Falsche Grenzen: CSSR lässt Flüchtlinge in die Falle laufen

Nordoberpfalz/Všeruby. Václava Jandečková hat über die Verbrechen des kommunistischen CSSR-Regimes mittlerweile sieben Bücher geschrieben. Eines davon befasst sich mit der Operation Kámen. Diese streng geheime Aktion spielte sich direkt vor unserer Haustüre ab.

Václava Jandečková steht an der Stelle, wo vor mehr als 70 Jahren ein Schlagbaum den Flüchtlingen eine fingierte Grenze vorgaukeln sollte. Foto: Theo Kurtz

Es ist ein strahlender Frühlingstag. Ländliche Idylle pur. Hier in Všeruby, an der bayerisch-tschechischen Grenze scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Rehe äsen und beäugen gelassen die beiden Wanderer, die querfeldein unterwegs sind.

Die Route, die sie einschlagen, ist aber hochgradig geschichtsträchtig. Denn gerade in dem kleinen tschechischen Landstädtchen wurde während des Kalten Kriegs eine unsägliche Geschichte geschrieben. Die Kommunisten, die in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg das Kommando übernahmen, starteten hier die Geheimoperation Kámen. Hunderte von Regimekritikern stolperten vor mehr als 70 Jahren in eine perfide Falle.

Ein Bunker wie aus dem Nichts

Václava Jandečková hat Licht in dieses dunkle Kapitel gebracht. Gemeinsam mit OberpfalzECHO-Redakteur Theo Kurtz legt sie die Strecke zurück, auf der Ende der 40er Jahre die fluchtbereiten Menschen in einer Nacht- und Nebelaktion in ihr Verderben liefen. Es geht über morastige Felder, vorbei an ein einem großen Weiher. Der Dauerregen der vergangenen Tage hat den Untergrund aufgeweicht. Vom Sturm entwurzelte Bäume behindern das Vorwärtskommen. Ein Bunker taucht aus dem Nichts auf. Gut getarnt. Zaunreste des ehemaligen Eisernen Vorhangs ragen aus dem Dickicht. Es besteht Verletzungsgefahr.

Mit der Geschichte ihres Großvaters ging es los

Seit zehn Jahren recherchiert Jandečková über Verbrechen des CSSR-Regimes, versucht die Nachfahren von Zeitzeugen ausfindig zu machen, stöbert in Archiven. Auf Kámen kam sie, als sie Nachforschungen über ihren Großvater Ota Tulačka anstellte. Der war ein Gegner des kommunistischen Regimes, schleuste gemeinsam mit zwei Mistreitern unter dem Decknamen “Cyril” mehr als 100 Tschechoslowaken in den Westen.

Und die Gruppe bereitete auch einen Staatsstreich gegen die Regierung in Prag vor. Doch das Vorhaben flog auf, Tulačka wurde 1949 verhaftet und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später in 25 Jahre Gefängnis umgewandelt. Im Rahmen einer Amnestie für politische Gefangene kam er in den 60er Jahren frei. Er stirbt 1991.

Wichtige Dokumente in Kanada enteckt

Kámen, auf deutsch “Stein”, ist ein dunkles Kapitel, das Historiker bislang links liegen gelassen hatten. Über Umwege und nach einem schier endlosen Telefonmarathon, hatte Jandečková in Kanada eine wichtige Quelle ausfindig gemacht. In Edmonton leben die Nachfahren von Stanislav Liška, dem früheren Polizeichef in Všeruby und einem der falschen Schleuser. Er verriet die Operation an den amerikanischen Geheimdienst und wurde verhaftet.

Es gelang ihm, mit seiner Familie in den Westen zu flüchten und nach Kanada auszuwandern. Dort starb er 1980. Seit den späten 50er Jahren schlummerten seine detaillierten Kámen-Aufzeichnungen in einer Schublade in seiner nordamerikanischen Wahlheimat. Nach dem Anruf von Václava Jandečková wurden sie dort von seiner Enkelin rausgeholt. “Die Dokumente waren noch in Tschechisch verfasst, eine Sprache, die seine dort lebenden Nachfahren gar nicht mehr sprechen”, erinnert sich die Buchautorin.

