ČSSR-Grenzsoldaten erschossen Johann Dick – Am Dienstag beginnt Prozess in Prag
Bärnau/Mähring. Vielen Oberpfälzern ist der Vorfall unvergessen: 1986 erschossen ČSSR-Grenzsoldaten den Wanderer Johann Dick aus Amberg. Sein Sohn Gerhard erinnert sich, als wäre es gestern gewesen: "Das war eine wahnsinnige Geschichte."
Der pensionierte Oberstleutnant befand sich am 18. September 1986 auf einem markierten Wanderweg kurz vor dem Forellenhof in Treppenstein. Er wurde von tschechoslowakischen Grenzwachen mit einem flüchtigen Polen verwechselt. Die Soldaten waren 200 Meter auf deutsches Staatsgebiet eingedrungen. Aus vier Kalaschnikows fielen mindestens 41 Schüsse. Dick erlitt einen Bauchschuss. Als die Grenzwachen ihre Verwechslung bemerkten (Dick hat einen Pass dabei), schleppten sie den Schwerstverletzten auf ČSSR-Gebiet. Der 59-Jährige starb auf dem Transport in ein tschechoslowakisches Krankenhaus.
Jetzt wird dieser Fall noch einmal aufgerollt. Am Dienstag, 25. April, beginnt in Prag der Prozess gegen Vratislav Vajnar (92), früherer Innenminister der Tschechoslowakei. In seine Amtszeit fallen die Tötung von Johann Dick sowie des DDR-Studenten Hartmut Tautz und des tschechischen Flüchtlings Frantisek Faktor. Vajnar ist der erste hochrangige Kommunist, der sich für Morde am Eisernen Vorhang verantworten muss.
Ermittlungen: Neue Erkenntnisse für Familie
Mit welchen Gefühlen blicken die Hinterbliebenen nach Prag? Sohn Gerhard Dick (73), pensionierter Gymnasiallehrer und Schriftsteller, lebt im Allgäu. Er wird von der „Platform of European Memory and Conscience“ über den Prozess auf dem Laufenden gehalten. Die Prager Organisation hatte 2017 die Ermittlungen gegen die politisch Verantwortlichen angestoßen („Justice 2.0“). Seither wird in mehreren Ländern ermittelt, auch bei der Staatsanwaltschaft Weiden.
„Ich hätte anfangs nicht gedacht, dass das so weite Kreise zieht“, sagt Gerhard Dick. Auch er hat durch die Recherchen noch Neues erfahren können. Eine Forschungsgruppe der Freien Universität Berlin recherchiert die Todesfälle am Eisernen Vorhang. Sie hat herausgefunden, dass der Fall Dick diplomatisch genutzt wurde. In der Prager Botschaft saß zu dieser Zeit die Ostdeutsche Manuela Mammonas fest, die man daraufhin anstandslos ausreisen ließ. Darüber wurde Stillschweigen vereinbart.
Ziel der Wanderung war völlig zufällig
Der 18. September 1986. Oberstleutnant a. D. Johann Dick, ehemals Standortältester in Amberg, macht sich am Morgen auf eine seiner vielen Wanderungen auf. „Vater war leutselig, hat mit jedem gesprochen. Er wollte immer und überall Land und Leute kennenlernen“, sagt der Sohn.
Um in seinem Ruhestand die Oberpfalz zu entdecken, hat der gebürtige Pfaffenhofener in eine große Messingvase Lose geschnitten. Dann zieht er selbst oder lässt andere ziehen, wohin die nächste Tour führen soll. An dem Tag greift er selbst ins Gefäß. „Es war wirklich dramatisch: Aber er hat sein Los gezogen.“ Die 9-Kilometer-Wanderung von Hermannsreuth bei Bärnau nach Treppenstein.
„Zwei Tage hatten wir keine Ahnung“
Für die Familie ist das Verschwinden des 59-Jährigen zunächst völlig unerklärlich. Ehefrau Dick ruft am Abend ihre erwachsenen Kinder an, zunehmend besorgt. Am nächsten Morgen schaltet die Familie die Polizei ein. Das Auto wird versperrt auf einem Parkplatz bei Hermannsreuth (Bärnau) gefunden. Vom Wanderer keine Spur. Gerhard Dick fährt selbst vor Ort. Eine telefonische Anfrage des westdeutschen Grenzbeauftragten beim ČSSR-Kollegen nach einer möglichen Festnahme verläuft ergebnislos.
