„Der Klang des Glaubens“ (6): Barocke Satire und zisterziensischer Ernst in der Stiftsbibliothek
Waldsassen. Sie ist ein Gesamtkunstwerk des Barock, eine Schule der Selbsterkenntnis und ein Spiegel des klösterlichen Geistes: Im finalen Teil der Serie betreten wir die Stiftsbibliothek von Waldsassen.
Äbtissin Laetitia Fech schreitet voran und wir schleichen ehrfürchtig hinterher: In einen Raum, der mit kunstvoller Ironie, feinsinniger Frömmigkeit und überwältigender Bildsprache das Denken und Fühlen einer ganzen Epoche bündelt. Wer zwischen den vergoldeten Balustern steht, begreift: Wissen kann heiter sein – und Heiligkeit hat Humor.
Es ist, als öffne sich ein Vorhang zur Bühne einer geistigen Welt. Wir treten in die berühmte Stiftsbibliothek – jenen Saal, der 1724 bis 1746 unter Abt Eugen Schmid kunstvoll ausgebaut wurde. Die Stuckdecke, gestaltet vom italienischen Meister Jacopo Appiani, scheint sich in Bewegung zu setzen: Ein goldenes Band – das sogenannte Bandelwerk – schlängelt sich durch die Kuppel, umrahmt von Engeln, exotischen Tieren, Drachen, Greifen und Sphingen, die wie im barocken Theater auf ihren Auftritt lauern.
Hinter zart gehaltenen Kulissen schweben die vier Deckengemälde, in deren Zentrum stets der hl. Bernhard von Clairvaux erscheint – Ordensheiliger, Reformgeist und Mystiker. Sie bilden einen ikonografischen Leitfaden durch das Denken der Zisterzienser: klare Linien statt barocker Überfülle, spirituelle Tiefe statt weltlicher Glorie.
Die Weisheit in Schnitzholz
Und dann senkt sich der Blick – auf das wohl einzigartigste Element dieses Raums: Zehn lebensgroße Holzfiguren scheinen die hölzerne Galerie zu tragen. In Wahrheit tragen sie die Last menschlicher Schwächen. Der Waldsassener Schnitzkünstler Karl Stilp, auch verantwortlich für das gesamte plastische Programm der Bibliothek, meißelte hier eine Satire auf die sieben Todsünden – ergänzt um Ignoranz, Eigenbrötelei und Neugier. Nicht als moralisierende Drohgebärden, sondern als fein karikierte Spiegelbilder unserer selbst.
Oben an der Decke das Weinmännlein, das trunken vor Lust zum Genießen taumelt, gegenüber das Biermännlein, das sich tief in die Maß versenkt hat. Dazwischen ein Pfeifenraucher, ein Gaukler, ein Trompeter – Allegorien eines Alltags, der zwischen Hochmut und Heiterkeit pendelt.
Der Narr mit Eselsmütze
Eine der prägnantesten Figuren empfängt uns gleich am Eingang: Ein Mann mit zerschlissener Kleidung, auf dem Kopf eine Eselsmütze, den Leib umhüllt von Eselsleder. Sein pockennarbiges Gesicht blickt trotzig zur Seite – Faulheit und Dummheit verkörpert er, mit drastischem Humor geschnitzt. Ihm gegenüber: ein zorniger Mann, mit geballter Faust und verzerrtem Gesicht – Auflehnung pur, und, so sagt man, ein Selbstporträt Stilps.
Neben ihm: ein verschlafener Einsiedler mit Mäusen im Bart, die Körner in sein wirres Haar schleppen – Eigenbrötelei in Reinkultur. Oder jener Hoffärtige, der ein Löwenfell trägt, als wäre er Herkules selbst, und dessen Schnabelschuhe den Hochmut gleichsam klappern lassen.
Der „Vogel der Selbsterkenntnis“
Besonders bizarr – und tiefgründig – ist der Heuchler. Ein scheinbar frommer Geistlicher mit Beffchen und Talar, unter dem jedoch ein zotteliges Tierfell hervorlugt. Auf seinem Kopf pickt ein storchenähnlicher Vogel mit dem Schnabel in seine Nase: der sogenannte „Vogel Selbsterkenntnis“ – barocke Mahnung, sich selbst zu erkennen, bevor man über andere urteilt.
All diese Figuren tragen – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – die Empore der Gelehrsamkeit. Hier, wo rund 20.000 Bücher einst lagerten, von denen heute nur ein Bruchteil verblieben ist – heute vor der großen Restaurierung ausgelagert nach München, schimmert durch alles Prunkhafte eine tiefe Demut: Die Einsicht, dass auch das Wissen nicht frei ist von Eitelkeit, Täuschung und Versuchung.
Barocke Pracht und Bienenkorb
Und dann, zwischen Büchern und Figuren, fast beiläufig: ein Bienenkorb. Symbol des Hl. Ambrosius, der predigte, „dass es den Leuten wie Honig in die Seele ging“. Ein Sinnbild für das klösterliche Leben, das auf dem Zusammenspiel von Königin, Drohnen und Volk beruht – und für das Wissen, das nur im Gemeinsinn gedeiht.
„Ich habe hier Kinder erlebt, die nach einer Führung mit ganz anderen Augen durch den Garten gingen“, erzählt Äbtissin Laetitia.
Sie nehmen einen Samen mit – vielleicht fürs Leben. Äbtissin Laetitia
Stiftsbibliothek Waldsassen: Kunst, Satire, Spiritualität
- Baubeginn: Erste Bibliotheksprojekte ab 1433, endgültiger Ausbau zwischen 1724 und 1746 unter Abt Eugen Schmid
- Deckengemälde: Karl Hofreiter (Bayreuth) zeigt Kirchenväter des Westens und Ostens, flankiert von Bernhard von Clairvaux als mystischem Leitbild
- Stuckarbeit: Jacopo Appiani (Lombardei), meisterhaftes Bandelwerk mit Tier- und Fabelwesen
- Holzfiguren: 10 satirische Skulpturen von Karl Stilp (1668–1736) – Allegorien menschlicher Schwächen in barocker Bildsprache
- Buchbestand: Vor der Säkularisation über 19.000 Werke, heute rund 2.000 erhaltene historische Bände
- Zugang: Die Bibliothek ist nur mit Führung zu besichtigen – Höhepunkt jeder Klostererfahrung in Waldsassen
Das Triple-Jubiläum 2025
- 160 Jahre Frauenbildung: 1865 – Gründung der Mädchenbildung in Waldsassen
- 100 Jahre Abtei: 1925 – Erhebung zur Abtei durch Papst Pius XI.
- 30 Jahre Äbtissin Laetitia Fech: 1995–2025 – Wegbegleiterin durch drei Jahrzehnte Ordensleben, Bildungsarbeit und Visionen
Waldsassen feiert am 5. Oktober – mit Führungen, Gottesdiensten und offenen Gärten.
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