Interview: Christine Ascherl über ihr Buch “Jüdische Familien – Schicksale hinter den Stolpersteinen”
Weiden. Die Journalistin und Autorin Christine Ascherl gibt Einblicke in ihre Arbeit am Buch "Jüdische Familien - Schicksale hinter den Stolpersteinen in Weiden in der Oberpfalz".
Montagmorgen, ich bin zu Fuß auf dem Weg in die Redaktion. Schnellen Schritts überholt mich meine Kollegin, Redakteurin Christine Ascherl: “Bin eigentlich schon auf dem Weg ins Gericht, nimm das doch gleich mit”, sagt sie und holt aus ihrer Tasche ein Exemplar ihres neuen Buches, druckfrisch und noch cellophanverpackt für uns in der Redakton. Der Titel: “Jüdische Familien – Schicksale hinter den Stolpersteinen in Weiden in der Oberpfalz”, ist erschienen im Battenberg Gietl… – ach nein, der hat sich umbenannt – im Battenberg Bayerland Verlag, 126 Seiten.
Ich nehme es mit. Lese die Portraits, sehe mir die zahlreichen Fotografien und Dokumente an, bekomme ein Gefühl für diese Menschen und bitte die Autorin um ein Interview. Christine will mit ihrem Buch die Erinnerung wach halten an eine Zeit, in der in Weiden Hakenkreuzfahnen wehten. Das ist ihr gelungen, so viel sei vorangeschickt.
OberpfalzEcho: Wie kam es zu dem Buch?
Christine Ascherl: Bei der Stolpersteinverlegung 2022 war mir klar, dass es nicht reicht, Artikel zu schreiben, die unsortiert im Netz herumschwirren oder auf Zeitungspapier gedruckt im Altpapier landen. Ich dachte, es braucht ein Buch, das man zur Hand nehmen kann. Nachlesen, welche Lebensgeschichten hinter den Stolpersteinen stecken.
Zehn Stolpersteine fehlen noch – warum erscheint das Buch dennoch schon jetzt?
Ascherl: Allein das hohe Alter von Daniel Heimann gebietet eine gewisse Eile. Daniel ist der letzte Überlebende direkt aus dieser Zeit. Er wird heuer 99 Jahre alt. Seine Frage: ‘Wann kommt das Buch?’ wollte ich möglichst schnell beantworten können. Jetzt ist es auf dem Postweg zu ihm nach Tel Aviv unterwegs. 11,99 Euro kostet der Versand nach Israel – angesichts des Konflikts ohne Gewähr, wie lang es dauert und ob es ankommt.
Wie mir geht es vielleicht vielen Lesenden: Durch deine Texte, durch die Dokumente und Fotos werden die Lebensgeschichten so lebendig – in ihrer ganzen Vielfalt, und doch ist der Schlusspunkt immer Schrecken und Tod. Wenn’s mir schon beim Lesen so geht, wie war das auszuhalten beim Schreiben?
Ascherl: Ach herrje, das will ich eigentlich gar nicht erreichen. Auch Layouterin Regina Schindler, der ich für ihre herausragende Arbeit sehr danke, hat mal gesagt, dass sie beim Setzen geweint hat. Ich hoffe doch, dass das Buch nicht nur als traurig wahrgenommen wird: Zivilcourage gab es auch, ebenso eine große Stärke der Überlebenden. Ich möchte, dass das Buch auch Mut macht.
Was war dir beim Schreiben des Buches wichtig?
Ascherl: Dass es einfach zu lesen ist, damit man es im Alltag immer mal wieder zur Hand nimmt. Mein Anspruch ist nicht, wissenschaftlich Stammbäume nachzuzeichen, sondern Erinnerung wachzurufen. Wer mehr wissen will, dem sei die Doktorarbeit von Dr. Sebastian Schott, „Weiden – a mechtige kehille”, ans Herz gelegt. Fast 700 Seiten. Sie ist die Grundlage meines Buches.
