Porträt: Lorenz Zitzmann wird heute 96 – Schlotfeger im KZ Flossenbürg

Flossenbürg/Eschenbach. Der aus Weiden stammende Autor Thilo Komma-Pöllath hat die wahre Geschichte eines Kaminkehrers recherchiert, der als 15-jähriger Lehrling im KZ-Flossenbürg gekehrt hat. Am heutigen Freitag wird Lorenz Zitzmann, 96 Jahre alt.

KZ Flossenbürg Historisch Lorenz Zitzmann
Am Freitag feiert der ehemalige Bezirkskaminkehrermeister Lorenz Zitzmann seinen 96. Geburtstag. Foto: Robert Dotzauer

Von Thilo Komma-Pöllath

Wenn Lorenz Zitzmann von seinem Beruf erzählt, den er ziemlich genau 50 Jahre ausgeübt hat, ein halbes Jahrhundert also, dann bekommt man als Zuhörer schnell ein beklemmendes Gefühl. Seine Worte werden Bilder und man sieht ihn vor sich, wie er als junger Mann mit Stoßbesen und Schultereisen in die engen, verrußten Kamine der Häuser einsteigt und in den engen Schächten mit seinen Ellenbogen und den stark profilierten Stiefelen innen halt findet, nach oben klettert.

„Platz- und Höhenangst hast nicht haben dürfen, wenn du ein Schlotfeger sein wolltest“, erzählt Lorenz, „und am Ende wurde man immer dunkelschwarz“. Es gibt ein paar wenige Bilder von ihm, wie er als junger Mann in den Nachkriegsjahren in einer weißen Oberpfälzer Schneelandschaft steht, der Kontrast zu seinem traditionellen schwarzen Kehranzug und dem verrußten Gesicht könnte kaum größer sein.

Mit 15 Jahren die erste Lehrstelle angetreten

Am 29. September 2023 wird der Bezirkskaminkehrermeister Lorenz Zitzmann aus Waldthurn, Jahrgang 1927, 96 Jahre alt. In seinem Leben verdichtet sich wie in einem Brennglas deutsche Geschichte und das dunkelste Kapitel bundesdeutscher Vergangenheit. Und trotz Krieg, Leid und Gräuel ist das gelingende Leben des Lorenz Zitzmann am Ende eine beispielhafte Geschichte der Versöhnung und des Glücks.

Es war der 1. Oktober 1942, als der 15-jährige Lorenz seine erste Lehrstelle bei Bezirkskaminkehrer Karl Wührer in Waldthurn antrat. So ist es in seinem Arbeitsbuch des Deutschen Reichs nachzulesen. Im März ´42 hatte er mit der 8. Klasse seine „Volksschulpflicht“ in Waldthurn erfüllt und ein „Entlassungszeugnis“ erhalten. Drei Wochen später trat Lorenz sein erstes Beschäftigungsverhältnis als landwirtschaftliche Hilfskraft auf dem Bauernhof seiner Großeltern Margarete und Johann im Weiler Brünst in der Gemeinde Georgenberg an.

Gern bei der Großmutter in Brünst bei Georgenberg

Die Großeltern waren Klein-Landwirte, hielten ein paar Kühe und Ziegen und bewirtschafteten Felder und Obstbäume. Gerade zu Oma Margarete hatte Lorenz ein enges Verhältnis. Immer wieder büxte er zu ihr auf den Bauernhof aus, wenn es Probleme gab. Lorenz war als „uneheliches Kind“ zur Welt gekommen, ausgerechnet die geliebte Oma Margarete war es, die gegen eine Heirat war. Sie mochte seinen Vater nicht, der in einem Sägewerk in Ottenrieth arbeitete. Als Lorenz zwei war, heirateten Josef und Maria dennoch, gründeten einen eigenen Hausstand und Lorenz bekam mit Hans noch einen sieben Jahre jüngeren Bruder.

