Flosser SPD-Bürgermeister-Jubiläum: Rhetorik-Contest zwischen Jungstar Kühnert und Altmeister Lehner
Floss. Das gab es nicht mal in Schweden: SPD-Bürgermeister in Floß regieren seit 50 Jahren am Stück. Keine Selbstverständlichkeit findet auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und kommt deshalb gerne als Gastredner. Genauso spannend wie der Auftritt des Berliner Promis: Kommt Altbürgermeister Fred Lehner (90)?
Kommt er oder kommt er nicht? Das war hier die Frage! Dass Kevin Kühnert kommen würde, stand außer selbigen. Offen ließ diese bis zum letzten Moment das SPD-Urgestein Fred Lehner. „Ich weiß es nicht“, zuckte der noch junge SPD-Bürgermeister Robert Lindner immer wieder mal mit den Schultern. „Ich habe ihn bekniet, er gehört doch hier her.“
Sowohl er als auch dessen Vorgänger Günter Stich haben dem großen Heimatkundler wiederholt die Ehrenbürgerschaft angedient: „Brauche ich nicht mehr in meinem Alter“, habe dieser abgewunken. Fred Lehner hat seinen eigenen Kopf. Da kann man nichts machen. 30 der 50 SPD-Regentenjahre gehen allein auf seine Kappe. Das allein macht den Retter der jüdischen Geschichte des Marktes zum de-facto-Ehrenbürger.
Wer hat Kühnert aufgehalten?
Während sich der Saal füllt, interviewt der Autor den Stargast aus Berlin im Büro des Bürgermeisters. Die Ungeduld der Gäste steigt, das Klopfen an der Tür wird nachdrücklicher. Das OberpfalzEcho muss sich entschuldigen. „Ich bin schuld“, entschuldige ich mich verschämt beim Betreten des proppenvollen Rathaussaals. „Ich habe Kevin aufgehalten.“ Freundliches Buhen des Publikums. Und dann sehe ich ihn: Vorne am Eck lässig im Stuhl zurückgelehnt, ein Mann wie ein Denkmal: Fred Lehner komplettiert die SPD-Jubelfeier.
Die Show kann beginnen: OV Vorsitzender Alexander Meier lässt 50 lange Jahre sozialdemokratisches Wirken in Floß Revue passieren. „50 Jahre SPD-Bürgermeister im Markt Floß, 50 Jahre für eine Heimat, in der man heute noch gut leben kann.“ Er erinnert an die Granden dieses halben Jahrhunderts und dessen Vorgänger nach den schrecklichen Wirren des Krieges. Den Anfang machte Alfreds Vater Josef Lehner 1948: „Er bekam das Vertrauen in schwerer Zeit.“ Er starb 1959 – zu früh, um die gesamte Nachkriegsära rot einzufärben. „1972 folgte sein Sohn Alfred.“ Ende der Geschichte SPD-fremder Marktoberhäupter.
Nachfahre des Freiherrn kommt
Noch weiter zurück in die Geschichte lässt der aktuelle Rathauschef die Ehrengäste blicken. Von der ersten Erwähnung des Ortes 948 in den Annalen des Klosters St. Emmeram in Regensburg: „Der bayerische Herzog besiegt die Ungarn bei Floß.“ Bis zur bevorstehenden 1075-Jahrfeier 2023. „Ein Nachfahre des Landrichters Karl Franz Reisner, Freiherr von Lichtenstern, der nach dem großen Brand vom 1813 den Ort neu aufbauen ließ, hat sein Kommen schon zugesagt“, freut sich Lindner, der sich bei seiner Geschichtserzählung an den historisierenden Darstellungen am Wandfries des Saals entlanghangelt.
Genug Geschichte, Zeit für die Gegenwart: Kevin Kühnert tritt ans Rednerpult. Und er hat keine Standardrede mitgebracht. „Ich bin schon viel rumgekommen auch bei Rathausjubiläen“, erzählt der 32-Jährige, „aber 50 Jahre am Stück sind keine Selbstverständlichkeit.“ Eine große Ehre sei es, in diesem Raum sprechen zu dürfen, sagt er so treuherzig, dass man es ihm glauben möchte. „Als Berliner muss ich neidlos anerkennen, dass eure Marktgeschichte schon 948 beginnt, bei uns erst 1237 – ihr seid uns da ein bisschen voraus gewesen.“– „Ein Bisschen?“ regt sich erster süffisanter Widerspruch bei Hobbyhistoriker Lehner.