Sebastian hat schon Anfang der 1990er umfassend recherchiert und mir damit den Einstieg ermöglicht, auch in die Quellen. Sein Feedback zu meiner Arbeit war mir immer wichtig und es freut mich, dass er mich bei der Buchpremiere unterstützt.
Hilfreich bei der Suche nach Nachfahren war die Arbeit des Weideners Michael Brenner aus den 1980er Jahren. Sein Vater Hermann Brenner war über 40 Jahre Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Weiden. Michael Brenner ist aktuell als Professor für jüdische Geschichte in Washington tätig.
Sebastian Schott hat schon Anfang der 1990er umfassend recherchiert und mir damit den Einstieg ermöglicht, auch in die Quellen. Sein Feedback zu meiner Arbeit war mir immer wichtig und es freut mich, dass er mich bei der Buchpremiere unterstützt. Christine Ascherl
Hat er das Buch schon gelesen?
Ascherl: Ja, und er hat ein total nettes Mail geschrieben. Dass er sich lebhaft an die 1980er erinnern kann, als er angezettelt hatte, dass Überlebende zu einem offiziellen Besuch nach Weiden kamen. Heraus gestellt hat sich, dass er und ich viele Familien aus unterschiedlichen Perspektiven kennen, zum Beispiel kennt er die Tochter der Familie Boscowitz – und ich den Enkel.
Hat dein Buch auch Neues zu Tage gefördert?
Ascherl: Ja! Bisher nicht bekannt war beispielsweise das Schicksal der Familien Hutzler und Kahn aus der Oberen Bachgasse. Die beiden Metzgermeister waren 1939 nach England ausgereist. Ihre Familien wollten sie nachholen, was nie geschehen ist.
Heute weiß man: Die Männer haben sich nicht einfach verdünnisiert. Sie wurden in Großbritannien als Enemy Aliens – vermeintliche Spione Hitlers – verhaftet und nach Australien deportiert. Als Churchill seinen Irrtum 1942 erkannte, war es zu spät. Die Frauen und Töchter waren tot. Ermordet in Vernichtungslagern im Osten.
Eine große Stärke des Buches ist, dass du Portraits so unterschiedlicher Menschen aus verschiedenen Generationen dokumentierst…
Ascherl: Das stimmt, das jüngste Holocaustopfer war die erst 13-jährige Hannelore Kahn, das älteste Oma Kohner aus der Kettelerstraße mit 83. Und doch ist nicht das ganze Altersspektrum vertreten. Junge Erwachsene trafen den Entschluss zur Auswanderung offenbar schneller. Geblieben sind Familien mit jüngeren Kindern und Senioren, mit fatalen Folgen.
Manche konnten noch ihre Kinder mit der Kinder-Aliyah, einer jüdischen Hilfsorganisation, außer Landes schaffen. So überlebte beispielsweise Daniel Heiman, Enkel des Weidener Glasfabrikdirektors Isidor Adler. Er stieg mit 13 allein auf den Dampfer nach Palästina. Er wuchs als Waise auf.
Du hast ihn besucht, oder?
Ascherl: Ja, das war eine verrückte Geschichte. Eine Freundin in Israel hat ihn für mich gefunden. Daniel Heiman hat in Tel Aviv gewisse Prominenz. Er war mit 94 Jahren als ältester Student Israels in den Zeitungen. Inzwischen ist er 98 und immer noch topfit. Es stellte sich heraus, dass in Weiden seit 82 Jahren ein Paket für ihn und seine Schwester aufbewahrt wird. Eine Schachtel mit Fotos und Dokumenten, adressiert an ihn und seine Schwester, allerdings unter deren alten Namen: Theodor und Käthe. Beide haben nach ihrer Flucht hebräische Vornamen angenommen: Daniel und Ruth.
Kurzum: Als klar war, dass da ein Paket für ihn liegt, wollte Daniel das haben. Post ist zuzeit zu riskant. Also sind wir runtergeflogen, meine Tochter und ich. 48 Stunden Israel. Zwei sehr spannende Tage.
