18 weitere Stolpersteine verlegt: Angehörige aus aller Welt in Weiden
Weiden. In der Altstadt sind am Dienstag 18 weitere Stolpersteine verlegt worden. Sie erinnern an im Holocaust ermordete Juden aus Weiden. Zur Verlegung waren Angehörige aus aller Welt angereist.
Eine achtköpfige Gruppe kommt aus Frankreich: Enkel, Urenkel und Ururenkel von Rosa und Karl Kohner aus der Sedanstraße 8. Aus Israel, Kanada und Großbritannien sind die Enkel und Urenkel von Johanna Boscowitz eingetroffen, Frau des früheren Schuhfabrikanten in der Max-Reger-Straße 18 (heute City-Center). Sie alle haben sich dieser Tage in Hotels der Altstadt einquartiert.
Für alle ist es ein wichtiger Tag, für den sie keine Mühen gescheut haben. Enkel Allan Pinkus, emeritierter Mathematik-Professor aus Haifa, musste über Prag fliegen, um überhaupt zur Zeremonie nach Deutschland kommen zu können. Die Lufthansa hat angesichts des Kriegs den Luftverkehr nach Israel eingestellt. Der 78-Jährige und seine Familie gehen aktuell jeden zweiten Tag in den Luftschutzkeller: Raketenalarm. Er klopft sich an die Stirn. Toi, toi, toi, bisher ging alles gut.
Ihre Vorfahren kannten sich
In Weiden treffen sie alle aufeinander: Marc, Noëlle, Pierre, Nolwenn und Allan, Judi, Deena… Völlig wildfremde Familien aus verschiedenen Kontinenten. Verrückt eigentlich. Denn, so ist sich Allan Pinkus sicher: Ihre Vorfahren kannten sich. Die Jüdische Gemeinde umfasste 1933 etwa 200 Personen in 40 Familien. Ohnehin war Weiden viel kleiner als heute (etwa 22.000 Einwohner).
Elftklässler des Kepler-Gymnasiums Weiden, begleitet von Lehrer Tobias Wagner und Direktor Alexander Wildgans, erinnern an die Schicksale der Familien Boscowitz-Rebitzer und Kohner. „Vor vier Monaten standen wir vor den Toren Auschwitzs“, sagt Schüler Cristiano Goncalves an eine Klassenfahrt. Die Dimension des Leids und der Verbrechen sei ihnen dabei bewusst geworden. Die Schüler verlegen am Dienstag die Stolpersteine für die Weidener Opfer selbst: „Wir sind dankbar, diese Ehre zu erhalten.“
In ihren Beiträgen schildern die Jugendlichen den Horror der Reichspogromnacht für die Juden in Weiden. Die erste Inhaftierungswelle ins KZ Dachau. Die letzten Deportationen in Vernichtungslager 1942. In den Familien Kohner und Boscowitz gibt es nur deshalb Überlebende, weil einige Kinder rechtzeitig auswandern konnten. Andere jüdische Familien in Weiden wurden komplett ausgelöscht.
Jede Familie mit dramatischer Geschichte
Sabine Boscowitz konnte mit 17 Jahren als Hausmädchen nach England emigrieren, sie heiratete nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada. Die Spur ihrer Mutter verliert sich im Transit-Ghetto Izbica. Der Vorfahre der Franzosen, Justin Kohner, war der jüngste Sohn aus dem Hause Kohner in der Sedanstraße 8. Er floh 1933 als 21-Jähriger nach Frankreich und schloss sich der Résistance an. 1945 war nur noch er am Leben; seine Eltern und Bruder Siegfried waren in Vernichtungslagern ermordet worden.
Für die französische Familie bringt der Besuch in Weiden viel Erkenntnis. Der wortkarge Justin hatte zu Lebzeiten wenig über seine Vergangenheit gesprochen. „Das war ein mutiger Mann“, weiß Historiker Dr. Sebastian Schott (Stadtarchiv Weiden). Justin Kohner stand als engagierter Sozialdemokrat früh auf der Liste der Nationalsozialisten.
Schott kennt die jüdische Geschichte der Stadt wie kein anderer. Er hat zum Thema promoviert, organisiert jetzt für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die Stolperstein-Verlegungen. Justin Kohner taufte die erste, in Frankreich geborene Tochter Rosette – analog seiner Mutter Rosa. Justins Tochter Noëlle Guérin legt am Dienstag rosa Rosen nieder. Ein letzter Gruß an die unbekannte Oma. Nolwenn Gouault liest einen Brief ihrer ermordeten Ur-Großtante Ernestine vor, den sie einen Tag vor der Deportation an ihre Nachbarin schrieb, ein Brief voll Sorge und Angst.
Einige Schülerprojekte gestartet
Das ist es, was nach Ansicht von Pfarrer Alfons Forster (Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit) die Stolpersteine ausmacht. Zum einen, dass sich Jugendliche für die Vergangenheit interessieren. Nicht nur die Kepler-Schüler engagieren sich. Auch die Sophie-Scholl-Realschule, die Pestalozzischule, Elly-Heuss-Gymnasium und Augustinus-Gymnasium haben sich in Schülerprojekten mit dem Thema beschäftigt. Zum anderen sind die Verlegungen eine Chance, den Kontakt zu Nachfahren wiederherzustellen und Wunden zu heilen.