Das ganz besondere Jahr 1972
So ein Jubiläum sei Anlass, zurückzublicken ins Jahr 1972, den Beginn der Flosser Sozi-Ära: „Das Datum hat für uns Sozialdemokraten eine besondere Bedeutung“, betont der Gastredner. Die schiere Anzahl an Ehrenurkunden, die heuer verteilen werden, zeige, wie viele vor 50 Jahren in die SPD eintraten. „Es war das Jahr der Wiederwahl Willy Brandts, der legendäre ,Willy wählen‘-Wahlkampf – das Jahr hat es mit der Sozialdemokratie ganz gut gemeint – auch hier vor Ort.“
Heute, im Mai 2022, sei der Angriffskrieg Putins das alles überragende Thema – in Deutschland verbunden mit Fragen der Energieversorgung und der Aufnahme von Kriegsgeflüchteten. Das 50-jährige Jubiläum sei auch ein Moment der Bilanz: „Was wir geschafft haben und was nicht.“ Willy Brandts Versprechen, eine Politik des Ausgleichs, der Entspannung zu befördern, sei auf große Unterstützung getroffen. Fünf Jahrzehnte später sehe man sich mit dem Vorwurf konfrontiert: „War das alles naiv?“ Habe sich die gesamte Ost-Entspannungspolitik als falsch erwiesen? „Da wird das Kind von einigen mit dem Bade ausgeschüttet.“
Kleine Kommunalpolitik ganz groß
Das Jubiläum sei auch ein guter Zeitpunkt, um zu reflektieren, wie die Kommunalpolitik auf das reagiere, was im Großen passiert: „Man kann nicht mit einem Beschluss im Marktgemeinderat den Krieg beenden“, sagt Kühnert, „aber man kann Heimat, Zuflucht, Verlässlichkeit bieten.“ Er selbst habe in Berlin Kommunalpolitik praktiziert. Freilich sei das in einer Metropole etwas anderes als in der Marktgemeinde Floß.
„Als Bezirksverordneter von Schöneberg ist man für 350.000 Menschen verantwortlich.“ In einer kleinen Einheit wie Floß beanspruche der Gang zum Marktplatz manchmal die zehnfache Zeit: „Wenn alle drei Meter jemand nur mal kurz mit einem Anliegen auf den Bürgermeister zukommt“, beschreibt er die Graswurzelpolitik vor Ort, „das ist manchmal Fluch, manchmal Segen.“ Der Zauber guter Kommunalpolitik: „Über den Gartenzaun hinweg den Austausch suchen.“
Kühnerts Rückkehr beim 60-Jährigen
Wenn Sozialdemokraten 50 Jahre im Rathaussessel säßen, sei das kein reiner Zufall: „Sozialdemokratische Akzente kann es auch kommunal geben.“ Mit großem Wohlwollen habe er sich die aktuelle Presselage angeguckt: „Ihr investiert in die Zukunft“, lobt Kühnert, „da habe ich mich wiederfinden können.“ Im Gegensatz dazu habe man in der großen Politik das Investieren „in unser Gemeinwesen“ schleifen lassen. Kaputte Straßen, ein marodes Schulwesen, auch das führe zu Schrumpfungsprozessen im ländlichen Raum.