Als Schlotfegerlehrling bekam Lorenz von seinem Lehrherr, Kaminkehrermeister Karl Wührer, fünf Reichsmark die Woche, Zahltag war immer samstags. Nach drei Tagen Einarbeitung mussten die drei Lehrlinge die anfallende Arbeit übernehmen, „während er sich eine schöne Zeit machte“. Und die Arbeit war anstrengend. Die oft stundenlangen Fußmärsche bei Sturm, Schnee und Kälte zu den abgelegenen Einöden des Kehrgebietes brachten Lorenz oft an den Rand der Erschöpfung.

“Redet mit niemandem, fasst nichts an.”

Wührer sei kein überzeugter Nazi gewesen, erinnert sich Lorenz Zitzmann, heute würde man von „Ausbeutung“ sprechen. Kaum angelernt hatte Wührer für Lorenz Zitzmann eine besondere Mission, die sich der Chef aus gutem Grund selbst lieber ersparen wollte. Alle vier Wochen mussten zwei Tage lang auch die Feuerstätten im nahen Konzentrationslager Flossenbürg gekehrt werden. Ein Job, den ausgerechnet Lorenz und die beiden anderen Lehrlinge übernehmen sollten, allesamt noch nicht volljährig. Etwas später war auch Lorenz´ drei Jahre jüngerer Cousin Hans Kaminkehrer im KZ Flossenbürg.

Als Karl Wührer die Jugendlichen das erste Mal auf ihre „besondere Aufgabe“ vorbereitete, spürte Lorenz, wie nervös der Meister wurde. „Tut was man euch sagt. Redet mit niemandem, fasst nichts an, lacht nicht!“ Vor jedem neuen Flossenbürg-Besuch wiederholte Wührer seine nervöse Ansprache beinahe im Wortlaut. Dazu gehörte auch die Geschichte über einen namenlosen Handwerker, der einem Häftling einmal ein gekochtes Ei von seiner mitgebrachten Brotzeit gegeben haben soll und danach von der SS durch die Mangel gedreht wurde. Er durfte dann nicht mehr im Lager arbeiten. „Also redet nicht mit den Untermenschen“, sagte Wührer einmal und er hatte sein Ziel erreicht: Lorenz und die Lehrlinge waren verängstigt und eingeschüchtert.

Überall Wachposten und Gebrüll

Und dann war es soweit, sein erster Besuch im KZ Flossenbürg im Herbst 1942. Es war kalt und Lorenz radelte in seinem schwarzen Kehranzug die neun Kilometer von Waldthurn nach Flossenbürg. Tags zuvor hatte er sich bei der Lagerverwaltung telefonisch namentlich angemeldet. „Das Lager war ein anderer Arbeitsplatz als jeder andere zuvor und danach“, erinnert sich Lorenz bei einem Rundgang über die heutige KZ-Gedenkstätte im November 2022.

Die penible Personenkontrolle am Tor, überall Wachposten, das Gebrüll und immer ein Aufseher, der ihn auf Schritt und Tritt bei der Arbeit begleitete, so dass er ständig unter Beobachtung stand. Erst später, als er oft genug da war und die Aufseher Lorenz persönlich kannten, ließen sie ihn auch mal allein durch das Lager zu den Feuerstätten marschieren. Einer der Wachposten verabschiedete sich gerne Richtung Casino und meinte nur: „Sag Bescheid, wenn du fertig bist!“

Im Krematorium mussten Häftlinge selbst kehren

Tatsächlich durfte Lehrling Lorenz das Gefangenenlanger im hinteren Bereich des KZ gar nicht betreten, sondern war ausschließlich für die Feuerstätten im davor liegenden Bereich der SS zuständig: Verwaltungs- und Funktionsgebäude, Küche, Casino oder die Wohnhäuser der SS-Leute am Rande des Lagers. Das war großes Glück für Lorenz. Für das Krematorium von Flossenbürg, in dem Tausende Gefangene verbrannt wurden, war ein Sonderkommando aus Häftlingen zuständig. Insgesamt wurden in Flossenburg rund 30.000 Menschen ermordet.