Auch Bürgermeister Lothar Höher hält die Stolpersteine für wichtig und gut: „Wir erinnern uns an unsere Nachbarn, die ermordet wurden.“ Mittlerweile lebe die dritte Generation nach dem Krieg. „Die Gefahr ist groß, dass man vergisst.“
Stolpersteine in Weiden
An diesen Adressen liegen in Weiden Stolpersteine zum Gedenken an Opfer des Holocaust. Noch zehn sollen 2025 folgen – dann ist das Projekt komplett. 56 Weidener Juden wurden im Holocaust ermordet. An ihren letzten Wohnadressen erinnern kleine Bronzeplatten an ihren unnötigen Tod.
- Max-Reger-Straße 18:
- Johanna Boscowitz (Jahrgang 1886, deportiert 1942, Transit-Ghetto Izbica)
- Gustav Rebitzer (1870, deportiert 1942, Theresienstadt, ermordet 9. März 1943)
- Max-Reger-Straße 13:
- Erna Wilmersdörfer (1902, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet 4. März 1943)
- Selma Wilmersdörfer (1880, deportiert und ermordet)
- Walter Wilmersdörfer (1909, deportiert 1942 Ghetto Piaski, ermordet)
- Johannisstraße 17:
- Ernestine Kohner (1872, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet 21. März 1944),
- Sedanstraße 8:
- Karl Kohner (1875, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet 26. Februar 1943,
- Rosa Kohner (1880, deportiert 1942 Theresienstadt, 1944 Auschwitz ermordet),
- Siegfried Kohner (1898, Schutzhaft 1938 KZ Dachau, deportiert 1942 Majdanek, ermordet)
- Kettelerstraße 1:
- Meier Friedmann (1872, interniert 1941 Milbertshofen, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet 1943)
- Kettelerstraße 3:
- Elisabeth Kohner (1857, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet 10. 10. 1942), Irma Kohner (1900, deportiert 1942 Majdanek, ermordet), Adolf Kohner (1826, deportiert 1942, ermordet 30. 8. 1942)
- Kettelerstraße 11:
- Babette Lebrecht (1873, deportiert 1942 Theresienstadt, 1942 Treblinka ermordet)
- Pfannenstielgasse 8:
- Alfred Steiner (1889, deportiert Ghetto Tarnopol, ermordet November 1942),
- Wally Steiner (1888, deportiert 1942 Theresienstadt, 1942 Ghetto Baranowitzchi ermordet), Irma Spitz (1912, deportiert 1942 Maly Trostinec, ermordet),
- Ewald Oskar Schmidt (1912, verhaftet 1941 KZ Dachau, ermordet 28.4.1942)
- Unterer Markt 17:
- Paulina Steinhart (1884, Lager Trawniki 1942),
- Walter Steinhart (1880, KZ Auschwitz 1943)
- Obere Bachgasse 8:
- Emma Hutzler (1870, deportiert 1941, Riga-Jungfernhof),
- Selma Hutzler (1901),
- Betty Kahn (1928),
- Hannelore Kahn (1929),
- Therese Kahn (1904, alle verschollen im Transitghetto Izbica),
- Hugo Hutzler (1897),
- Julius Kahn (1896, beide „Schutzhaft“ 1938 KZ Dachau, Flucht England 1939, interniert in Camp Hay in Australien bis 1942).
- Luitpoldstraße 8 (ehem. Sedanstraße 20):
- Otto Hausmann (1891 – 1943), Rosa Hausmann (1901 – etwa 1942), Hermann Hausmann (1925 – etwa 1942),
- Wilhelm Hausmann (1927 – etwa 1942),
- Josef Engelmann (1874 – 1943)
- Wörthstraße 14:
- Hermann Fuld (1874, „Schutzhaft“ 1938 im KZ Dachau, erschossen am 15. November 1938 im KZ Dachau)
- Frauenrichter Straße 52:
- Eduard Kohner (1882, KZ Dachau 1942),
- Adelheid Kohner (1885, deportiert 1942, Majdanek), Luise Kohner (1922, deportiert 1942 Majdanek),
- Luise Kohner (1922 – etwa 1942)
- Bahnhofstraße 33:
- Johanna Rosenwald (1866, Theresienstadt 1944), Bertha Herrmann (1867, gedemütigt, entrechtet, tot 1941, Wien),
- Hermine „Mina“ Klein (1870, Treblinka 1942), Moritz Kupfer (1877, Mauthausen 1942),
- Dr. Karl Michael Kupfer (1878, Auschwitz 1943),
- Frieda Löwy (1880, Theresienstadt, 1942),
- Robert Kupfer (1883, Riga-Jungfernhof 1941),
- Rosa Woltär (1884, Lodz/Litzmannstadt 1941),
- Otto Kupfer (1873, Theresienstadt 1942),
- Ernst Eduard Kupfer (1905, Flucht 1933 Frankreich, mit Hilfe überlebt), Robert Charles Cooper (1906, Flucht 1937 USA).
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