„Die Kommunalpolitik braucht Luft zum Atmen“, fordert der Generalsekretär, „es ist die wichtigste politische Einheit.“ Vieles, was in Berlin in großen Reden beschrieben würde, müssten vor Ort andere mit viel ehrenamtlicher Arbeit umsetzen. „Deshalb bedanke ich mich bei den drei Bürgermeistern, den vielen Genossen dahinter, bei allen anderen, auch der Opposition.“ Es sei keine Selbstverständlichkeit, sich zu engagieren. „Es ist ja nicht so, dass man sich als Marktrat vor lauter Schulterklopfen nicht retten kann.“
Lehner: „Am Anfang einer großen Karriere“
Deshalb: „Achten Sie auf Ihre Kommunalpolitiker, vergeben Sie zwischen Wünschen und Kritik auch mal ein Lob.“ Das sei Antrieb, auch weiter nicht nur Dienst nach Vorschrift zu leisten. „Ich würde mich hinreißen lassen“, wünscht der Berliner dem Flosser Bürgermeister am Ende seiner Rede, „dass du auch zum 60-Jährigen noch im Amt bist – und zum 75-Jährigen als Altbürgermeister eingeladen wirst.“ Heiterkeit, Applaus, und die prompte Reaktion von Robert Lindner: „Sollte es so sein, musst du wiederkommen.“ So sei es, sagt Kühnert gerne zu. „Das Wort ist presseöffentlich gegeben.“
Jetzt hält es auch Fred Lehner nicht mehr auf seinem Platz: „Ich gebe gerne zu“, adressiert er an den kritischen Geist aus Berlin, „du hast mir früher schlaflose Nächte gekostet – aber du bist geworden, was ich mir gewünscht habe, unser Generalsekretär.“ Jetzt brauche Kühnert viel Durchhaltevermögen, viel Kraft. Und der weise alte Mann prognostiziert: „Du erreichst am 1. Juli gerade mal dein 33. Lebensjahr – und stehst erst am Anfang deiner großen Karriere.“
Warum der Fred doch noch kam
Lehners volle Sympathie genieße Kühnert in dieser Stunde aber auch, „weil du einer der wenigen bist von den auswärtigen Gästen, die unser weltberühmtes Floß richtig auszusprechen: Wir sind Flosser …“ Entgegen der neuen Rechtschreibung mit kurzem Vokal wie die Maß Bier. Hört sich nur richtig an, wenn es falsch ausgesprochen wird. Und ein wenig Selbstlob darf auch sein: In der langen Heimatgeschichte sei lediglich Bezirksamtmann Freiherr von Lichtenstein, der Wiedererbauer des neuen Floß, länger als 30 Jahre im Amt gewesen: „Nur er hat mir den Rang abgelaufen, das ist doch wunderbar.“
Wenn man sich was wünschen dürfte: Mit 90 Lenzen noch so lässig zum Rednerpult spazieren und frei von der Leber ein rhetorisches Feuerwerk abbrennen zu können. Das darf dann auch mal etwas länger sein. Das sei Fred Lehner vergönnt. Und warum ist er jetzt eigentlich doch noch gekommen. „Nur wegen meiner Kinder und Enkel“, verrät er dem OberpfalzEcho, dem der Stadtschreiber künftig auch alle seine Texte zukommen lassen möchte. „Ich will nicht, dass die mal sagen, dass ich so eine Gelegenheit ausgelassen hätte.“
2023: 1075 Jahre Flosser Geschichte
948: Neben dieser Jahreszahl ist in den Annalen des Klosters St. Emmeram in Regensburg eingetragen: „Occisio paganorum ad flozzun“. Übersetzt: Der bayerische Herzog besiegt die Ungarn bei Floß.
1124/1125: Graf Berengar I. von Sulzbach schenkte dem von ihm gegründeten Chorherrenstift Berchtesgaden zwei ertragreiche Güter in der Nähe seiner Burg Flozzun.
1280: Im niederbayerischen Salbuch wird Floß erstmals mit der Bezeichnung „Markt“ urkundlich erwähnt.
1329: Der Markt Floß und die Burg Floß fielen an die pfälzische Linie des Hauses Wittelsbach. Die Pfälzer konnten ihre Herrschaft über das Gebiet jedoch nicht ausüben, da Kaiser Ludwig die Verpfändung an Böhmen erneuerte.
1341/1347: Der böhmische König Johann gab die Reichspfandschaft Floß an Herzog Rudolf von Sachsen und 1347 an die Burggrafen von Nürnberg weiter.
1358: Floß wurde böhmisches Eigentum, doch schon 1373 kam der Ort an die bayerischen Herzöge zurück.
1428: Tschechische Hussiten fielen in Floß ein und verwüsteten ihn fast gänzlich.
1505: Floß litt schwer in dem Erbfolgekrieg der bayerischen und pfälzischen Wittelsbacher.