Aber auch so sah Lorenz mehr als einem 15-Jährigen gut tat. „Zaundürre Menschen aus Haut und Knochen und Pickel in der Hand, die im Steinbruch arbeiten mussten“, erinnert sich Lorenz. Einmal habe er gesehen, wie auf dem Appellplatz ein Mann mit am Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt wurde. Immer wieder habe er beobachten können, wie Häftlinge geschlagen und unmenschlich behandelt wurden. „Als ich das erste Mal vom Lager zurückkam, war ich schockiert“, erzählt Lorenz ziemlich genau 80 Jahre danach.

Die Alpträume kamen erst Jahre danach

Der 15-jährige erzählte seiner Mutter Maria von dem, was er gesehen hatte, die von dem Tag an Angst um ihren Sohn bekam, wenn er nach Flossenbürg musste. Lorenz glaubt, dass seine Mutter von ihm erfahren habe, was in Flossenbürg wirklich vor sich ging. Sein Chef Wührer fragte immer mal wieder nach, ob die Arbeit in Flossenbürg „auszuhalten“ sei. Lorenz wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Nach dem ersten Schock versuchte der 15-jährige Lehrling die Arbeit im KZ nicht zu nah an sich heranzulassen.

„Mich hat das Lager nach dem Krieg mehr berührt als zu der Zeit, als ich da gearbeitet habe“, erinnert sich Lorenz. „Nach dem Krieg habe ich immer wieder vom Lager geträumt. Damals hat man sich nichts getraut, man hatte Angst, dass man seine Arbeit verliert, dass man selbst eingesperrt wird. Der Druck auf uns war gewaltig.“ Lorenz nennt es den „Hitlerdruck“.

“Wir wussten es, wir wollten es halt nicht wissen”

Dass man in Flossenbürg und im ganzen Landkreis jahrzehntelang so tat als hätte man von nichts gewusst, hält Lorenz für eine „Lüge“. Als Beispiel nennt er die regelmäßigen Gefangenentransporte durch den Ort und die täglichen Logistiktransporte mit Flugzeugteilen vom KZ zum Bahnhof Flossenbürg. Die Messerschmidt Me 109, das meistgebaute Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg, wurde zu großen Teilen in Flossenbürg gebaut. Er ist davon überzeigt, dass es in Flossenbürg genug Menschen gab, die ganz genau wussten, was der Rauch über der Stadt zu bedeuten hatte.

Als 15-Jähriger schnappte er einen Satz von Anwohnern im tiefsten Oberpfälzer Dialekt auf, den er bis heute nicht mehr vergessen hat: „Heit rauchts Schleidl wiada“ – zu Deutsch: „Heute raucht der Schlot wieder“. Gemeint war der Schlot des Krematoriums von Flossenbürg. Lorenz glaubt: „Ein Großteil der Bevölkerung wusste Bescheid. Wir wussten es, wir wollten es halt nicht wissen!“

Noch mit 15 an die Front eingezogen

Ein dreiviertel Jahr nach Beginn seiner Lehrlingsausbildung, im August 1943, bekam Lorenz seinen Marschbefehl. Lorenz glaubt heute, hätte er seinem Chef seinen Einrückungsbescheid gezeigt, hätte er ihn aufgrund seines Alters – einen Monat vor seinem 16. Geburtstag – und weil er ihn nicht als wertvolle Arbeitskraft verlieren wollte, zurückstellen lassen können. Er sei, sagt Lorenz, damals gar nicht auf die Idee gekommen, denn schließlich seien wir alle so erzogen worden, „dass wir es als unsere patriotische Aufgabe verstehen in den Krieg zu ziehen“.

Mit sechs Jahren sei er als Trommler zum „Jungvolk“ gekommen, mit eigener Uniform, mit Appell und Geländespielen, die nichts anderes gewesen seien als „Kriegsimitationen“, so Lorenz. An der Volksschule in Waldthurn gab es regelmäßig „Uniformwoche“, in der jeder Schüler in Uniform in die Schule kommen musste. Einmal habe er gesehen, wie ein katholischer Ministrant sich weigerte Uniform zu tragen und daraufhin von einem Nazi-Lehrer verprügelt wurde. „Der Nachweis von Integrität durch Uniformierung“, das sei das Erziehungsmittel gewesen, sagt Lorenz. Und immer wieder dieser „Hitlerdruck“.