Ich erinnere mich, dass mein Großvater mir schon als Teenager erzählt hatte ‘am Süßenloher Weiher ham’s a Jüdin versteckt’, aber da dachte ich noch, ‘ja ja, Opa, sicher’. Christine Ascherl
Du bist eine exzellent vernetzte Journalistin und stammst aus der Oberpfalz, bist persönlich und professionell ein Weidener Urgestein, mit viel Wissensdurst und Wissen. Hattest du schon vor den Stolpersteinen von den Lebensgeschichten der jüdischen Familien erfahren?
Ascherl: Kleiner Einschub: Danke für die Komplimente. Ich sag’s dir ganz ehrlich, es ist nicht leicht, mit Anerkennung umzugehen, auch wenn sie mich freut. Ich tue mich auch schwer mit Kamera oder dem Mikro, wie gestern beim Frühschoppen auf Ramasuri, gleich bei OTV, weil ich das Rampenlicht nicht mag. Aber es ist einfach für die Sache wichtig.
Jetzt zu deiner Frage: Natürlich, und manches, was im Buch vorkommt, habe ich schon länger in meinem Block. Ein Beispiel, Rosa Hoffmann: Sie war aus Weiden, ist in Berlin abgetaucht und war zuletzt in Altenstadt bei den “Haidmühlnern” versteckt, wie der Hausname der Familie Lindner heißt. Sie haben sie im ersten Stock in einem kleinen Hinterzimmer verborgen. Ich erinnere mich, dass mein Großvater mir schon als Teenager erzählt hatte ‘am Süßenloher Weiher ham’s a Jüdin versteckt’, aber da dachte ich noch, ‘ja ja, Opa, sicher’.
Inzwischen weiß man aus Briefen von Rosa, dass das wirklich so war. 2015 war ich selbst dort. Walter Lindner, Sohn der Familie, hat mir erzählt, dass er sich als Kind gewundert hat, dass man die Teller aus der Stube unten nach oben trägt. ‘Als die Amerikaner da waren, kam dann eine kleine Frau die Treppe herunter’, und das stimmt, Rosa Hoffmann war eine kleine Frau.
Dein Buch ist voll mit Namen, Fakten, Bildern, Dokumenten – sie zusammenzustellen hat zwei Jahre gedauert, die du neben dem Alltagsgeschäft nach Feierabend und im Urlaub gestemmt hast. Wie hast du den Überblick behalten? Welche Quellen genutzt, dass es so lebendig und detailreich wird?
Ascherl: Mein erster Weg führte bei jeder Familie zu Sebastian Schott, Historiker im Weidener Stadtarchiv. Und so makaber es ist: Der Dokumentationswahnsinn der Nationalsozialisten lässt die Leidenswege gut nachvollziehen. Für alles wurden Listen geführt: Deportationslisten für die Züge, Namenslisten in den Konzentrationslagern, Sterbelisten.
Sehr gut möglich ist inzwischen auch die Online-Recherche in Archiven weltweit, bei Yad Vashem, aber auch in den USA und Australien. Hier wird viel mit “oral history” gearbeitet: aufgezeichnete Gespräche mit Zeitzeugen, erhalten für die Ewigkeit.
Aber man muss gar nicht so weit reisen: Im Stadtarchiv in Weiden wird zur Zeit ein Werbefilm aus den 1920ern gezeigt. Da sieht man Karl Steiner, wie er Stoffballen ausrollt… Für mich sind diese Menschen sehr lebendig geworden. Klingt jetzt vielleicht ein wenig verrückt: Aber vor meinem inneren Auge sehe ich sie in der Stadt.
Wen denn zum Beispiel?
