Ausgerechnet Neuers Patzer: Wie Kahn im WM-Finale gegen Brasilien bringt er Bayern in Madrid auf die Verliererstraße

Madrid. Hängende Köpfe nicht nur bei den Bayern Fan-Clubs der Oberpfalz: Wie beim Finale 1999 gegen Manchester führen die Münchener bis zur 88. Minute. Innerhalb von vier Minuten dreht Real das Spiel – ausgerechnet nach einem Patzer des besten FCB-Spielers.

Szenen eines Bayern-Dramas im CL-Halbfinale bei Real Madrid: Jubelnde Madrilenen, hadernde Bayern, verletzter Serge Gnabry, entnervter Mauel Neuer, tobender Thomas Tuchel. Collage: jrh

Ein Spiel, in dem die – für Bayern-Verhältnisse – ganze verkorkste Saison der Münchener kulminiert: Das Verletzungspech des FC Bayern zieht sich auch durch das Halbfinale bei Real. „Serge Gnabry wird in Madrid ein Tor schießen“, hatte Trainer-Missverständnis Thomas Tuchel geunkt.

Tatsächlich sitzt die Bayern-Hoffnung nach einer knappen halben Stunde mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden – Auswechslung statt der berühmten Chefkoch-Löffel nach Torjubel. Der verletzungsanfällige Offensivkünstler muss raus. Für ihn kommt ausgerechnet der zuletzt umstrittene Alphonso Davies, der zu Real wechseln will.

Bayern zu viel unter Druck

Im ausverkauften Hexenkessel des Estadio Santiago Bernabéu sieht man eine Münchener Mannschaft, die wie so oft in dieser Saison nicht die PS auf den Rasen bekommt, die eigentlich in dieser Mannschaft schlummern. Sané ist anders als im Hinspiel, als seine genialen Momente kurzzeitig das Momentum auf die Seite der Bayern zogen, nur ein Schatten seiner selbst. Im Zweifel dreht der schnelle Stürmer ab, weil abermals die letzten 10 Prozent über den Durst fehlen.

Knipser Harry Kane hat ein, zwei starke Szenen, ist aber weitgehend abgemeldet. Jamal Musiala und Aleksandar Pavlović spielen solide, aber unter ihren Möglichkeiten. So überlassen die Münchener über weite Phasen den Madrilenen das Zepter, müssen dem Druck von Toni Kroos, Jude Bellingham, Rodrygo und Vinícius Junior standhalten – was lange dank eines glänzend parierenden Manuel Neuer im Kasten der Bayern auch gelingt.

Ausgerechnet Davies

Und dann straft Davies seine Kritiker Lügen: Kane mit dem langen Ball auf den Kanadier, der zieht wie Robben in die Mitte, schlägt einen Haken um Rüdiger und schlenzt die Kugel aus 14 Metern halbhoch knapp neben den langen Pfosten ins Netz, 0:1 (68.). Bayern darf von der Neuauflage des Champions-League-Finales 2013 gegen den BVB träumen. Der deutsche Fußball scheint im Jahr der Heim-EM rehabilitiert – und Thomas Tuchel wäre der erfolgreichste Trainer-Fail der Bayern-Geschichte.

Als dann auch noch postwendende der vermeintliche Real-Ausgleich vom fehlerlosen polnischen Schiedsrichter Szymon Marciniak nach Video-Beweis zurückgenommen wird, scheinen sich die Szenen vom Vortag zu gleichen: Will der Fußballgott das deutsch-deutsche Finale – ist der Bayern-Dusel zurück und toppt vielleicht sogar den Massel der Dortmunder, die trotz vier Lattenkracher der Pariser die Null halten konnten?

Vinícius‘ Schüsschen bringt die Wende

Pustekuchen: Während Pavlović am Spielfeldrand behandelt wird, nutzt Vinícius Junior den frei gewordenen Platz halblinks am Strafraum, zieht mit rechts ab – ein Schüsschen, mehr nicht, normalerweise sichere Beute für einen wie Neuer. Nicht an diesem verfluchten Mittwochabend – er lässt die Kugel prallen, Joselu drückt sie über die Linie, 1:1 (88.).

Der nächste Schock vier Minuten später: Rüdiger verlängert die Ecke des kurz zuvor eingewechselten Luka Modrić an den Fünfer, wo erneut Joselu mutterseelenallein das Ding über die Linie drückt – der Linienrichter wedelt mit der Fahne, kollektives Aufatmen bei den Münchenern. Von wegen: erneut wird die Szene überprüft, kein Abseits, das Tor zählt, 2:1 (90+2.). Wie im Hinspiel bringt ein Standard des 38-jährigen Kroaten den späten Tiefschlag.

Schluss mit Bayerns letzter Titel-Hoffnung

Die Bayern jetzt außer Rand und Band, hektisches Anlaufen, der völlig frustrierte Tuchel tobt, die Madrilenen ziehen jedes denkbare Zeitspiel – und dann ist tatsächlich noch das Happyend zum Greifen nah: de Ligt versenkt den Ball nach Kopfballvorlage von Müller, doch der Schiedsrichter pfeift die Szene ab, anstatt sie erst laufen und dann prüfen zu lassen – der ganze Bayern-Frust entlädt sich jetzt, Tuchel sieht noch einmal eine völlig überflüssige Gelbe Karte.

Verletzungspech, uninspirierte Bayern zur Unzeit, fragwürdige Wechsel und eine taktische Umstellung vor den Ausgleich, als Kane für den Schlussspurt fehlt und der eingewechselte Kim per Kopfball an die Latte noch die beste, wenn auch zurückgepfiffene Chance hat – pars pro toto wiederholen sich hier die Bayern-Fehler der vergangenen Monate. Dann ist Schluss. Schluss mit Bayerns letzter Hoffnung, mit Tuchels letzter Chance, als Triumphator München zu verlassen, Schluss mit der Hoffnung, eine verkorkste Saison mit einem Geniestreich zu vergolden.

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