An seinem letzten Arbeitstag nahm Meister Wührer Lehrling Lorenz mit ins Wirtshaus. Zu dessen Ausstand bestellte er zwei Bier, als zufällig ein Polizist die Gaststätte betrat. Als er Lorenz vor dem Bier sitzen sah, fing er unmittelbar ein lautes Gebrüll an, wie es denn sein könne, dass man schon einem Kind ein Bier zu trinken gebe, dann zerrte er Lorenz aus der Kneipe.

Bei Ardennenoffensive verwundet

Bereits am nächsten Morgen ging sein Zug zum Arbeitsdienst. Jetzt begann für Lorenz der Krieg. Im Zug waren etwa 50 weitere Jugendliche, die in Österreich und der Tschechoslowakei – genauer in Slany bei Prag – für ihren Einsatz an der Front vorbereitet werden sollten. „Was vor allem hieß: gehorchen und schießen lernen“, erinnert sich Lorenz. Alle Kameraden seien bis aufs Blut gequält worden, diejenigen, die geweint haben, wurden aussortiert. Für Lorenz war überraschenderweise diese unmittelbare Zeit vor seinem Kriegseinsatz „die schlimmste Zeit meines Lebens“.

Nach zwei Tagen Heimaturlaub in Waldthurn wurde Lorenz mit seiner 100-Mann starken Einheit in den Zweiten Weltkrieg geschickt. Stationiert im Osten von Belgien war das Ziel die Rückeroberung des Hafens von Antwerpen. Die sogenannte „Ardennenoffensive“ war die letzte große Offensive der Wehrmacht, um die drohende Niederlage doch noch abzuwenden. Viele Kameraden fallen, seine Einheit wird immer weiter zurückgedrängt, am Ende bis kurz vor den Bodensee.

Schädel-Hirn-Trauma nach Bombenangriff

Im Februar 1945 wird er mit einem Schädel-Hirn-Trauma in Folge eines Bombenangriffs ins Lazarett eingeliefert. Nach gut drei Monaten, genau am 19. Mai 1945, wird Lorenz wegen der Auflösung des Lazaretts entlassen. Und weiter: „Laut Anordnung des zuständigen amerikanischen Military Government in Kaufbeuren erfolgt die Entlassung in den Landkreis Markt-Oberdorf zum Einsatz in die Landwirtschaft“. Lorenz erinnert sich an einen „eingezäunten Acker“, auf dem er seinen Arbeitsdienst in Gefangenschaft ableisten musste. Bereits eineinhalb Monate später, genau am 4. Juli 1945, kehrt Lorenz nach Hause zu seiner Familie nach Waldthurn zurück.

Sein Vater Josef, der bereits 1939 mit 34 Jahren einberufen worden war und seinen Kriegsdienst in Brest und Bordeaux bei der Flugabwehr ableistete, war kurz vor ihm unverletzt aus der US-Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Im Juli 1945 ist die Familie in Waldthurn wieder vereint. Die schnelle Rückkehr aus der Gefangenschaft belegt auch, was Lorenz Zitzmann heute bestätigt. Bis auf Onkel Hans, dem jüngsten Bruder seines Vaters, der im Krieg ein Bein verlor, gab es in seiner Familie keine überzeugten Nationalsozialisten.

Im Gegenteil, sein Vater Josef sei unpolitisch gewesen, im Kreise der Familie habe man sich oft über Hitler lustig gemacht, sagt Lorenz. Aber das blieb eben privat, auch weil man wusste, was passieren würde, wenn es sich bei den NSDAP-Kapos im Dorf herumsprach. Ein Nachbar der Eltern, der im örtlichen Wirtshaus gerne mal über Adolf Hitler geschimpft hatte, war eines Tages von der Polizei abgeholt worden, erzählt Lorenz eine Geschichte, die ihm wiederum sein Vater erzählt hat. Ein Vierteljahr fehlte von ihm jede Spur. Als er wieder im Wirtshaus auftauchte, war er ein anderer, er sprach kein Wort mehr. Es hieß, er sei in Flossenbürg gewesen.