1519: Neuburger Herzöge regierten das Land. Handel und Gewerbe wurden gefördert und große Stücke der Fürstenwälder zur Rodung freigegeben. Das geordnete Land ging später in den Besitz der Bebauer über. Durch Teilung der jungen Pfalz gelangte Floß an das neugebildete Herzogtum Pfalz/Sulzbach, dessen Fürsten bis 1652/56 der Landeshoheit der Neuburger Herzöge unterstanden.
1684: Die ersten Juden kamen von Neustadt/Waldnaab nach Floß.
1777: Kurfürst Karl Theodor, der letzte Fürst des Hauses Sulzbach, erbte Bayern. Der Marktflecken Floß kam zur Kurpfalz-Bayern.
1813: Großbrand in Floß. Über dreiviertel der Wohngebäude des Marktes mit Nebengeäuden wurden ein Raub der Flammen. Durch den Wiederaufbau, der das Verdienst des damaligen Landrichters Karl Franz Reisner, Freiherr von Lichtenstern, war, bekam Floß von der äußeren Gestaltung her ein städtisches Gepräge. Handel und Verkehr lebten wieder auf und auch das Gewerbe kam zu einer neuen Blüte.
1885: Bau der Bahnlinie Weiden-Eslarn. Floß erhält einen eigenen Bahnhof und war wirtschaftlicher Mittelpunkt des Flosser Amtes.
1903: Das erste Elektrizitätswerk entsteht.
1916: Floß erhält seine erste elektrische Straßenbeleuchtung
1918: In wirtschaftlicher und kommunaler Hinsicht hat sich im Markt Floß während der Kriegsjahre und der Zwischenkriegszeit nicht viel getan.
November 1938: Am Tag der Reichspogromnacht wurde die Synagoge schwer beschädigt. Die Nazis verfolgen auch die Flosser Juden, kein einziger wird nach dem Weltkrieg mehr in Floß leben.
1954: Bau der zentralen Wasserversorgungsanlage.
1955: Bau des Zentralschulhauses mit späterem Erweiterungsbau und Turnhalle.
1961: Bau einer Gesamtkanalisation mit Sammelkläranlage. Förderung der Wohnsiedlungstätigkeit und Schaffung von Neubaugebieten. Industrialisierung durch die Firma Georg Riebl oHG Kleiderfabrik und der Firma Kabelmetal.
1972: Eingliederung der Flosser Landgemeinden.
1975: Neubau des Flosser Rathauses.
1982/1983: Ansiedlung der Firma Aesculap Meditec. Errichtung der Flosser Mehrzweckhalle.
1996-2008: Kommunale Wohnbaulanderschließung Baugebiet „Am Zehenthof“.
1999: Nach einer substanzsichernden Sanierung in den siebziger Jahren entschloss sich der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden 1999 zu einer grundlegenden, denkmalgerechten Sanierung des Gebäudes in zwei Sanierungsabschnitten.
2003: Eröffnung des Bocklradwanderweges.
2004/2005: Zweite Sanierung der Flosser Synagoge. Gründung des Komunalbetriebs Floß (KBF) mit Zuständigkeit für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung.
2006: Errichtung eines Seniorenwohn- und -pflegeheimes.
2008: Inbetriebnahme der gemeinsamen Kläranlage Floß-Flossenbürg.
2010: Solarpark Floß geht ans Stromnetz.
2012/2013: Einrichtung von Kinderkrippen im katholischen und evangelischen Kindergarten.´Neubau der Turnhalle und Aula in der Grund- und Mittelschule.
2015: Einstieg in die Städtebauförderung (ISEK).
2019/2020: Ausweisung des Baugebiets „Am Sonnenhang“, Neubau eines Feuerwehrgerätehauses.
2022: 50 Jahre SPD-Bürgermeister im Rathaus – Ehrengast: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert.
2023: 1075-Jahrfeier. „Ein Nachfahre des Landrichters Karl Franz Reisner, Freiherr von Lichtenstern, der nach dem großen Brand vom 1813 den Ort neu aufbauen ließ, hat sein Kommen schon zugesagt“, freut sich Bürgermeister Robert Lindner.
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