialwachstum in Deutschland bei nur noch etwa 0,5 Prozent.

Michael Berlemann (56) ist wissenschaftlicher Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Politische Ökonomik und Empirische Wirtschaftsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg.

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