Freundschaft zu französischem Kriegsgefangenen

Eine andere Geschichte, die außerhalb der Familie Zitzmann nur die wenigsten kennen, zeigt, dass selbst in Zeiten des Krieges und der allgegenwärtigen Verrohung auch große Mitmenschlichkeit möglich sind. Die Geschichte beginnt Juni 1940, knapp drei Jahre bevor Lorenz an die Front muss. In diesem zweiten Kriegsjahr wird Lorenz‘ Großeltern Margarete und Johann ein französischer Kriegsgefangener zur Zwangsarbeit für den Bauernhof in Brünst zugewiesen. Seine Name: Laurent. Ein französischer Lorenz also.

Wenn Laurent draußen auf den Feldern arbeitet, soll Lorenz, damals 13 Jahre alt, auf ihn aufpassen. Laurent, Mitte 20, ein hübscher Kerl mit schwarzen Haaren und braunem Teint, er arbeitet eifrig. Beim Essen sitzt er von Anfang an am Familientisch, schon bald wurde er wie ein weiteres Familienmitglied behandelt, erinnert sich Lorenz, der sich mit Laurent anfreundet. Die beiden verbringen viel Zeit zusammen und sie bringen sich gegenseitig ihre Muttersprache bei, Laurent versteht am Ende sogar den harten Dialekt und er liebt die deftige Oberpfälzer Küche. Offiziell bleibt Laurent bis Kriegsende im Mai 1945 in „Gefangenschaft“, in Wahrheit wird der Bauernhof in Brünst für ihn zum lebensrettenden Versteck.

Lorenz und Laurent, die der Krieg zusammen geführt hat, bleiben ein Leben lang enge Freunde. Die Familien besuchen sich wechselseitig, wann immer Lorenz zu Laurent nach Hyeres bei Toulon fährt, räumt dieser sein Schlafzimmer frei für seinen Ehrengast aus Waldthurn. 1996 stirbt Laurent nicht als Feind aus dem Krieg, sondern als enger Freund der Familie.

Später Bezirkskaminkehrermeister in Eschenbach

Lorenz Zitzmann kehrt am 23. Juli 1945, rund drei Wochen nach seiner Kriegsheimkehr, in sein richtiges Leben zurück. 1947 unterzeichnet er nach seiner Ausbildung seinen ersten Arbeitsvertrag als Geselle bei einem Bezirkskaminkehrermeister in Vohenstrauß. 1967 übernimmt er als Meister den Kehrbezirk Kirchenthumbach, 1973 wird er Bezirkskaminkehrermeister im Landkreis Eschenbach und bleibt es bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992.

In dieser Zeit ist er wieder für ein Lager zuständig, diesmal ist es die Base der U.S. Army in Grafenwöhr, Befreier des KZ Flossenbürg. Die Erlebnisse im Krieg haben Lorenz Zitzmann politisch geprägt. In den 1970er und 1980er Jahren sitzt er für die SPD 12 Jahre lang im Stadtrat von Eschenbach, ein halbes Jahr lang auch als Fraktionsvorsitzender. Das soziale Miteinander ist für ihn ein wichtiges Anliegen. Lorenz leitet den örtlichen Feuerwehrverein, ist Vorstand im Sportclub Eschenbach und bringt es als Kleintierzüchter zum urkundlich beglaubigten „Meister der Bayerischen Rassegeflügelzucht“.

Mit drei Töchtern gesegnet

1952, mit 25 Jahren, heiratet er Erika Knechtel, die Liebe seines Lebens. Sie bekommen drei Töchter Erika, geb. 1952, Ingrid, geb. 1955 und Christine, geb. 1959. Ausgerechnet die jüngste Christine stirbt 2012 an Krebs, 2019 nach 67 Ehejahren auch seine Frau Erika. Heute lebt Lorenz mit 96 Jahren in einem Seniorenheim in Eschenbach und ist immer noch erstaunlich fit.