„Zwei Tage hatten wir keine Ahnung.“ Am Folgetag wird der deutsche Botschafter ins Prager Außenministerium einbestellt und über das „bedauernswerte Ereignis“ informiert. Erst zwei Tage nach dem spurlosen Verschwinden erhält die Familie in Amberg die Nachricht vom Tod. Am 22. September 1986 wird am Grenzübergang Waidhaus der Leichnam übergeben. Das Entsetzen ist groß: Teile des Magens und des Rückgrats fehlen, die Rückschlüsse auf die Verletzungen zulassen würden.
Internationaler Aufschrei
Was folgte? Ein Aufschrei auf politischer Ebene. Bundeskanzler Helmut Kohl fordert in der Sitzung des Bundeskabinetts eine deutliche Reaktion. Außenminister Hans-Friedrich Genscher trifft am Rande einer UNO-Vollversammlung in New York seinen tschechoslowakischen Amtskollegen. Die Begrüßung erfolgt ohne Handschlag. Das etwa halbstündige Gespräch dreht sich fast ausschließlich um den Grenzzwischenfall. Genscher fordert die sofortige Einstellung von Schusswaffengebrauch an der Grenze.
Der Deutsche Bundestag befasst sich in einer Aktuellen Stunde mit dem Todesfall. Joschka Fischer sagt damals: „Kein Staat in der Welt hat nach unserer festen Überzeugung das Recht, Menschen mit Waffengewalt am Verlassen eines Landes zu hindern. Kein Staat hat das Recht, auf Menschen zu schießen, egal, ob es Bürger des eigenen oder des fremden Landes sind, erst recht nicht, wenn dies auf anderem Territorium geschieht.“
Gerhard Dick steht 1986 in Kontakt mit dem tschechoslowakischen Botschafter in Bonn. Seiner Bitte, mit jemandem sprechen zu dürfen, der den Krankentransport begleitet hat, wird nicht entsprochen. Der Botschafter schreibt: „Die ganze Zeit bis zu seinem Tod war Ihr Vater in tiefer Bewusstlosigkeit.“ Johann Dick habe nichts mehr gesagt. Botschafter Dusan Spacil versichert der Familie, „dass ich diesen Fall zutiefst bedauere und Ihren menschlichen Gram verstehe“.
200 Meter auf deutschem Gebiet
Heute ist sehr genau bekannt, was am 18. September 1986 wirklich passiert ist. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ermittelte die Staatsanwaltschaft Weiden mit Leitendem Oberstaatsanwalt Lutz Höbold. Das Ergebnis passt auf ein DIN-A4-Blatt: Johann Dick befand sich gegen 13 Uhr auf einem markierten Wanderweg wenige hundert Meter vor seinem Ausflugsziel, dem Forellenhof. Zeitgleich verfolgten Soldaten der Grenzwache zwei fliehende Polen in Richtung Mähring.
Bei der Verfolgung überschritten mindestens vier Grenzsoldaten die Grenze und waren bis zu 200 Meter in deutsches Gebiet eingedrungen. Dabei gaben sie aus Kalaschnikow-Maschinenpistolen insgesamt 41 Schüsse ab. „Dick, den die Soldaten offenbar für den geflüchteten Polen hielten, wurde von einem gezielten Schuss von hinten getroffen und schwer verletzt.“ Er starb an einem Bauchschuss.
Die Familie hat den Vater nie vergessen. „Die ersten Jahre waren sehr hart für meine Mutter.“ Bis heute hat man eine Glückwunschkarte aufgehoben, die Johann Dick kurz vor seinem Tod der Enkelin geschrieben hatte. Er gratuliert ihr darin zum 5. Geburtstag. Der Oberstleutnant hatte die Postkarte vorab verschickt, weil er eine Wandertour nach Südtirol plante und zum Geburtstag des Mädchens nicht da gewesen wäre. Als die Karte ankam, war Johann Dick tot.
Bisher erschienene Artikel über den Prozess in Prag.
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