Ascherl: Julie Fuld, die Frau des Kaufmann Hermann Fuld, finde ich bemerkenswert. Woher hat diese Frau ihre Kraft gezogen? Das Kaufhaus wurde 1938 boykottiert, musste schließen, wurde verkauft an die Gewerbebank Weiden. Ihr Mann wurde deportiert nach Dachau und dort von einem SS-Blockführer ermordet. Mit einem Schuss zwischen die Augen.
Sie ist runter nach München gefahren, hat die Bestattung organisiert und ist dann mit ihren Kindern geflohen. Ludwig und Hans waren damals 11 und 9 Jahre alt. Sie nahmen ab Hamburg die St. Louis, ackerten wochenlang über den Ozean, ankerten vergeblich vor Kuba, mussten zurück nach Antwerpen…
… weil weder Kuba noch die USA sie aufnehmen wollten…
Ascherl: … weil damals die internationale Bereitschaft insgesamt sehr gering war, Geflohene noch aufzunehmen. Sie überlebte in London den Blitzkrieg und reiste später in die USA aus, erzog dort ihre Söhne, die sich Harry und Lou umbenannten. Harry Fuld wollte 1989 nicht zu dem Empfang der Stadt Weiden anreisen. Die Erinnerung an die Ermordung des Vaters nach der Reichspogromnacht wog zu schwer.
Die Urteile zur Reichspogromsnacht sind eine Schande – warte, muss ich selber nachschlagen… hier, Seite 93: 46 Männer wurden angeklagt, 20 bekamen Freisprüche, der Rest Bewährung. Im Amberger Staatsarchiv sind die Prozessakten nachzulesen: Immer heißt es, die SA-Männer waren nur vor dem Haus und man fragt sich, wie danach alles hat kurz und klein geschlagen hat sein können. Christine Ascherl
Die Erinnerung war zu schlimm?
Ascherl: Auch die juristische Aufarbeitung war enttäuschend. Die Urteile zur Reichspogromsnacht sind eine Schande – warte, muss ich selber nachschlagen… hier, Seite 93: 46 Männer wurden angeklagt, 20 bekamen Freisprüche, der Rest Bewährung. Im Amberger Staatsarchiv sind die Prozessakten nachzulesen: Immer heißt es, die SA-Männer waren nur vor dem Haus und man fragt sich, wie danach alles hat kurz und klein geschlagen hat sein können.
Die Täter sind mit hellblauen Augen davon gekommen. Hans Harbauer, überzeugter Antisemit und Bürgermeister von 1933 bis 1945, hat sich mit gesundheitlichen Problemen vor seiner fünfjährigen Haftstfafe herumgedrückt.
Welche Rückmeldungen hast du bisher bekommen?
Ascherl: Schöne, sehr liebenswürdige. Vor der Lesung habe ich Riesenbammel, in einer Woche ist es ja so weit. Ich bin gespannt, wieviele wirklich kommen. Ich hoffe viele.
Wirst du weitere Lesungen anbieten?
Ascherl: Ja, beispielsweise am 30. April im Erzählcafe des Maria-Seltmann-Hauses, danach in Pressath und Tirschenreuth. Ich bin auch an eine Schule eingeladen, freut mich.
Buchpremiere “Jüdische Familien”
Das Buch “Jüdische Familien – Schicksale hinter den Stolpersteinen in Weiden in der Oberpfalz” wird am Mittwoch, 9. April, 19 Uhr (Einlasss 18.30 Uhr) im Rahmen der Literaturtage im Kulturzentrum Hans Bauer (Altes Schulhaus neben St. Michael) von Christine Ascherl und Sebastian Schott vorgestellt. Eintritt frei.
Am Mittwoch, 30. April, ist das Buch Thema im Erzählcafé des Maria-Seltmann-Hauses in Weiden, Beginn 15 Uhr. Es werden auch Fotos gezeigt.
Weitere Lesungen sind in Pressath, 8. Mai, 18.30 Uhr, in der Buchhandlung Eckhard Bodner sowie in Tirschenreuth, 15. Mai, 18.30 Uhr, Buchhandlung St. Peter.
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