Wenn Ingrid und Erika ihn besuchen, bringen sie ihm Sahnetorte mit, die er gerne isst. Bier trinkt er noch selten, er verträgt es nicht mehr. Und dann muss er an sein allererstes Bier denken, das er auch schon nicht trinken durfte. Damals im August 1943, als er mit 15 Jahren von einem Nazi in Waldthurn hochkant aus dem Wirtshaus geschmissen wurde. Es ist die große Idiotie seines Lebens, die er heute mit einem gequälten Lächeln quittiert. Lorenz sagt: „Bier trinken hab ich net dürfen, Leut‘ totschießen scho.”

Ein Klassenbild aus der Volksschule Waldthurn. Lorenz ist hintere Reihe, Zweiter von links (er ist mit einem Kreuz markiert). Foto: privat
Ein Klassenbild aus der Volksschule Waldthurn. Lorenz ist hintere Reihe, Zweiter von links (er ist mit einem Kreuz markiert). Foto: privat
Lorenz Zitzmann als Kaminkehrer. Foto: privat
Lorenz Zitzmann als Kaminkehrer. Foto: privat
Lorenz Zitzmann im Alter von 15 Jahren als Soldat. Foto: privat
Lorenz Zitzmann im Alter von 15 Jahren als Soldat. Foto: privat
Das Elternhaus in der Bahnhofstraße in Waldthurn. Foto: privat
Das Elternhaus in der Bahnhofstraße in Waldthurn. Foto: privat
Die Freundschaft zum belgischen Kriegsgefangenen Laurent hielt Jahrzehnte. Lorenz (Zweiter von rechts) mit Laurent (Zweiter von links). Ganz rechts Erika seine Frau, ganz links eine Nichte von Laurent. Foto: privat
Die Freundschaft zum belgischen Kriegsgefangenen Laurent hielt Jahrzehnte. Lorenz (Zweiter von rechts) mit Laurent (Zweiter von links). Ganz rechts Erika seine Frau, ganz links eine Nichte von Laurent. Foto: privat
 
Lorenz und Erika mit ihrer ersten Tochter Erika (Mitte) und Verwandtschaft aus Schwanhof. Foto: privat
Lorenz und Erika mit ihrer ersten Tochter Erika (Mitte) und Verwandtschaft aus Schwanhof. Foto: privat
Foto: privat
Foto: privat

Zum Autor: Thilo Komma-Pöllath

Thilo Komma-Pöllath betreibt in München das Redaktionsbüro KOMMA MEDIA (www.kommapoellath.de). Er hat beim Radiosender seiner Heimatstadt Weiden, Radio Ramasuri volontiert, danach an der LMU München Diplom-Journalistik und Politik studiert. Von 2000 bis 2006 war er stellvertretender Ressortleiter Sport/Reise bei BUNTE. Er schreibt heute für einige der angesehensten deutschen Magazine und Qualitätszeitungen wie Süddeutsche Zeitung Magazin, FAZ am Sonntag, WELT, Focus oder Stern. Daneben schreibt er Bücher (Die Akte Hoeneß, Aus Eigener Kraft, Die Notwendige Revolution) und bloggt auf www.eurosport.de. Sein Themenschwerpunkt konzentrierte sich zuletzt auf gesellschaftliche Missstände. Er war 2019 für den Deutschen Reporterpreis nominiert, 2008 erhielt er den Laureus Medien Preis.

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2 Kommentare

S.F. - 11.10.2023

Portrait Lorenz Zitzmann absolut gelungen und lesenswert ich wünsche ihn und seinen Schwestern noch viele Sahnetörtchen und vielleicht wenns die Gesundheit erlaubt ein Bierchen zwischendurch. Danke an Thilo K.P. so unterhaltsam kann Geschichte sein muss aber mit Herz und Verstand gelesen werden.

E.Schieder - 29.09.2023

Ein sehr berührender Artikel, der die Unmenschlichkeit des Nazi Régimes zeigt – Kindersoldaten, KZ, Angst, keine freie Meinungsäußerung… Der Artikel regt zum Nachdenken an und hoffentlich auch zu Diskussionen über derzeitige politische und gesellschaftliche Strömungen … Danke dafür.