Freunde waren Stasi-Mitarbeiter

Und so funktionierte Kámen: Regimekritiker wurden von ihren Freunden zur Flucht animiert. Das Problem: Diese “Freunde” standen schon auf der Gehaltsliste der Staatssicherheit. Gutgläubig stolperten sie in die Falle. Sie wurden in der Nacht zunächst zu Fuß von falschen Schleusern zu einer fingierten Staatsgrenze und im Anschluss zu einem noch falscheren Zollamt gebracht. “Die Leute glaubten, sie wären schon in Westen”, erzählt Václava Jandečková. Wie etwa in der Nähe von Všeruby wurde ein leerstehende Haus, aus denen die deutschen Bewohner vertrieben worden waren, in eine Falle umfunktioniert.

Tschechische Stasi-Mitarbeiter in US-Uniformen

“Tschechische Beamte in amerikanischer oder deutscher Uniform befragten in dem vermeintlichen Zollamt die Flüchtlinge und erstellten Protokolle”, sagt die Privatforscherin. Im Glauben schon in Sicherheit zu sein, redeten die sich um Kopf und Kragen. Sie verrieten dabei auch wichtige Details über noch in der CSSR verbliebene Regimekritiker und Widerstandsnetzwerke und -organisationen.

Nach ihren Aussagen wurden die Flüchtlinge wieder in die CSSR “zurückgeschoben” und dort postwendend wegen verbotener Republikflucht verhaftet. “Man konnte den Menschen ja bislang strafrechtlich nichts nachweisen. Jetzt hatte man etwas gegen sie in der Hand”, erzählt die 48-Jährige.

Das Haus ist längst von der Bildfläche verschwunden. Ein Schuttberg ist übrig geblieben, den die Natur erobert hat. Auf dem Gelände rumzuspazieren ist gefährlich. Es gibt einige ungesicherte Brunnenschächte. “Man überlegte, das Gebäude wieder aufzubauen und als Geschichtsdenkmal der Nachwelt zu erhalten”, erzählt Václava Jandečková. Es wurde aber nie was daraus.

Fingierte Grenzen ausgeweitet

Weil dieses falsche Spiel so perfekt funktionierte, errichtete Prag auch in anderen bayerisch-tschechischen Grenzabschnitten, zum Beispiel in der Nähe von Mähring, Bärnau oder Waldsassen falsche Zollämter. Bis 1951 gingen dem kommunistischen Regime mehrere hundert potenzielle Exilanten ins Netz. Václava Jandečková hat selbst 42 Namen ausfindig gemacht. Die Geschnappten wanderten für viele Jahre ins Gefängnis. Erst mit der letzten Amnestie für politische Gefangene im Jahr 1964 kamen sie wieder auf freien Fuß.

Mittlerweile sieben Bücher hat Václava Jandečková über die kommunistischen Verbrechen geschrieben. Der Band über die Geheimoperation Kámen wurde in Tschechien zum Bestseller. Mittlerweile gibt es eine deutsche Ausgabe. Sie hat auch bei der Umsetzung des aktuellen Ovigo-Stücks “Fingierte Grenzen” mitgewirkt. Und erst vor Kurzem ist sie vom Centrum Bavaria Bohemia (CeBB) in Schönsee mit dem diesjährigen Brückenpreis ausgezeichnet worden.

Kámen ist noch nicht zu Ende erzählt

Doch die Geheimoperation Kámen ist für Václava Jandečková noch längst nicht ausrecherchiert. Bislang hat sie die fingierten Grenzen des CSSR-Regimes nur von Všeruby Richtung Norden verfolgt. Sie will jetzt auch den südlichen Abschnitt der bayerisch-tschechischen Grenze bis runter ins Dreiländereck genauer unter die Lupe nehmen. Und sie hat einen bösen Verdacht: “Ich denke, dass es auch dort falsche Zollämter gegeben hat.”

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